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Bruno Groppo
Die Entwicklung des demokratischen Sozialismus in Frankreich und Italien seit dem Zweiten Weltkrieg


Ich wurde zu diesem Kolloquium eingeladen, um über den französischen Sozialismus zu sprechen, doch nachdem die Organisatoren vor einigen Tagen anfragten, ob ich auch über Italien referieren könne, habe ich den ursprünglichen Entwurf meines Vortrags geändert. Ich werde nunmehr die Entwicklung des demokratischen Sozialismus in beiden Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen und auf der einen Seite die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten, auf der anderen Seite die Besonderheiten des jeweils betrachteten Landes hervorheben. Ich beginne jedoch mit einer Bemerkung zur Methode, indem ich an die Notwendigkeit erinnere, organisierte Arbeiterbewegung und Sozialismus zu unterscheiden. Erstere ist - ob als Gewerkschaften, politische Parteien, Genossenschaften usw. - historisch betrachtet Ausdruck der Interessen und Bestrebungen einer sozialen Gruppe, die durch die kapitalistische Industrialisierung geschaffen wurde, nämlich die der Arbeiter und allgemeiner, die der Arbeitnehmer. In allen vom Industrialisierungsprozess geprägten Ländern finden sich Bewegungen und Organisationen, die als Ziel die Wahrung der Arbeiterinteressen haben, politisch aber sehr unterschiedlich sein können. Der Sozialismus war, historisch betrachtet, eine der politischen Formen der Arbeiterbewegung: manchmal die dominierende Form, manchmal auch eher marginal, in jedem Fall aber nicht die einzige Variante der Arbeiterbewegung. Sehr lange bildeten in vielen Ländern Europas die Parteien, die sich auf den demokratischen Sozialismus berufen (wie sie alle auch heissen mögen : Sozialdemokratische Partei, Arbeiterpartei, Labour) die Hauptsäule der Arbeiterbewegung. Zumeist in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts gegründet, sahen sie sich selbst als Parteien der arbei-

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tenden Klasse, was sie auch lange Zeit tatsächlich in mehr oder weniger hohem Maße waren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm dieses Merkmal einer Arbeiterpartei mehr und mehr ab. Unter diesem Aspekt haben die sozialistischen Parteien Frankreichs und Italiens die gleiche Entwicklung erfahren, die sich zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten in ganz Europa vollzog. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte man den Höhepunkt und den Niedergang der Arbeiterpartei als politische Organisation. Die sozialistischen Parteien waren immer weniger Arbeiterpartei und wurden immer mehr zur klassenüberschreitenden Volkspartei, in der die Schichten der mittleren Angestellten breit vertreten waren. Diese Entwicklung reflektierte die soziologische Veränderung der europäischen Gesellschaften mit dem Niedergang der traditionellen Arbeiterklasse, besonders ab den siebziger Jahren als Folge von Restrukturierung und Abbau von Industrien sowie der Multiplizierung des Anteils der Angestellten. Der Übergang zur postindustriellen Ära hat die Struktur dieser Gesellschaften stark verändert und hatte beträchtliche politische Folgen. Auch die klassische Arbeiterbewegung selbst, gegründet als Interessenvertretung der Industriearbeiter, erfuhr in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen Prozess des Niedergangs, sowohl in Frankreich und Italien als auch in Gesamteuropa.

Die anhaltende Spaltung der Arbeiterbewegung im Ganzen und speziell des Sozialismus hat in Frankreich und Italien die gleichen Merkmale. Untersuchen wir zuerst den Syndikalismus. Hier sind die Perioden der Einheit die Ausnahme, während die Spaltungen - oder wenn man es anders formulieren möchte, der gewerkschaftliche Pluralismus - die Regel sind. Die gewerkschaftliche Einheit (im französischen Fall nicht existent, da die christlichen Gewerkschaften immer an einer eigenen Organisation festhielten) als Folgeerscheinung des Zweiten Weltkriegs war nur von kurzer Dauer, es folgten die Spaltungen, die dauerhaft die gewerkschaftliche Landschaft in beiden Ländern bestimmten. Die drei großen italienischen Gewerkschaftsvereinigungen

