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Diskussion

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Thomas Meyer

Die seit einigen Jahren heftig in Gang befindlichen Debatten über einen Dritten Weg der Sozialdemokratie im Übergang ins neue Jahrhundert haben deutlich gemacht, dass sich die Parteien der Sozialdemokratie in Europa an einem Wendepunkt befinden. Außer dem Kern der Grundwerte selbst steht fast alles auf dem Prüfstand: das Sozialstaatsmodell, die politische Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft, das Bündnis mit den Gewerkschaften, die Verbindung mit den gesellschaftlichen Ziel- und Unterstützungsgruppen, die dem Projekt der Sozialdemokratie zu Legitimation und Macht verhelfen können.

Eigentümlicherweise stehen sich die sozialdemokratischen Parteien trotz dieser tiefergehenden Transformation heute im Kern ihrer politischen Vorstellungen näher als je im 20. Jahrhundert. Der Zwang der veränderten Problemlage, der vor allem mit den Stichworten ökonomische Globalisierung, gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung, Flexibilisierung und Wissensgesellschaft sowie Schwinden der alten Arbeitnehmermilieus verbunden ist, hat die Problemsichten und die Antwortentwürfe einander näher gerückt. Abermals stellt sich die Frage, was von der Tradition bleiben wird, was von ihr für die in Gang gekommene Neuorientierung hilft.

Für Antworten auf diese Fragen ist die Rückbesinnung auf Identität und Wandel der sozialdemokratischen Parteien in Europa von großer Bedeutung, denn in die Neubestimmung des Künftigen gehen als wichtige Determinanten immer auch das Erbe der Tradition und die Reflexion vergangener Erfahrung mit ein.

In diesem Sinne ist es für die Neubestimmung des Projekts zur sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert von beträchtlichem Nutzen, dass wir Vertreter wichtiger sozialdemokratischer Parteien bei uns haben, die aus den Erfahrungen ihrer Länder etwas beitragen können zu derjenigen Bilanz, die nun einmal für die

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Neubestimmung des sozialdemokratischen Projekts als einer der Voraussetzungen wirksam bleibt. Wir wollen nun mit der Diskussion der Eingangsstatements beginnen.

Helga Grebing:

Mich hat fasziniert, was Heinz Timmermann gesagt hat: Eines baldigen Tages brechen einige von diesen sich zumindest sozialdemokratisch nennenden Parteien in Osteuropa auseinander, weil sie unvereinbare Sozialschichten in sich zu bündeln versuchen. Diese stehen vielleicht auch nur so nebeneinander: Leute, die unternehmerisch-liberal orientiert sind, und Leute, die noch eine starke gewerkschaftliche Bindungskraft haben. Ein solches Phänomen wird uns in Deutschland auch begegnen. Insofern sind die Osteuropäer uns in dieser Diskussion eigentlich voraus.

Eine Frage an Bernd Faulenbach: Es wird gesagt, gerade von denen, die jetzt mit der Programmarbeit beginnen: Es ist zu Ende mit der linken Volkspartei, das kann die SPD überhaupt nicht mehr sein, sie muss vielmehr die Partei des neuen Bürgertums werden, wobei völlig undefiniert bleibt, was Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft heute bedeuten, jedenfalls etwas anderes als im historischen Sinne. Wie würde diese in sich vorhandene Widersprüchlichkeit zu lösen sein? Peter Lösche hat ja ohnehin schon vor Jahren gesagt, die SPD sei in der Tat keine Volkspartei mehr, sondern eine „lose verkoppelte Anarchie„. Das ist sicherlich etwas überzogen gewesen, aber die Frage ist doch, ob man nicht so etwas andenken müsste wie eine Partei, die in der Lage ist, permanent - Brandt hat schon in diese Richtung gedacht - variable soziale Bündnisse zu schmieden, die das, was in der Partei steckt, zusammenfasst und auch über die Grenzen der Partei hinaus wirkt. Denn wie sonst sollte man sich das eigentlich vorstellen, was mit der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert passieren könnte?

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Bernd Faulenbach:

„Lose verkoppelte Anarchie„, das war gewiss eine Überspitzung, insgesamt gesehen. Nur, die Frage, was sie SPD tatsächlich ist, müsste vielleicht so beantwortet werden: Es gibt nach wie vor eine Mitgliederpartei, so unterschiedlich sie auch in den Regionen und Gliederungen ist, aber sie existiert, und es gilt womöglich doch, diese Mitgliederpartei in eine neue Verfassung zu bringen und zu transformieren.

Der Begriff „soziale Bündnisse„ scheint mir zu vereinfacht zu sein. Denn wo sind die sozialen Einheiten, die handlungsfähig sind und die wir miteinander verbinden könnten? Möglicherweise bräuchten wir eine Fortentwicklung des Typs der Mitgliederpartei, die sich zur Gesellschaft hin als eine Kommunikationsgemeinschaft definiert unter ganz bestimmten Prämissen mit ganz bestimmten Zielsetzungen. In eine solche Richtung müsste man die SPD weiterzuentwickeln versuchen: Mitgliederpartei, die ihre Basis in bestimmten Grundüberzeugungen hat, aber nach außen gewendet ist zur Gesellschaft hin und sich auszeichnet durch eine bestimmte Intensität der Kommunikation, wobei vieles natürlich im Sinne einer Vernetzung verliefe, aber bestimmte Zentren müssten vorhanden sein. Dieses schiene mir eine Möglichkeit der Transformation der SPD zu sein. Ich glaube, Thomas Meyer, du hast ähnliche Gedanken schon mal zu entwickeln versucht. Jedenfalls würde ich in eine solche Richtung gehen.

Zum Stichwort „soziale Bündnisse„ noch dies: Richtig und weiterführend ist dieser Gedanke insofern, als eine Partei, die gar keinen sozialen Hintergrund mehr hat, das, was ich eben angedeutet habe, nicht wird leisten können. Ein bestimmter sozialer Hintergrund muss also vorhanden sein, aber verbunden mit der Absicht, eine Mitgliederpartei und zugleich eine Kommunikationsgemeinschaft zur Gesellschaft hin zu sein, die vieles aufgreift und ihrerseits in politischen Konzepten zu bündeln versucht.

