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[Seite der Druckausg.:127]


Bo Stråth
Sozialistische Strömungen in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Das Beispiel Skandinavien


Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, was skandinavische Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung betrifft, die lange zweite Hälfte, die in den 30er Jahren anfing. Die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre war in wichtigen Hinsichten viel mehr Bruch als der Zweite Weltkrieg, vor allem natürlich im neutralen Schweden.

Die Weltwirtschaftskrise hatte einen gemeinsamen Nenner. Der Staat wurde überall mobilisiert, um soziale Verantwortung zu übernehmen: im Namen des Nationalsozialismus, des korporativen Faschismus, der front populaire, des New Deals u.s.w. Die skandinavische Antwort waren rot-grüne Koalitionen zwischen Sozialdemokraten und reformorientierten Bauernparteien, die mit parlamentarischer Macht operieren konnten. In diesem Zusammenhang definierten sich die sozialdemokratischen Parteien Skandinaviens um, von Klassen- auf Volksparteien. Die 30er Jahre waren, wenn man so will, eine Stunde Bad Godesberg in Skandinavien.

Die 30er Jahre bedeuteten als parlamentarischer Machtfaktor einen Durchbruch für die Sozialdemokratie Skandinaviens. Sie waren aus skandinavischer Sichtweise aber nicht nur eine Weltwirtschaftskrise, sondern auch eine bedrohliche außenpolitische Entwicklung im Süden und im Osten. Die skandinavischen Sozialdemokraten, vor allem Schwedens, hatten in den 20er Jahren sehr große Hoffnungen und Erwartungen in den Völkerbund investiert. Sie waren wahre Internationalisten. Der Zug von Skandinavien nach Genf bedeutete eine Brücke nach Europa. Die Sozialdemokraten Skandinaviens wollten im Rahmen des Völkerbundes die Entwicklung Europas beeinflussen und mitgestalten.

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Die politische Entwicklung in Deutschland und in der Sowjetunion in den 30er Jahren und die allmähliche Auflösung des Völkerbundes führten schnell zu einem Ende dieser Europaorientierung und Internationalisierung. Die Sozialdemokraten Skandinaviens zogen sich von der europäischen („kontinentalen„) Entwicklung zurück. Sehr bewusst fingen sie an, eine Abgrenzung zu Europa zu konstruieren, um ihre parlamentarische Machtposition zu konsolidieren.

Statt „wir Skandinavier„ als ein Teil von Europa wurde Europa „es, das andere„. In dieser neuen mentalen Projektion entstand ein progressives, d.h. sozialdemokratisches und protestantisches Skandinavien, in Abgrenzung zu einem als konservativ, kapitalistisch und katholisch gedachten Europa. Ein Bild in schwarz und weiß wurde verbreitet. Dieses Bild hatte eine Überzeugungs- und Durchsetzungskraft, die schwer zu überschätzen ist. Sie war 70 Jahre später immer noch wirkungsvoll. Den Ausgang des dänischen EMU-Referendums im September 2000 und die Tatsache, dass Schweden immer noch – ungeachtet seiner Vertragsverpflichtungen – außerhalb der EMU bleibt, und dass das norwegische Volk zweimal einen EU-Beitritt abgelehnt hat, kann man in diesem Zusammenhang des historischen Identitätsbaus sehen. Das Europabild, das in den 30er Jahren entstand, wurde im Zweiten Weltkrieg nur bestätigt und verstärkt.

Nach dem Krieg wurde das Bild zu einer Art Gründermythos. Alles hatte in den 30er Jahren angefangen. Die Sozialdemokraten hatten in den 30er Jahren Skandinavien aus der Weltwirtschaftskrise gerettet und den modernen Wohlfahrtsstaat gegründet. Das Modell Skandinaviens war ein alternatives Gesellschaftsmodell zu Europa. Der Europazweifel blieb. Die militärpolitische Westorientierung Dänemarks und Norwegens im Rahmen der NATO war eine Bindung an die USA. Sie war eher als eine Alternative zu Europa als ein Teil davon gedacht. In Schweden, mit seiner Neutralitätspolitik, war dieser Abstand zu Europa mindestens genauso deutlich. Das Selbstbild einer progressiven Politik wurde mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat ver-

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bunden, Wohlfahrtsstaat eher als Sozialstaat. Das Interesse des Auslandes an diesem politischen System wuchs in den 50er und 60er Jahren. Das Selbstbild, ein Modell für andere zu sein, verstärkte die Abgrenzung zu Europa räumlich und zu den 30er Jahren zeitlich.

Diese Bonanzajahre der skandinavischen Sozialdemokratie (weniger in Dänemark, wo die Regierungsmacht in verschiedenen Koalitionen ausgeübt werden musste und häufig unterbrochen wurde) brachten zwar Prosperität, aber keine dauerhafte Zufriedenheit. Ende der 60er Jahre nahm die Kritik von links zu, dass nicht alles gemacht wurde, was gemacht werden konnte, um Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen. „1968„ bedeutete das symbolische Jahr dieser Kritik und Gleichheitsutopie in Skandinavien - wie wir wissen, nicht nur dort, sondern auch anderswo. Aber in jeder Umwelt waren die Antriebskräfte, Ausdrucksformen und Ziele dieser Kritik unterschiedlich. In Skandinavien wurde vor allem die Sozialdemokratie, kraft ihrer politischen Machtposition, zum Ziel dieser Kritik: Sie habe nicht genug getan, um eine egalitäre Gesellschaft einzurichten. Es entstand die Frauenbewegung, nicht ohne langfristige Spannungen innerhalb der Arbeiterbewegung, vor allem innerhalb der Gewerkschaften.