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von heute, CGIL, CISL und UIL, sind die gleichen, die bereits vor einem Jahrhundert bestanden, die Vereinigungsbestrebungen Ende der 1960er Jahre haben zu keinen beständigen Ergebnissen geführt. Andererseits wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die kommunistische Strömung in der Gewerkschaftsbewegung sowohl in Frankreich als auch in Italien zur dominierenden Kraft. Wenn man weiter zurückschaut, entdeckt man eine weitere interessante Gemeinsamkeit: In beiden Ländern bestanden schon vor dem Ersten Weltkrieg starke revolutionäre gewerkschaftliche Strömungen. In der Organisation sind diese Strömungen verschwunden, aber in einem nicht geringen Teil der Gewerkschaftsbewegung haben sie im Denken und Handeln dauerhaft ihren Niederschlag gefunden.

Politisch hat die Spaltung zwischen Sozialisten und Kommunisten die Geschichte der Linken in beiden Ländern während des größten Teils des 20. Jahrhunderts geprägt. Die kommunistische Partei Italiens, während der Zeit des Faschismus eine kleine Untergrundpartei, wurde 1945 vor allem aufgrund der Rolle, die sie im Widerstand spielte, zur Massenpartei, die die Linke dominierte und die Sozialisten weit überholte. Diese Position hat sie dauerhaft gehalten bis zu den politischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts, in deren Verlauf die sozialistische Partei verschwand und die kommunistische Partei in zwei Lager zerfiel. Die 1920 als Mehrheit aus einer Spaltung hervorgegangene PCF in Frankreich - die jedoch schnell von der sozialistischen Partei eingeholt wurde – spielte nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls eine dominierende Rolle in der politischen Linken sowie in der Gewerkschaftsbewegung. Sie entwickelte sich, ähnlich wie in Italien, zur Massenpartei und verfügte über ein erstrangiges Wählerpotential. Diese Situation währte bis in die siebziger Jahre. In diesem Jahrzehnt jedoch begann ihr Niedergang, der sich bis heute fortsetzt, während die sozialistische Partei wieder die Führung der Linken übernahm. Die in der Arbeiterbewegung und in der Gesellschaft fest verwurzelten kommunistischen Massenparteien stellen einen grundsätzlichen Unterschied im

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Verhältnis zu jenen europäischen Ländern dar, in denen das sozialdemokratische Modell vorherrscht. Dieses Modell stützt sich auf sozialistische Parteien, die über einen starken Rückhalt in den Gewerkschaften verfügen.

Sowohl Sozialisten als auch Kommunisten waren an den aus dem Widerstand hervorgegangenen Regierungen der nationalen Einheit beteiligt, doch der kalte Krieg bereitete diesem Zustand ein schnelles Ende. Nachdem die Kommunisten 1947 aus der Regierung verbannt worden waren, waren sie in Italien ein halbes Jahrhundert lang in die Opposition verwiesen und in Frankreich bis 1981. In Italien wurde 1947 der PSI, der mit den Kommunisten alliiert war, ebenfalls von der Regierung ausgeschlossen. Er hat diese politische Verbindung mit der PCI bis in die fünfziger Jahre aufrecht erhalten. Im Gegensatz dazu war in Frankreich die SFIO weiterhin Partner in verschiedenen Regierungen. Anzumerken ist jedoch, dass in beiden Ländern die wichtigste Komponente der Linken, nämlich die KP, ausgeschlossen war oder am Rand des politischen Geschehens stand, was das normale Funktionieren der Demokratie verfälschte und so zum Beispiel einer konservativen Partei, den Christdemokraten, in Italien dazu verhalf, ohne Unterbrechung ein halbes Jahrhundert lang an der Macht zu bleiben. Demzufolge fehlte der italienischen Demokratie nach 1945 ein wichtiges Element jeder demokratischen Grundordnung: der politische Wechsel zwischen Mehrheit und Opposition. Diese Tatsache steht in direktem Zusammenhang mit dem hohen Maß an Korruption, das den letzten Zeitabschnitt der ersten italienischen Republik kennzeichnete.