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Heinz Timmermann:

Noch einmal ein Rückgriff auf das, was ich gesagt habe, aber mit Blick auf das, was Du, Helga Grebing, offensichtlich meinst. Es ist in der Tat so, dass die Unternehmer, die noch Sozialdemokraten sind, in Ungarn und in Polen, es zunächst einmal über diese Privatisierung - legal oder halblegal oder wie auch immer - geworden und interessiert sind, dass eine Stabilität herrscht, dass ein staatlicher Rahmen existiert, dass auch die Sozialdemokraten als Regierungen ihrem Unternehmertum, ihren Aktivitäten eine Stabilität geben und dass sie das Land nach Westen, nämlich nach Europa, öffnen. Die konservativen Parteien sowohl in Ungarn als auch in Polen sind ja mit der Westöffnung eher zögerlich und behindern diese Aktivitäten dieser Unternehmer. Es sind also ganz konkrete Interessen, die aus der Vergangenheit kommen, nämlich dem Transformationsprozess, und die aus dem internationalen Beziehungsgeflecht kommen: Sie wollen nach Europa. Vielleicht kann man diese Ideen, dass sie eben nicht diese konservativen, sich abschließenden Parteien wollen, auch für uns Sozialdemokraten fruchtbar machen. Wir haben ja unter den konservativen Parteien auch ähnliche Tendenzen oder könnten das haben.

Arndt Bauerkämper:

Ich sehe ein gewisses Problem in der Struktur des Podiums darin, das wir sehr viel über nationalstaatliche Entwicklungen mit ein paar vergleichenden Perspektiven gehört haben, aber eigentlich wenig zu Wechselbeziehungen, zu externen Impulsen. Bei Herrn Timmermann schien es etwas auf, bei anderen nur gelegentlich. Bei diesem Punkt möchte ich gerne ansetzen und stärker in Richtung auf internationale Verflechtungen und auf daraus resultierende Abgrenzungen zwischen sozialistischen Parteien blicken. Ich sehe zwei Dimensionen, die auch angeklungen sind: Es gibt einerseits gemeinsame Herausforderungen, also Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Wirtschaftskrise seit

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den 70er Jahren, und daraus resultieren natürlich Transferprozesse mit zunehmender Kommunikationsdichte. Wir haben ja auch in diesem Punkt eine Globalisierung oder zumindest eine Europäisierung. Daraus resultieren Aneignungsprozesse, die immer gebrochen sind, die mit Abwehrreflexen verbunden sind. Ich will diese große Frage auf zwei Länder zuspitzen, zu denen ich mehr weiß als zu den anderen: Deutschland und Großbritannien! Was sind die Auswirkungen der britischen Besatzungsherrschaft auf die Entwicklung der Labour Party, die programmatische Entwicklung, aber auch in anderer Hinsicht. Mein Eindruck ist, dass wir relativ wenig darüber wissen. Vielleicht gibt es von den Referenten und Referentinnen auf dem Podium zu dieser Frage Antworten.

Die zweite Frage ist umgekehrt: Welche Wirkungen haben eigentlich Remigranten aus Großbritannien auf die Entwicklung der Sozialdemokratie erzielt? Was schleppen Sie eigentlich an Gepäck mit? Wie sind die Beziehungsverhältnisse dort? Wo sind eventuell Abwehrreflexe nachzuvollziehen, die sich aus dem Bedürfnis speisen, eigene Traditionen zu behalten und zu bewahren? Wir sollten immer diese beiden Seiten sehen. Ich stelle die Frage auch im Hinblick auf die Vorträge heute morgen und damit auch auf die gegenwärtige Diskussion. Die große Frage eigentlich, die man vielleicht ein Stück weit damit beantworten kann, ist ja, was man aus der Vernetzung sozialdemokratischer, sozialistischer Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lernen kann im Hinblick auf heutige Vernetzungsprozesse. Wieweit kann es - im Hinblick auf die Politik - eine Globalisierung sozialistischer Parteien geben? Resultiert Konvergenz, das wäre anknüpfend an Herrn Tenfeldes sehr informativen, weitblickenden Vortrag, gewissermaßen nur aus funktionalen Erfordernissen oder auch aus zunehmender Interaktionsdichte, aus Transferprozessen? Welche Chancen und Blockaden transnationaler Integration, um das Wort von Frau Grebing aufzugreifen, können gesehen werden, und welche Chancen und

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Blockaden transnationaler Interaktion können wir auch für zukünftige Prozesse nutzen?

Thomas Meyer:

Vielen Dank. Der Kern der Frage war also, welche Interaktionsprozesse können uns etwas über die künftige Entwicklung erklären? Und da das Beispiel Deutschland/Großbritannien war, möchten Sie vielleicht etwas dazu sagen, Herr Berger?

Stefan Berger:

Konkret ist es eine sehr wichtige Frage, die hier nicht im Mittelpunkt stand, weil nationale Entwicklungswege aufzuzeigen die Aufgabe war. Nur zwei Beispiele, die Du, Arndt Bauernkämper, direkt angesprochen hast. Das eine sind die Einflüsse der Besatzungszeit auf die britische Labour Party. Dazu gibt es in der Tat sehr wenig Literatur, allerdings weiß man, dass es wichtige Beziehungen gab im Zweiten Weltkrieg. Die Socialist Vanguard Group etwa, die auf die Entwicklung des Sozialismus in Großbritannien in den 1950er Jahren einen erheblichen Einfluss hatte, zeichnete sich durch enge Beziehungen zum ISK aus. Allan Flanders und Edith Morre z.B. waren eng befreundet mit Willi Eichler und verbrachten sogar einige Zeit in der ISK-Schule Walkenmühle. Über den ISK hatten so die Ideen Leonhard Nelsons auch Einfluss auf die Labour Party. Von diesen Leuten lernte auch Dick Crossman. Da gibt es direkte Bezüge, übrigens auch direkte lebensweltliche Bezüge. Umgekehrt war bei Remigranten, bei Sozialdemokraten, die aus London nach Deutschland zurück kamen, nach meinem Eindruck wenig britische Prägung im Gepäck, nicht zuletzt wegen der starken Auseinandersetzungen und Konflikte der sozialdemokratischen Exilpolitiker um Ollenhauer, Vogel, Stampfer mit den britischen Sozialdemokraten vor allem um William Gillies. Was mir in diesen Debatten immer wieder auffällt, sind die ungeheure Borniertheit

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und der Nationalismus der deutschen Sozialdemokraten in London, die völlig angewiesen waren auf das Wohlwollen der Briten und trotzdem noch so taten, als seien sie diejenigen, die großartig Lehrmeister spielen könnten.

