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TEILDOKUMENT:


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Helga Grebing
Sozialismus im 21. Jahrhundert - Programmatische Konturen


I.

Was heißt Sozialismus? Und das auch noch im 21. Jahrhundert? Wäre die Frage so gestellt, als sei sie eine Aufforderung zu einer Definition, müsste man ehrlicherweise kapitulieren. Dogmatismus ist mega-out, Beschreibungen und Abgrenzungen jedoch angesagt, könnte es doch darum gehen, soziale Ideen, die in den historischen Kontexten des Sozialismus entstanden sind, mit dem aktuellen sozialdemokratischen zivilgesellschaftlichen Projekt zu verknüpfen.

Sozialismus ist nicht Kommunismus. Dennoch wird immer noch, oft wider besseres Wissen, der Sowjetkommunismus, seine Wirtschaftsweise und seine Herrschaftsformen, „dem„ Sozialismus zugerechnet. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts trennten sich jedoch zwei Strömungen voneinander - Sozialismus und Kommunismus -, die ursprunghaft aus den gleichen Quellen geschöpft hatten, und spätestens in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Trennungslinien gezogen: Sozialismus ist kein geschlossenes System, keine bloße Vision, keine gefährlich verlockende Utopie, auch keine geschichtliche Notwendigkeit, wohl aber ein geschichtlich unterfütterbarer Sinnhorizont und ein alternatives regulatives Prinzip gegenüber dem real existenten Kapitalismus in Transformation. Sozialisten, die diese Auffassung vertraten und heute noch vertreten, fügten deshalb wegen des nachhaltig vertretenen falschen Anspruchs der Kommunisten, „den„ Sozialismus zu vertreten, ihrem Verständnis des Sozialismus das Wort bzw. den Begriff „demokratisch„ hinzu, was eigentlich eine überflüssige Verdoppelung war und ist. Versuche, zu beschreiben, was demokratischer Sozialismus bedeutet, gibt es Legionen. Einer sei zitiert, der von Willy

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Brandt aus dem Jahre 1949, der heute noch - wie ich meine - als gültig angesehen werden kann: „Der demokratische Sozialismus ist ein in sich nicht abgeschlossenes System von Vorstellungen über eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sein formuliertes Programm wird immer nur die Summe gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugungen in einer bestimmten Periode entsprechend dem jeweiligen Grad wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Aber diesen sich weiterentwickelnden grundsätzlichen Überzeugungen liegt eine gemeinsame Lebensanschauung zugrunde. Sie fußt auf dem Bekenntnis zur Freiheit und zum Humanismus, zum Rechtsstaat und zur sozialen Gerechtigkeit.„ [Willy Brandt, Rede auf dem VI. Landesparteitag der Berliner SPD, 8. Mai 1949, in: ders., Berliner Ausgabe, hrsg. von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler, Bd. 4, bearbeitet von Daniela Münkel, Bonn 2000, S. 99-130, Zitat S. 129; siehe auch Helga Grebing, Willy Brandt - Ein Leben für Freiheit und Sozialismus (Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, H. 4), Berlin 1999.]

II.

Wer die Auffassung vertritt, dieses Verständnis von demokratischem Sozialismus sei heute noch verbindlich und könne politisch-programmatisch konkretisiert werden, muss erst einmal klären, auf welche historisch-konkrete Situation diese Auffassung trifft und wie diese interpretiert wird. Der Begriff des demokratischen Sozialismus wird auch heute wieder von jenen reklamiert, die den Verlierern des einst als emanzipatorisch in die Welt getretenen Sozialismus zuzurechnen sind; dem kann man theoriegeschichtlich und politisch-praktisch vehement entgegentreten. Schwieriger ist es schon, mit jenen fertig zu werden, die den Begriff des demokratischen Sozialismus bereitwillig, überwiegend aus politisch-taktischen Gründen, sich schen-

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ken wollen: „soziale Demokratie„ macht’s doch auch, da doch „der„ Kapitalismus gesiegt habe.

Demgegenüber war und ist mein Einwand, dass dieser in seiner bisher gekannten Form vielleicht nur übriggeblieben sein könnte - als Restmenge einer globalen politisch-ökonomisch-ökologischen Wende - und dass es folglich darauf ankäme zu versuchen, die Grundpositionen und programmatischen Konturen des demokratischen Sozialismus, gedeckt durch die Summe seiner geschichtlichen Evolution, erneut zu begründen. Damit könnte die theoretische und die praktische Phantasie ermuntert werden, „Perspektiven für eine neue Gesellschaft zu entwickeln„, wie es Oskar Negt ausdrückt. [Oskar Negt, Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Frankfurt a.M. 1998 (Erstausgabe Göttingen 1995), S. 161, 166; vgl. auch ders., Globalisierung und das Problem menschlicher Risiken. Ideologiekritische Anmerkungen zu den Modernisierungstheorien von Ulrich Beck und Anthony Giddens, in: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Illusion der neuen Freiheit. Realitätsverleugnung durch Wissenschaft (Kritische Interventionen, H. 3), Hannover 1999, S. 11-51.]
Ob dadurch, wie dieser erwartet, ein Gesellschaftsentwurf das Licht der Welt erblickt, „in dem die heutigen Erfahrungen, Hoffnungen und Lebensansprüche der Menschen zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden„ können, scheint mir in dieser von Negt gedachten Form zweifelhaft. Dies ist zu begründen.