Die Existenz dominanter kommunistischer Parteien im linken Parteienspektrum bedeutete, dass sich die Sozialisten im Vergleich zu diesen Parteien, die ihre direkten Konkurrenten waren, immer wieder neu profilieren mussten. In Italien, wo der PCI einen Teil der Reformtradition des italienischen Sozialismus für sich zurückgewinnen konnte und so einen politischen Bereich besetzte, der in den meisten europäischen Ländern von den sozi-

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alistischen Parteien eingenommen wird, erwies sich diese Aufgabe als außerordentlich schwierig. Die italienischen Parteien, die sich auf den demokratischen Sozialismus berufen, haben es nicht geschafft, eine wirklich unabhängige Stellung im politischen System zu finden, was dazu führte, dass sie meist eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu den beiden wichtigsten politischen Kräften nach 1945, dem PCI oder den Christdemokraten, spielten. Das nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Sozialisten Pietro Nenni angestrebte Bündnis mit den Kommunisten, für welches er im Namen der Einheit der Arbeiterklasse bereit war, jeden Preis zu zahlen, führte 1947 zu einer ersten Spaltung der Sozialisten. Diese hatte die Gründung der Sozialdemokratischen Partei des Giuseppe Saragat zur Folge, die aber als Minderheitsgruppierung jahrzehntelang nur eine untergeordnete Rolle der Unterstützung der christdemokratischen Regierungen spielte. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU und der öffentlichen Verurteilung der Verbrechen Stalins sonderte sich der PSI nach und nach von dem PCI ab und wandte sich mehr und mehr den Christdemokraten zu, mit denen er ein Bündnis anstrebte, welches dann zu den Mitte-Links-Regierungen der sechziger Jahre führte, aber auch zur Abspaltung des linken Flügels der Partei. Der 1964 gegründete PSIUP (Sozialistische Partei Italiens der proletarischen Einheit) blieb wie die sozialdemokratische Partei ebenfalls in der Minderheit, aber der PSI verlor an ihn einen beträchtlichen Teil der Gewerkschaftsfunktionäre. Die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erfolgte Wiedervereinigung des PSI mit der sozialdemokratischen Partei war nur von kurzer Dauer. Unter der Leitung Bettino Craxis wurde der PSI Regierungskraft, konnte sogar den Ministerpräsidenten stellen, schaffte es jedoch nicht, die Kräfteverhältnisse der italienischen Linken für sich zu entscheiden. Er verstrickte sich immer tiefer in lobbyistische Machenschaften und wurde zu einem der Hauptakteure des allgemeinen Korruptionsphänomens, bekannt unter dem Namen «Tangentopoli», was zum Untergang des politischen Systems der ersten Republik führen sollte: Die Folge

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hiervon war das Verschwinden des PSI als politische Kraft. Vergleicht man die Geschichte des italienischen Sozialismus nach 1945 mit den Spaltungen und misslungenen Wiedervereinigungen anderer sozialistischer Parteien Europas, kommt man nicht umhin, sie als eine Geschichte des Scheiterns zu bezeichnen. Eine der möglichen Erklärungen dieses Scheiterns ist, dass der politische Raum des demokratischen Sozialismus in Italien im Grunde durch eine kommunistische Partei besetzt wurde, die sich immer mehr von ihrer klassischen Identität (soll heißen dem stalinistischen Modell) entfernte und sich zunehmend dem sozialdemokratischen Modell annäherte. Der Fall der Berliner Mauer hat diesen Prozess, an dessen Ende der stärkste Block des alten PCI sich zuerst in eine Partei sozialdemokratischen Typs, den PDS (Linkspartei), und dann in die DS (Linksdemokraten) , eine Partei, angesiedelt auf halbem Weg zwischen einer sozialdemokratischen Partei und einer amerikanischen demokratischen Partei, wandelte, noch beschleunigt, während die Minderheit, die der traditionellen kommunistischen Identität treu blieb, sich abspaltete und mit anderen Minderheitsgruppierungen eine neue Partei ( Rifondazione communista) gründete.