Thomas Meyer:

Ich würde gerne in Bezug auf die Zukunft zwei oder drei Punkte kurz nennen. Ich glaube, etwas wirklich Neues und Interessantes an den gegenwärtigen Entwicklungen ist, dass in allen sozialdemokratischen Parteien, und zwar nicht nur in den Parteien, sondern auch in den Regierungen selbst, die Politik machen und umsetzen, heute seit zwei, drei Jahren eine Mentalität eingekehrt ist, dass man pragmatisch beobachten und studieren möchte, was die Nachbarn Gutes praktizieren, um davon etwas zu übernehmen. Wenn die Diskussion lange Zeit in Europa von einer Mentalität geprägt war, das eigene Modell sorgsam zu hüten und die anderen aufzufordern, von einem selber zu lernen, so ist jetzt nicht nur in der Rhetorik dieses Best-practice-Modell ein Konsens zwischen den Regierungen und den Parteien.

Das zweite ist: Nach meiner Beobachtung hat es noch nie in der Nachkriegsgeschichte so dichte, an operativen Politiken arbeitende Netzwerke von sozialdemokratischen Wissenschaftlern und Think Tanks gegeben wie in den letzten Jahren, und zwar von solchen, die auch wirklich Regierungen und Parteiführungen beraten. Das ist etwas Neues, und es gibt auch ein Bewusstsein, dass dies etwas Neues ist. Hinzu kommt, dass die Rolle von Think Tanks im Einzugsbereich sozialdemokratischer Regierungen im Moment sehr erheblich ist, oftmals sehr viel stärker als die zugehörigen Parteien, weil sie beweglicher und schneller sind und man sich auch viel leichter sowohl mit dem Image wie auch mit den Ideen bedienen kann, die sehr schnell und praxisnah entwickelt werden. Ich bin der Überzeugung, aus dem, was ich sehe - ich stecke auch selbst in einigen dieser Netzwerke -, dass das eine ganz neue und viel intensivere Art des Austauschs

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ist, als wir sie je in der ganzen Nachkriegsperiode gekannt haben.

Bo Strå th:

Historisch gibt es natürlich das Beispiel der deutschen Emigranten in Skandinavien im Zweiten Weltkrieg. Ich bin aber eher skeptisch hinsichtlich ihrer Prägung.

Ich möchte die Rolle der von Thomas Mayer angesprochnen Netzwerke nicht überschätzen, wenn es darum geht, wirklich neue Politik zu gestalten. Ich frage mich aber, ob diese Beziehungen, Netzwerke usw. eigentlich seit 1914 viel weiter gekommen sind. Wir sind immer noch nicht an dem Punkt vorbeigekommen, an dem der Sozialismus internationalisiert wurde. Aber was vielleicht viel entscheidender als die Netzwerke sein könnte, das wäre, wenn aus diesen Netzwerken Institutionen entstünden. Das ist vielleicht etwas ganz Neues, vor allem im europäischen Rahmen, was in der Luft schwebt, wie sich die Institutionen entwickeln. Wir sind ja tatsächlich dabei, eine europäische Öffentlichkeit zu entwickeln. Diese Entwicklung könnte auch einen Einfluss auf die nationalen Kulturen ausüben.

Bernd Faulenbach:

Nach den Vorträgen konnte man sicher annehmen, dass alle Wege Sonderwege seien. Die Unterschiede waren beträchtlich, wobei sie im mittel- und westeuropäischen Zusammenhang etwas geringer waren. Aber wir haben eben nicht ausdrücklich nach diesen Kommunikationszusammenhängen zwischen den verschiedenen Sozialdemokratien gefragt. Das wäre ein eigenes Thema. Es wird hier immer gesagt, dass die Deutschen eine Mission gegenüber anderen wahrgenommen hätten. Aber bezogen auf die Nachkriegszeit - ich nehme an, Helga Grebing wird das ähnlich sehen - ist gar keine Frage, dass erhebliche Impulse in Richtung Neuorientierung der deutschen Sozialdemokratie

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sowohl aus Großbritannien als auch aus Skandinavien bei führenden Repräsentanten der deutschen Sozialdemokratie - bei Brandt, bei Eichler, bei Erler und anderen - zu verzeichnen sind. Es ist nicht so, dass nicht von den anderen gelernt worden wäre. Wesentliche Impulse sind aufgegriffen worden, insbesondere Momente der Entideologisierung oder auch des Aufgebens bestimmter Traditionalismen. Vielfach berief man sich auf die anderen Parteien in der Kritik an der eigenen Partei. In dieser Hinsicht können wir durchaus eine Beeinflussung zwischen den einzelnen Parteien feststellen.

Ich möchte unserem skandinavischen Kollegen Bo Strå th zustimmen: Es wird nicht reichen, ein gemeinsames Netzwerk zu haben. Ich glaube, die europäischen sozialdemokratischen Parteien brauchen ein gemeinsames europäisches Projekt. Sie werden also zu mehr kommen müssen, als sich nur über die gemeinsamen Herausforderungen zu verständigen. Sie werden gemeinsam handlungsfähig werden müssen. Ich glaube, in diese Richtung wird die Diskussion gehen, also über das hinaus, was Thomas Meyer als im Gange befindlich angesprochen hat. Da wird schon eine Rolle spielen, inwieweit die deutsche Sozialdemokratie, die französische und die holländische unter sich bleiben oder ob die Skandinavier in diesem Prozess mitmachen. Insofern ist diese skandinavische Europadiskussion für das übrige Europa von erheblicher Bedeutung. Dies muss man in diesem Zusammenhang sehen.