Als somit die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften nach links gedrängt wurden, wartete Ende der 70er Jahre um die Ecke die neoliberale Kritik von rechts. Dies war eine allgemeine Entwicklung, die mit vielen Faktoren zusammenhing, z. B. mit der tiefen Transformation der Industriegesellschaft, dem technologischen Wandel und den neuen Organisationsmustern in der Weltwirtschaft. Auch wenn diese Entwicklung viele der Werte und der Wahrheiten der Sozialdemokratie von Grunde auf herausforderte, antwortete die skandinavische Sozialdemokratie ziemlich erfolgreich auf diese Herausforderungen.

Die große Identitätskrise kam, als die Europafrage nicht mehr mobilisierend wirkte. Die Probleme hatten in dieser Hinsicht schon in den 70er Jahren angefangen. Die Volksabstimmung im

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Jahre 1972 zum EG-Beitritt spaltete die norwegische Arbeiterpartei tief und dauerhaft. Die schwedische SAP blieb nur durch einen Rückzieher des Beitrittsantrages intakt und schuf sich damit eine 20-jährige Atempause. Im Rahmen des Kalten Krieges konnte die Partei weiterhin geschickt zum Thema Neutralität und Wohlfahrt manövrieren. Aber 1990 ging es auch dort nicht mehr. Während einer kurzen Phase versuchten die schwedischen Sozialdemokraten Anfang der 90er Jahre, das alte Europabild von den 30er Jahren zügig und entschlossen von Grunde auf umzudefinieren. Statt als Bedrohung wurde das Bild von Europa als Möglichkeit vermittelt. Die als mobilisierend gedachte Aufgabe der SAP wurde nicht gerade schüchtern gestellt. Es ging darum, Europa in einer Art mission civilisatrice zu „schwedenisieren„, d.h. zu „sozialdemokratisieren„. Das schwedische Wohlfahrtsmodell der 50er und 60er Jahre sollte nach Europa übersetzt werden.

Die ursprüngliche Einigkeit der Eliten des gesamten politischen Spektrums (mit Ausnahme der Kommunisten und der Grünen), den Beitrittsantrag im Zusammenhang einer tiefen und dramatischen Währungskrise einzureichen, zerbrach aber schnell, als die Konservativen und die Liberalen eine Gegenrhetorik entwickelten, bei der es darum ging, Schweden zu europäisieren, d. h. zu „entsozialdemokratisieren„.

Diese Uneinigkeit der politischen Eliten führte zu einer Spaltung zwischen der Masse der Bevölkerung und dem Establishment. Die deutliche Auswirkung auf die sozialdemokratische Leitung ist ein Zögern vor Europa. Ich habe diese Entwicklung mit Schweden als Beispiel angeführt. Aber sie ist in Dänemark und Norwegen sehr ähnlich. Das Ergebnis ist eine Spaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die Parteien und Gewerkschaften getroffen hat, und das Entstehen populistischer Bewegungen und Parteien, die die Sozialdemokraten herausfordern. In Dänemark und Norwegen hat der Populismus rechte Vorzeichen, in Schweden eher linke.

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Der Schluss ist klar. Die dramatische weltpolitische Entwicklung vor zehn Jahren hat eindeutig zu einer tiefen Orientierungskrise der skandinavischen Sozialdemokratie geführt. Diese Orientierungskrise ist eher auf das Ende des Kalten Krieges zurückzuführen als auf die Herausforderung traditioneller nationalstaatlicher sozialdemokratischer Politik durch Wirtschaftsglobalisierung und Übergang zum spekulativen Finanzkapitalismus. Die Radikalisierung der Politik der 70er Jahre als Antwort auf „1968„ und dann in den 80er und 90er Jahren die Entwicklung einer Drittwegsperspektive als Antwort auf die Globalisierungssprache sind keine kleine Pendelbewegung. Aber sie hat weniger Legitimitätsverlust gekostet als das Wegfallen des legitimierenden Weltbildes des Kalten Krieges, zu welchem eine ganz bestimmte historisch entstandene Sichtweise auf Europa gehörte.

Es ist schwer, sich langfristig legitimierende sozialdemokratische Politik zu denken, wenn es nicht gelingt, ein neues Europabild mobilisierend darzustellen. Das kurzfristige politische Verhalten der skandinavischen Sozialdemokraten mag Passivität Europa gegenüber sein, aber langfristig bietet diese bestimmt keine Lösung. Sozialdemokratische Wohlfahrtspolitik ist historisch nationalstaatlich festgelegt und konsolidiert. Diese Wohlfahrtspolitik hat auch die Nationalstaatsrahmen rückwirkend verstärkt. Dies gilt natürlich nicht nur für Skandinavien. In dieser Tatsache liegen die Schwierigkeiten und Herausforderungen, nicht nur der skandinavischen, sondern auch der europäischen Sozialdemokratie im Allgemeinen: aus diesem historischen Erbe mit einem europäischen Projekt herauszukommen - einem europäischen Projekt, aus dem auch die skandinavischen Sozialdemokraten Orientierung und Legitimität schöpfen könnten. Ob die seit einigen Jahren so übliche Drittwegrethorik in diese Richtung führt, ist eine offene Frage. Bis jetzt scheint sie eher den traditionellen Nationalstaatsrahmen der Politik aufrechterhalten zu wollen.

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