In Frankreich wurde der demokratische Sozialismus unter der vierten Republik durch die schwierigen Ereignisse der Entkolonialisierung und der darauffolgenden Kriege, zuerst in Vietnam und dann vor allem in Algerien, geprägt. Das Mitwirken der SFIO an teilweise von Sozialisten geführten Koalitionsregierungen, die in diese Kriege, vor allem in den Algerienkrieg verwickelt waren, ist einer der Gründe für den langsamen Niedergang dieser Partei in den fünfziger und sechziger Jahren, während die sozialistischen Kriegsgegner die SFIO verließen und sich in einer anderen Partei, dem PSU (Sozialistische Einheitspartei), wiederfanden. Die Rückkehr de Gaulles an die Macht im Jahr 1958 und der Übergang zur fünften Republik beschleunigten diese Krise der SFIO und mündeten in verschiedene Wiederaufbau- und Erneuerungsversuche, die Anfang der siebziger Jahre dazu führten, das die jetzige sozialistische Partei unter dem ent-

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scheidenden Einfluss François Mitterrands gegründet wurde. Im Verlaufe dieses Jahrzehnts wusste der neue PS die Bestrebungen breiter Gesellschaftsschichten in Frankreich richtig zu deuten, und es gelang ihm nach und nach, das Kräfteverhältnis im linken Parteispektrum durch ein Wahlbündnis mit dem PCF, der seinem unumkehrbaren Verfall entgegen ging, für sich zu gewinnen. Die Rückbesinnung des PCF auf seine traditionelle, besonders vom Stalinismus geprägte Identität nach der kurzen Ära des Eurokommunismus hat den Aufschwung des PS erleichtert und ermöglichte es ihm, neue politische Räume zu besetzen. Das Ergebnis war, dass nach einer langen „Durststrecke„ durch die Wahl François Mitterrands zum Präsidenten der Republik 1981 die Rückkehr der Sozialisten an die Macht erfolgen konnte, nachdem die Rechte sie über zwei Jahrzehnte inne gehabt hatte. Die Regierungserfahrung hat die Sozialisten dazu geführt, ihre Vorstellungen zu den wirtschaftlichen und politischen Fragen grundlegend zu verändern. Man beobachtet diese Veränderung besonders beim Vergleich der jetzigen Regierung Jospin mit der ersten Regierung der Einheit der Linken von Mauroy im Jahr 1981. Die Vorstellung von Verstaatlichungen als wesentlichem und fundamentalem Instrument einer sozialistischen Wirtschaftspolitik wurde zu Gunsten eines Privatisierungsprogrammes aufgegeben, das, obwohl es die Vorstellung einer gemischten Wirtschaft, in der der Staat die Rolle des Regulators des wirtschaftlichen Prozesses übernimmt, nicht in Frage stellt, dennoch ein Zeichen des Vormarsches liberaler Ideen ist.

Was war nun die größte Veränderung im demokratischen Sozialismus in Frankreich und Italien seit 1945? Im Fall Italien wäre man versucht zu antworten: alles, denn es gibt ja keine sozialistische Partei mehr, die würdig wäre, diesen Namen zu tragen. 1945 war die SP noch eine durch die marxistische Ideologie stark geprägte Klassenpartei, sie hielt in ihrer Mehrheit an dem mit dem PCI fest. All diese grundsätzlichen Elemente verschwanden, noch bevor die Partei selbst jeden Einfluss verlor. Der PSI hat sich vom Marxismus und von dem Bündnis

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mit dem PCI entfernt und verlor immer mehr den Charakter einer traditionellen Arbeiterpartei, vermochte es aber nicht, sich eine neue, dauerhafte Identität zu geben. Der französische Sozialismus nach 1945 war eine einzige Baustelle. Einige Veränderungen ähnelten jenen in Italien: Rückgang des Arbeiterpartei-Charakters, der schon nicht ausgeprägt war, Entfernung von der marxistischen Ideologie. Das auffallendste Element war aber ohne Zweifel der Zyklus von Niedergang und Wiederaufstieg, der sich zwischen den Jahren 1950 und 1970 vollzog. Niedergang der alten SFIO, Suche nach neuen Wegen (PSU), intensive, politische Debatte, „Geburt„ und mächtiger Aufstieg des neuen PS. Die Strategie des Bündnisses mit den Kommunisten ermöglichte es ihm an die Macht zu kommen. Dieses Bündnis, das beschlossen wurde, als der PCF noch dominierend war, nutzte den Sozialisten mehr als den Kommunisten, es ist aber zu unterstreichen, dass der PS, der in der Wählergunst eindeutig vor dem PCF lag, es nur teilweise schaffte, den Raum auszufüllen, den er in der Gesellschaft belegen sollte. Der PS ist vor allem eine Wahlmaschine, seine Verwurzelung in der Gesellschaft ist schwach. Die Regierungserfahrung seit 1981 hat ihn beträchtlich verändert. Die augenfälligste Veränderung fand auf dem Gebiet der Finanzpolitik statt. Tatsächlich ging man zu einem gewissen Liberalismus über, der allerdings durch die französische Tradition des Interventionismus und der staatlichen Regulierung gemäßigt wurde. In dieser Hinsicht wurde die Grenze, die ihn von der Rechten noch Anfang der 80er Jahre trennte, zum Teil weggewischt. Weggewischt wurde auch die Idee einer Alternative zur aktuellen kapitalistischen Gesellschaft. Der PS schlägt Reformen, Neuordnungen der existierenden sozialen Ordnung vor, aber keine alternative Ordnung. Es muss jedoch angemerkt werden, dass das Verschwinden alternativer, auf eine radikale Veränderung der Gesellschaft ausgerichteter Projekte nicht allein den französischen PS betrifft. Es betrifft den gesamten demokratischen Sozialismus, aber auch die Überbleibsel der früheren kommunistischen Parteien: Nach dem Untergang der UdSSR,