Was die deutsche Sozialdemokratie angeht, so war sie natürlich wie andere in der Nachkriegszeit zunächst sehr national orientiert. Die ersten auf die europäische Integration zielenden Verträge, die die deutsche Sozialdemokratie mitgetragen hat, waren die Römischen Verträge von 1957. Dieser nationale Weg, den die Sozialdemokratie in Deutschland zunächst gegangen ist, wird von da an schwächer, und von da an öffnet sich die Sozialdemokratie verstärkt zu den Vorstellungen der europäischen Integration, wobei bei Europawahlen die Sozialdemokratie bis in die Gegenwart Mobilierungsprobleme, Schwierigkeiten hat, ihre

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eigenen Wähler an die Urnen zu bringen. Aber was die politischen Führungsgruppen und die Programmatik angeht, so lässt sich die deutsche Sozialdemokratie seit Mitte der 50er Jahre ein auf die konkret vorhandenen Strukturen, während sie vorher ein bestimmtes abstraktes Alternativbild hatte und einer konkreten nationalen Politik, der Wiedervereinigung, Vorrang einräumte.

Schließlich will ich will noch einmal wiederholen: Die Schicksalsfrage für die sozialdemokratischen Parteien ist meines Erachtens, ob sie so etwas wie ein gemeinsames europäisches Politikprojekt entwickeln können.

Bruno Groppo:

Mit scheint, die politische Emigration hatte, historisch gesehen, eine große Bedeutung für bestimmte Länder und Parteien, wenn man etwa an die spanische sozialistische Partei oder die sozialistische Partei in Portugal denkt. Die Tatsache, dass einige Führer im Exil in Frankreich waren, dass sie dort Beziehungen nicht nur mit dem französischen Sozialismus hatten, sondern auch mit anderen Strömungen innerhalb des europäischen Sozialismus, scheint mir sehr wichtig zu sein. Im Falle Italiens war die politische Emigration von großer Bedeutung für die meisten politischen Kräfte, besonders für die Kommunisten, die in der wirtschaftlichen Emigration neue Kader bilden konnten. Aber auch für die anderen bedeutete die Emigration die Möglichkeit, weiterhin politisch aktiv zu sein, ihre politische Tradition aufrecht zu erhalten und insbesondere in Frankreich, aber auch mit anderen europäischen Emigrierten wichtige Kontakte für die Nachkriegsperiode aufzunehmen. Dies gilt während des Krieges auch für die Vereinigten Staaten. Das ist historisch noch nicht gut bearbeitet worden, ist aber meiner Meinung nach sehr zu unterstreichen.

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Thomas Meyer:

Eine ganz kleine Ergänzung: Symbolisch für die neue Art von Vernetzung ist, glaube ich, die Tatsache, dass bei dem „Bündnis für Arbeit„, das hier in der Bundesrepublik jetzt organisiert worden ist, eine der Arbeitsgruppen, die mit Wissenschaftlern besetzt ist, an der auch einige Forschungsgruppen teilnehmen, tatsächlich nichts anderes macht, als die Praxis der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialpolitik in allen anderen europäischen Ländern zu studieren, um Vorschläge vorzubereiten, was man daraus für das „Bündnis für Arbeit„ in Deutschland lernen kann. Das wäre vor 10 oder 15 Jahren kaum denkbar gewesen, und das ist eine der interessantesten Inspirationsquellen für diese Art von politischer Praxis.

Bernd Henningsen:

Ich bin Direktor des Nordeuropainstituts der Humboldt-Universität. Bo Strå th, ich würde Dich gerne provozieren zu etwas mehr Reflexion über die Zukunft des demokratischen Sozialismus in den skandinavischen Ländern, und zwar insbesondere deswegen, weil auch die Frage der Bündnisse aufgeworfen worden ist. Der große Unterschied, den ich sehe zwischen der dänischen und der norwegischen politischen Situation auf der einen Seite und der schwedischen und finnischen auf der anderen Seite ist, dass hier die Sozialdemokraten je unterschiedlich mit anderen Bündnisfragen konfrontiert sind, durch andere Volksbewegungen und andere Pragmatiken und Programmatiken unter Druck geraten sind. Man sehe sich das Wahlergebnis der letzten Woche in Dänemark an: 53% votierten gegen den Euro, angeführt von einer Person, einer rechtspopulistischen Parteiführerin der Fortschrittspartei, der man die 53% zu einem guten Teil zugute schreiben kann. In Norwegen kann sich der sozialdemokratische Ministerpräsident in Norden kaum noch zeigen, er wird ausgebuht, ausgepfiffen, ein relativ rigider Vertreter von new economy. Der nächste Ministerpräsident in Nor-

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wegen wird aller Voraussicht nach der Rechtspopulist Carli Hagen sein. Er hat heute bereits in den Wahlumfragen mehr Stimmen hinter sich als die gegenwärtige Regierungspartei. Seine Partei ist stärkste Partei. Man spricht bereits von FPÖ bzw. Haider light in Norwegen. Diese Bewegung gibt es nicht in Schweden und in Finnland. In Schweden steht die Sozialdemokratie dagegen von links unter Druck, Frau Schümann, auf die Göran Persson angewiesen ist, schafft es ja, zunehmend Wählersympathien für sich zu gewinnen, und ist wahrscheinlich auch dafür verantwortlich zu machen, dass Göran Persson nicht, zumindest in der Rhetorik, Anhänger von new economy ist. Siehst Du, Bo Strå th, da Entwicklungsperspektiven gerade für die sozialdemokratischen Parteien in diesen drei Ländern unter diesen unterschiedlichen politisch gegebenen Verhältnissen hinsichtlich der Macht, aber auch der Programmatik?

Bo Strå th:

Das ist eine sehr wichtige Frage, und das trifft besonders auf die Europafrage zu. Man darf natürlich nicht vergessen, dass die schwedische Sozialdemokratie traditionell eine stärkere parlamentarische Stellung hat. Die norwegische und die dänische haben nicht dieselbe Stärke gehabt seit den 30er Jahren. Die schwedische Regierung hat bis jetzt in der Europafrage eher gepasst. Die Frage ist, wie lange diese Strategie hält. Man steht nicht nur von links unter Druck, die Dinge können sich natürlich auch da in eine Richtung wie in Norwegen oder Dänemark entwickeln. Der Unterschied zwischen Populismus von links und von rechts ist vielleicht letzten Endes nicht so groß. Ich frage mich, wie stabil die Situation in Schweden wirklich ist. Man hat den Parteimitgliedern zum Beispiel in der Volksabstimmung um den EU-Beitritt gesagt: Wir haben hier keine konkrete Position. Der Gewerkschaftsbund wurde von innen blockiert. Die Hälfte war für den Beitritt, die andere dagegen. Kurzfristig kann man wahrscheinlich mit solchen Situationen umgehen, mit einer sol-

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chen passiven Politik. Aber früher oder später muss man eine Initiative ergreifen. Und gerade das, was man jetzt sieht, dass man von links gedrängt wird, kann ein Problem werden. Ob man auf diese Herausforderungen weiter durch Passivität antworten soll, ob das die bessere Strategie ist, frage ich mich. Wir haben gerade über die europäischen Netzwerke gesprochen und über die Möglichkeit, aus Skandinavien zu lernen. Was man aber wirklich aus Skandinavien lernen kann, ist, dass europäische Think Tanks nicht als eine Art Europaelite gegen die Basis stehen dürfen, aber auch, dass die Basis für Europa mit einem konkreten und klaren europäischen sozialdemokratischen Projekt mobilisiert werden muss. Hier fehlt es immer noch an sozialdemokratischer Darstellungskraft.

Thomas Meyer:

Ich glaube, dass die Frage nach der Rolle des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern für die Zukunft der Sozialdemokratie eine sehr wichtige ist, zumal, wenn man bedenkt, dass Haider etwa behauptet, er repräsentiere die neue Sozialdemokratie. Das sagt er so wörtlich, er spricht damit bestimmte Wählergruppen mit großem Erfolg an. Man weiß ja aus Umfragen, dass in vielen Ländern 15 bis 20% der Wähler dafür anfällig sind, unter ganz bestimmten Erfahrungen und Mobilisierungsbedingungen auch abrufbar sind für eine solche Agitation. Das hat etwas zu tun mit der Wahrnehmung des sozialdemokratischen Projekts in diesen Ländern.

Bo Strå th:

Was jetzt seit einigen Jahren im Gange ist, ist eine sehr dramatische Umdefinition des Demokratiebegriffes. In dieser Frage, was Demokratie ist, hat ja die Sozialdemokratie mehr oder weniger ein Deutungsmonopol. Da hinein stoßen Leute wie Haider und

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sagen: Demokratie ist etwas anderes. Es gibt jetzt also einen Kampf um den Begriff Demokratie, denke ich.

Heinz Timmermann:

Ich frage mich, ob überhaupt keine oder zu wenig direkte Beziehungen zur finnischen Sozialdemokratie bestehen. Sie hat eine sehr proeuropäische Haltung entwickelt und die EU-Präsidentschaft glänzend gemeistert – insbesondere auch durch spezifische Initiativen zur Anbindung Russlands und seiner nordwestlichen Regionen an die Union. Schweden wird Anfang 2001 die Präsidentschaft übernehmen. Ob die Sozialdemokratie will oder nicht, und sie will sicher die Präsidentschaft gut bewältigen, muss sie sich etwas überlegen. Es wäre vorstellbar, dass sie sich mit ihren Vorgängern in der Präsidentschaft, den Finnen und – davor – uns Deutschen, vernetzen, um deren Erfahrungen berücksichtigen zu können. Vorstellbar wäre, dass von hier positive Impulse auf die etwas zögerlichen schwedischen Sozialdemokraten ausgehen.

Helga Grebing:

Ich halte diese Diskussion über die Vernetzung eigentlich für einen Euphemismus. Denn eine solche Vernetzung gibt es schon länger, und dass Fachleute sich verstehen, muss einen auch nicht wundern. Nur frage ich nach den Synergieeffekten nach unten in die Partei hinein, wenn sie denn noch eine Mitgliederpartei ist und bleiben soll.

Die zweite Frage, die damit zusammenhängt, ist, dass wir eine Menge, und das müsste diskutiert werden, von Ungleichzeitigkeiten in der Gleichzeitigkeit haben. Wir sind davon überzeugt, dass wir das europäische Projekt in den einzelnen sozialdemokratischen Parteien und gemeinsam untereinander entwickeln müssen. Gleichzeitig stehen wir vor dem Problem, wie wir in dem, was wir den Urgrund der modernen Zivilgesellschaft

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nennen, Identifikation schaffen können. Also sind wir wieder zurückgeworfen auf bestimmte Komponenten des nationalstaatlichen Denkens. Das sieht man ja an der Bedeutung, die der Rechtspopulismus hat. Ich finde, man müsste solche Ungleichzeitigkeiten – man könnte noch mehr nennen, etwa die angeblich europäische Energiepolitik, mit starken Widersprüchen z.B. zwischen Frankreich und Deutschland - unter ein vernünftiges Dach im Sinne der Grundwerte, die die Sozialdemokratie vertritt, in Europa zu bekommen versuchen. Davon sehe ich in der Diskussion noch nicht sehr viel.