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die für diese alternative politische und soziale Ordnung stand, und nach dem Ende des Eurokommunismus sind diese Parteien ohne Visionen und überleben, indem sie auf einen tatsächlichen sozialen Missstand hinweisen, dem sie aber keine wirkliche Alternative entgegensetzen können.

Der französische PS hat selbst im Lauf der letzten Jahre bewiesen, dass er die Fähigkeit besitzt, sich zu erneuern und qualifizierte Frauen und Männer an sich zu binden. Dass er als Gegner eine Rechte hat, die bei mehreren Gelegenheiten ihrem Ruf gerecht wurde, „die dümmste Rechte der Welt„ zu sein, machte ihm die Sache natürlich einfacher. Es stellt sich die Frage, ob die Partei fähig ist, außer kurzfristigen, einfachen Verwaltungsaufgaben politische Richtlinien als Antwort auf die augenblicklichen Veränderungen der Gesellschaft und den triumphierenden Neoliberalismus zu finden. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der PS eine der wichtigsten französischen politischen Kräfte bleiben wird und auf jeden Fall die dominierende Kraft in der Linken.

Ganz anders ist die Situation in Italien, wo das Durcheinander und die Ungewissheit die wichtigsten Merkmale der aktuellen politischen Szene sind. Über vier Jahrzehnte lang war die italienische Politik bemerkenswert stabil. Vor zehn Jahren waren die politischen Kräfte noch die gleichen wie kurz nach dem Krieg: drei große Parteien (Christdemokraten, PCI, PSI) und andere weniger wichtige Gruppierungen des Zentrums oder der Rechten (Republikanische Partei, Sozialdemokratische Partei, Liberale Partei), oft mit den Christdemokraten verbündet, ständige Achse des politischen Lebens in Italien, sowie am Rande eine neofaschistische Partei, die Soziale Bewegung. Wahlen veränderten das relative Gewicht der Parteien zueinander, also deren Kräfteverhältnis, aber nie das allgemeine Schema. Durch den Fall der Berliner Mauer und durch die gerichtlichen Maßnahmen gegen die allgemeine Korruption wurde dieses Schema aufgehoben. Durch das Ende des Kommunismus verlor die christdemokratische Partei die einzige Rechtfertigung zur Macht, d.h. die Angst

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vor dem Kommunismus. Die nachlassende politische Macht verschaffte der Justiz einen größeren Aktionsradius als vorher, als viele Untersuchungen blockiert wurden. Die Krise des alten Parteiensystems und dessen Untergang waren die Folge. Eine Reihe von Kettenreaktionen schloss sich an, und nichts blieb intakt. Gleichzeitig wurden neue politische Kräfte gestärkt, die populistisch, ja manchmal sogar rassistisch ausgerichtet waren, und die neofaschistische Partei wurde zum ersten Mal seit 1945 Regierungspartei. In diesem Panorama von Ruinen und Baustellen, in dem die alte sozialistische Partei nicht mehr zu sehen ist, beanspruchen mehrere Strömungen den demokratischen Sozialismus für sich, angefangen mit der Mehrheit des früheren PCI, doch die Perspektiven bleiben konfus: Die italienische Linke ist nicht am Ende ihrer Identitätskrise.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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