Christina Ilichner:

Ich bin eine historisch interessierte Sozialdemokratin. Wenn ich davon ausgehe, dass Bernd Faulenbach Recht hat und wir nach wie vor als Sozialdemokraten zumindest in Deutschland - wahrscheinlich auch in anderen Staaten - eine Mitgliederpartei und eine Programmpartei sind, unterscheidet uns das möglicherweise noch partiell von anderen Parteien. Angesichts dessen frage ich mich: Welches Fremdbild und welches Selbstbild von Sozialdemokraten oder demokratischen Sozialisten haben wir denn eigentlich? Gibt es da eine Gemeinsamkeit in Europa, und gibt es etwas, was wir möglicherweise fortentwickeln können? Für mich ist bislang in meiner Partei nicht mehr erkennbar, dass wir darüber überhaupt noch diskutieren, wieviel emanzipatorisches Potential wir eigentlich haben, was z.B. mit dem Individualismus ist. Wenn ich auf die Ebene der Führungskader der Sozialdemokratie schaue, dann habe ich da ein ganz starkes individualistisch-zivil-kommunitaristisches Potential. Wenn ich auf die Kommunalpolitiker sehe, aus der die Sozialdemokratie traditionell ihre Wiederbelebungskraft geschöpft hat, wenn sie mal wieder abgestürzt war, dann habe ich da ein viel stärkeres Denken, das nicht auf Civil society, nicht auf Kommunitarismus ausgerichtet ist. Dort wird vielmehr gefragt: Wenn wir hier diese Umgehungsstraße bauen, für welche Menschen bauen wir sie eigent-

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lich? Gibt es bestimmte Werte, die sozialdemokratisch sind und selbst bei diesem Problem noch ziehen? Da wird etwas viel stärker herunterdekliniert von dem, was wir beim Orientierungsrahmen ´85 bis zur Erschöpfung diskutiert und dann auf dem Berliner Parteitag noch ansatzweise diskutiert, aber in der Partei immer noch so ein bisschen rudimentär in den Hinterköpfen haben. Aber ist da nicht eine Chance für ein Europa und die Sozialdemokratie oder den demokratischen Sozialismus? Den Be-griff Sozialismus will ich auch nicht abschaffen.

Thomas Meyer:

Was sind eigentlich jetzt die Zukunftsperspektiven aller sozialdemokratischen Bewegung in Europa, die ihren Grundwerten treu bleibt und dennoch die neuen Herausforderungen annimmt? Was zeichnet sich da ab? Was können wir aus den verschiedenen Diskussionen in den einzelnen Ländern heraus sagen?

Bruno Groppo:

Ich möchte eine Frage aufwerfen, die mir als zentral erscheint. Was unterscheidet in der jetzigen Periode die sozialdemokratischen Parteien von anderen demokratischen Parteien? Was ist an ihnen spezifisch? Ich glaube, eine solche Frage hätte man, sagen wir vor zwanzig, vielleicht auch vor zehn Jahren, ziemlich leicht beantworten können. Mir scheint, dass es jetzt schwerer und schwerer fällt, das Spezifische zu erkennen. In welchen Beziehungen stehen diese Parteien in den verschiedenen Ländern zu ihrer Geschichte, zu ihrer Tradition. Es gibt bei ihnen offensichtlich ein großes Problem politischer Identität, auch bei vielen sozialdemokratischen Parteien und nicht nur, wie man das ganz offen sieht, ehemaligen oder auch jetzigen kommunistischen Parteien. Ich möchte gerne eine Antwort darauf finden, was an der sozialdemokratischen Politik in dieser Phase spezifisch ist. In dieser Diskussion wäre es wichtig, die gewerkschaftliche Di-

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mension einzubeziehen. In der Tat hat die Sozialdemokratie dort eine wirkliche soziale Basis, wo sie in der Welt der Arbeiter verwurzelt ist, direkt durch den Einfluss innerhalb der Gewerkschaftsbewegungen. Die politische Potenz der Sozialdemokratie hängt in der nächsten Zukunft davon ab, welche Antworten sie auf Fragen z.B. nach der Umwandlung der Arbeitsgesellschaft geben kann. Andererseits sieht man in Frankreich in der jungen Generation weniger Interesse für die Politik im Allgemeinen und für die Parteipolitik insbesondere. Die Sozialistische Partei hat keine wirkliche Basis in der jungen Generation, und die anderen Parteien kennen dasselbe Problem. Ein zentrales Problem ist, wie man z.B. zu einer Erneuerung kommen kann, wenn es nicht eine neue Generation mit Interesse an der Politik und insbesondere an der sozialdemokratischen Politik gibt. Das sind Fragen, für die ich keine direkte Antwort habe, die mir aber wichtig erscheinen.

Thomas Meyer:

Wir sollten jetzt allen die Gelegenheit geben, diese zentrale Frage noch einmal aus der Sicht der jeweiligen Länder kurz zu beantworten.

Stefan Berger:

Ich denke, dass wir im Prinzip schon seit geraumer Zeit eine paradoxe Situation haben, schon seit Beginn des Jahrhunderts, wenn wir Hartmut Kaelble folgen: eine Art von Konvergenz europäischer Gesellschaften, die sich im Prinzip zumindest in Westeuropa zunehmend ähnlicher werden, zugleich aber im Prinzip - da würde ich Bo Strå th widersprechen - ein Defizit haben bei der Ausprägung einer europäischen Öffentlichkeit. Denn die Debatten finden nach wie vor doch weitgehend im Nationalstaat statt. Gerade das gescheiterte Experiment einiger großer europäischer Zeitungen, vor einigen Jahren eine europäi-

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sche Zeitung herauszugeben, zeigt deutlich, dass eine solche europäische Öffentlichkeit noch nicht existiert. Eine solche ist zwar wünschenswert, aber der Wunsch sollte nicht mit der Realität verwechselt werden. Die Debatten finden noch in bestimmten nationalen Zusammenhängen statt, auch die Debatte, was Sozialismus ist.

Zur internationalen Verflechtung in Think Tanks usw.: Ich würde im europäischen Vergleich sagen, dass diese Verflechtung hier in Deutschland sehr viel stärker betont wird als in anderen europäischen Ländern; denn Deutschland hat sich im Zuge der 60er Jahre - wenn man so will: der zweiten Gründung der Bundesrepublik - stärker internationalisiert oder europäisiert als andere europäische Nationalstaaten. In Großbritannien z.B. kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Parlamentskommission erst einmal untersucht, was woanders gemacht wird, um eigene Vorstellungen zu entwickeln. Während sich europäischen Gesellschaften tatsächlich annähern, sehe ich einen solchen Annäherungsprozess in der europäischen Öffentlichkeit vor allem auf der Elitenebene. Aber die nationalen Debatten verlaufen weiterhin national.

Bo Strå th:

Der Unterschied zwischen mir und Herrn Berger ist, glaube ich, nicht so groß. Ich teile seine Meinung, dass die Debatten immer noch hauptsächlich national sind. Ich habe von einer Andeutung einer europäischen Öffentlichkeit gesprochen. Wenn der deutsche Bundeskanzler nach der Haider-Entscheidung sagt: Wenn so etwas in Italien passiert, dann werden wir dasselbe mit Italien wie mit Österreich machen, und der italienische Ministerpräsident seinen Botschafter hierhin sendet und dagegen protestiert, dann haben wir eine Art Debatte bekommen, die bis jetzt immer als Einmischung in Angelegenheiten eines anderen Staates angesehen wurde. Diese Art von Einmischungen sind eben nicht Eli-

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tefrage, weil sie sehr mobilisierend sind, auf jeden Fall potentialmobilisierend.

Zu der Hauptfrage: Es gibt zwei Gebiete, auf denen man sich viel mehr bemühen muss. Das eine ist der Demokratiebegriff. Es gibt von der Antike her zwei Übersetzungen von Volk - die eine ist Demos und die andere Populus -, die in gewissen Hinsichten sehr nah beieinander liegen, aber für sehr unterschiedliche Perspektiven stehen. Darauf sollte man sehr aufmerksam sein. Hier könnte wirklich ein europäisches Projekt entstehen.

Die andere Frage ist eine theoretische: Alle Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften haben seit 20 Jahren als neue Wahrheit herausgestellt, dass alles von individuellen Beziehungen ausgeht. Es gibt eigentlich nur noch Individuen. Das ist sozusagen die neue Theorie. In dieser Lage wäre es eine wichtige Aufgabe, neue Formen kollektiver Handlungsmuster darzustellen. Wir haben heute nicht mehr - das ist ein Teil der Orientierungskrise - die Solidaritätsbegriffe, die rund um Kategorien wie Klasse und Nation historisch entstanden sind. Sie sind, denke ich, mehr oder weniger überspielt. Aber das heißt ja nicht, dass keine Solidarität, keine kollektive Handlung mehr gebraucht wird. Man muss versuchen, dieses Problem neu zu durchdenken. Das könnte auch eine Aufgabe für Europa sein.

Ganz kurz zu Skandinavien: Es ist hier besonders wichtig, dass die skandinavische Sozialdemokratie aus dieser Orientierungskrise herauskommt, und der Weg aus dieser Krise muss in Richtung Europa gehen. Es ist richtig, dass Dänemark und Norwegen jetzt tiefer in dieser Krise stecken als Schweden. Ich teile Deine Meinung, Bernd Henningsen, aber ich denke auch, hypothetisch ist es nicht, eine Situation zu denken, in der die schwedischen Sozialdemokraten nur noch 20 bis 25 % der Wähler haben. Was passiert dann? Dann würde es turbulent werden. Man sollte nicht die populistischen Elemente in der grünen und linkssozialistischen Politik Schwedens unterschätzen. Wir haben zwar keine rechtspopulistische Politik, aber heute ist der Unterschied zwischen Links und Rechts sehr, sehr fein.

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Heinz Timmermann:

Ich möchte noch einmal auf den Internationalismusbegriff zurückkommen, der ja zu unserer Tradition gehört, aber natürlich umdefiniert und mit neuem Inhalt gefüllt werden muss. Für uns liegt der Hauptakzent des Internationalismus, denke ich, auf Dynamik und Perspektiven der sicherwährenden Europäischen Union. Wir sollten diese Prozesse, die ja rapide vorangehen, auch immer noch scheitern können, in unserer Programmdiskussion nutzen, um anhand konkreter Probleme mit unseren europäischen Partnerparteien im Sinne eines neuen Internationalismus intensiv zu diskutieren. Ich nenne etwa die Fragen der Integration als solche, die Asylpolitik, die Arbeitsmarktpolitik, aber auch z.B. die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist ein Element, das weitgehend noch gar nicht ins Bewusstsein gedrungen ist. Aber in einem Jahr werden wir eine Eingreiftruppe von 60.000 Mann haben, die europaweit eingesetzt werden kann. Was bedeutet das? Wie stellen wir uns dazu? Unser Verhältnis zum Militär war ja immer ein bisschen sensitiv. Das wäre das eine. Die Programmdiskussion ist eigentlich als Diskussion am wichtigsten. Wenn das Programm einmal steht, dann wird es leider oft vergessen. Z.B. der Gegensatz Ökonomie und Ökologie ist bei uns im Zuge dieser Programmdiskussion - nehmen wir mal die Personen Eppler und Löwenthal - nicht verschwunden, aber doch weitgehend entschärft worden. Das war damals sehr dramatisch. Wir sollten im Rahmen dieser Programmdiskussion konkrete Probleme auch mit unseren Partnerparteien diskutieren. Das zweite ist ganz kurz: Wir sollten im Zuge des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union unsere Bruder- oder Schwesterparteien in Ost-Mitteleuropa kontaktieren, Konferenzen veranstalten, die spezifischen Bedingungen dieser Parteien berücksichtigen. Das ist nicht immer ganz einfach und führt auch zu Missverständnissen. Ich habe gerade eine Konferenz mitgemacht, nicht auf Parteiebene, aber auf wissenschaftlicher Ebene, wo wir mit Polen über die Ostpolitik der Europäischen Union diskutiert haben, weil es immer heißt: Die Deut-

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schen sind Softies, und die Polen sind von antirussischen Reflexen geprägt und tragen dies womöglich in die EU hinein. Im Zuge dieser zweitägigen Diskussion zeigte sich, dass man, wenn man über die konkreten Dinge diskutiert, zu sehr konkreten und guten Ergebnissen kommen kann. Das auf die Parteiebene in diesem Raum zu übertragen, wäre sehr fruchtbar.

Bernd Faulenbach:

Erste Bemerkung: Wir brauchen auch künftig nationale Kommunikation, aber daneben eine transnationale Kommunikationsebene, also europäische Öffentlichkeit. Und wir brauchen etwas, was hier angemahnt worden ist, wir brauchen eine Verbreiterung des Dialoges zwischen den verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, der nicht auf die Führungsgruppen begrenzt sein sollte. Die Kommunikation kann ja durchaus projektbezogen sein, muss aber schlicht breiter werden, als das bisher der Fall ist. Dies scheint mir wesentlich zu sein.

Und die zweite Bemerkung: Ich glaube, dass die europäischen Parteien sich bei allen Unterschieden über einen gemeinsamen Wertehorizont sehr schnell verständigen können. Das schließt Diskussionen ein, wie diese Werte in konkrete Politik umgesetzt werden können. Das ist eine gemeinsame Herausforderung, aber der Wertehorizont als solcher ist, glaube ich, sehr ähnlich.

Die sozialdemokratischen Parteien Europas stehen zum Teil vor sehr ähnlichen Problemen. Auch dieses verbindet. Da sind u.a. die Fragen: Wie organisiert man Demokratie angesichts transnationaler Prozesse und einer Medienmacht künftig? Wie geht es mit dem Sozialstaat weiter? Aus meiner Sicht lassen sich die Antwortversuche bei aller Respektierung der nationalen Besonderheiten doch auf ein gemeinsames europäisches Projekt hin bündeln. Aufgabe der Debatten der nächsten Jahre müsste meines Erachtens sein, wie wir bestimmte Politikfelder europäisch gestalten wollen. In diesem Zusammenhang sind die Sicherung

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und Weiterentwicklung des Sozialstaates und bestimmte Umweltfragen zu erörtern, vor allem aber die Steuerungsmöglichkeit von Wirtschaft, die nur auf dieser Ebene denkbar ist. Dies schließt meines Erachtens durchaus die Zähmung des kapitalistischen Ökonomismus auf neue Weise ein, ohne den Markt aufzugeben, aber auch ohne sich völlig der Allmacht des Marktes auszuliefern. Es kann nicht sein, dass alles, aber auch alles – Gesellschaft, Kultur, Bildung - ausschließlich vom Markt bestimmt wird. Es muss Gegengewichte geben gegen den neoliberalen Marktradikalismus, die sozialdemokratische Parteien in Europa zu entwickeln und durchzusetzen haben.

Thomas Meyer:

Es hat sich in dieser Diskussionsrunde gezeigt, dass über einige wesentliche Punkte doch ein Einvernehmen zwischen den Diskutanten aus den verschiedenen Ländern entstanden ist. Hätten wir nicht in den großen historischen Linien uns den Gegenwartsfragen angenähert, sondern uns direkt auf einzelne Politikfelder konzentriert, dann hätten wir wahrscheinlich auch gesehen, dass sich da tatsächlich auch schon neue Politiken und interessante Zukunftsperspektiven ergeben. Das war nicht der Ansatz dieser Tagung hier. Was sich jetzt gezeigt hat, gerade in der letzten Runde, ist jedenfalls für mich klar: Das sozialdemokratische Projekt muss nach dem Ende der neoliberalen Dominanz neu definiert, neu bestimmt werden. Es ist klar, dass die Grundwerte der Sozialdemokratie dabei eine maßgebliche Rolle spielen müssen. Es ist klar, dass es eine politische Gesamtverantwortung über die wirtschaftlichen Prozesse für die sozialstaatliche Entwicklung geben muss, dass die von der Sozialdemokratie nicht preisgegeben werden kann, weil sonst auch nicht in Sicht wäre, wie eine grundwerteorientierte Politik möglich sein könnte. Es ist auch klar geworden, dass angesichts der Globalisierungsprozesse ein solches Projekt nur als ein transnationales, zumindest europäisches und darüber hinausgehendes Projekt sinnvoll ist.

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Deswegen sind die Aufforderungen, die hier gekommen sind, aus der selektiven europäischen Öffentlichkeit, die wir jetzt gelegentlich haben, bei bestimmten spektakulären Fällen oder auf der Ebene etwa von intellektuellen Vernetzungen und ähnlichem, dass eine viel weitere europäische Öffentlichkeit geschaffen werden muss, damit eine solche Politik gemeinsam definiert und dann umgesetzt werden kann, weil sie in wesentlichen Teilen (Arbeitsmarktpolitik, Sozialstaatssicherung, Sicherheitspolitik, Bildungspolitik und vielen anderen Bereichen) tatsächlich nur noch im europäischen Rahmen erfolgreich sein kann. Die Sozialdemokratie hat jetzt hier in Deutschland angefangen, ihr Grundsatzprogramm neu zu bestimmen. Für mich ist es eine Frage, die ich aber jetzt nicht anreißen will, welche Rolle die Parteien überhaupt noch in diesen Prozessen der Politikformulierung und -umsetzung spielen. Das wird sich zeigen. Diese Programmdiskussion beginnt in drei oder vier Wochen. Sie wird einige Jahre in Anspruch nehmen und, ich denke, es gibt genügend Substanz hier und anderswo, um daraus handlungsfähige sozialdemokratische Perspektiven zu entwickeln. Ein bisschen davon ist sichtbar geworden. Ich danke Ihnen allen im Namen der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Teilnahme und für die gute Beteiligung an der Diskussion.

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Die Seiten 172 - 176 der Druckausgabe enthalten eine Übersicht über die
Reihe Gesprächskreis Geschichte
der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Im Internet bedienen Sie sich bitte der Bibliotheks-Kataloge um den aktuellen Stand der Reihe abzufragen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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