Die bis zuletzt gehegten Vorstellungen von der Machbarkeit des Sozialismus als geschlossenes, theoretisch begründbares gesellschaftliches System oder gar als gesellschaftlicher Endzustand sind von der Geschichte desavouiert; es gibt auch kein Bild mehr vom „neuen Menschen„; die ökonomistischen Verengungen des Projekts Sozialismus sind historisch und theoretisch obsolet; die Elemente des traditionalistischen Etatismus und seine Wirkungen in der europäischen Sozialdemokratie sind instrumentell allein nicht mehr konzeptionell tragfähig.

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Was bleibt also vom demokratischen Sozialismus? Zumal unter dem Gesichtspunkt der historisch belegbaren Einsicht, dass die Problemstellungen und Herausforderungen, die uns heute bedrängen, bereits seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts erkennbar waren und teilweise auch erkannt worden sind. Doch wurden diese Herausforderungen nicht angenommen. Die europäische Arbeiterbewegung fand nicht zu einer globalen Ausdehnung ihrer Aktionsräume; sie wurde auch keine europäische Arbeiterbewegung, sondern blieb bestenfalls Arbeiterbewegung in Europa, die im wesentlichen im angestammten nationalstaatlichen Rahmen agierte, d.h. das Projekt „demokratischer Sozialismus in einem Land„ zu verwirklichen trachtete. Die ganze jahrzehntelange Diskussion in der deutschen Sozialdemokratie über den freiheitlichen Sozialismus hatte etwas von Fichtes ‘geschlossenem Handelsstaat’. Heute kämen wir einen gewaltigen Schritt weiter, wenn es gelänge, die fundamentalen substantiellen Werte menschlicher Würde in einem demokratischen Ansprüchen genügenden stabilen gesellschaftlichen Steuerungskonzept zu verankern, das auf die Gleichzeitigkeit von nationalstaatlichen Bindungen, transnationalen Vernetzungen und globalen Interdependenzen antwortet.

III.

Doch sind wir davon noch weit entfernt. Es gilt vielmehr als vermessen, über den Tag hinaus denken zu wollen. Verbreitet ist die Hoffnung, die Flucht ins virtuelle Nichts werde von der sozialmoralischen Anforderung befreien, sich der Aufgabe anzunehmen, ein menschenwürdiges Leben für möglichst viele Menschen zu gestalten. Noch nie haben sich so viele Menschen so intensiv auf die Suche nach individuellen Glückserlebnissen begeben wie heute.

Die rapide Entwertung kollektiver Ausdrucksformen der Vergangenheit wird von Anthony Giddens und Ulrich Beck fast

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genüsslich zelebriert [Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a.M. 1997; ders . , Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1999; Ulrich Beck, Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt a.M. 1999; kritisch dazu: Negt, Globalisierung und das Problem menschlicher Risiken.] , weil sie angeblich ein Zuwachs an individueller Freiheit und persönlicher Gestaltungsmacht bedeutet; aber dem folgt unheimlich schnell der Wechsel von einst voller Stolz für die sozialistische Bewegung reklamierten Grundwerten: von - wie Heinz Bude erklärt - Solidarität zu Verantwortung, „und zwar im Sinne der Verantwortung für einen selbst (...).„ [Vgl. Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude. Arbeit im semantischen Raum. Schröder, die Bürgergesellschaft und die SPD, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (NG/FH), Jg. 47, 2000, H. 9, S. 520-526, Zitat S. 524.]
Gesucht wird Richard Sennetts flexibler Mensch, der sich in der veränderten, nur den Marktgesetzen gehorchenden Arbeitswelt bewähren kann. So auch Herbert Giersch euphorisch: „Auf mittlere Sicht hat bei zunehmender Spezialisierung jedes Individuum, das Arbeit sucht, seinen eigenen Markt, fast so, als sei es ein selbständiger Unternehmer.„ Die Bio-Soziologie kartet nach, indem sie die naturwissenschaftliche Begründung für die Notwendigkeit des Konkurrenzkampfes auf allen Arenen sozioökonomischer Beziehungen liefert. Hobbes’ „Kampf aller gegen alle„ ist hier „in„ und katapultiert uns in die Vor-Aufklärung bzw. in den sozialdarwinistischen Manchester-Kapitalismus zurück. [Vgl. zum Vorstehenden: Nachwort, in: Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus - Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 2000, S. 1104-1112.]
Dazu passt, dass die Wissenschaft vor allem im Bereich der Bio- und Informationstechnologien der aufs Diesseitige fixierten säkularen Gesellschaft „davonläuft„ und Ethikern sich

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die Frage aufdrängt [Vgl. Dietmar Mieth, Ethik angesichts der Beschleunigung der Biotechnik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 33-34/2000, S. 3-9.], wo denn angesichts der normativen Kraft des Faktischen und der Fiktionen das von dem Philosophen Hans Jonas eingeforderte „Prinzip Verantwortung„ bleibt. Dass man es offensichtlich suchen muss und nur hoffen kann, dass es nicht verlorengegangen ist, hängt seinerseits mit einer Fiktion zusammen: Die Einforderung von Selbstbestimmung, die das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts beherrschte, ist hilfloser Anpassung gewichen.

Was anderes aber, so fragt man sich, soll denn der Mensch tun, als zu versuchen, sich anzupassen an die rasend verlaufende Wertabnutzung, wenn z.B. Sony (worauf Jeremy Rifkin hinweist) innerhalb eines Jahres 3.000 Produkte auf den Markt wirft, darunter einige mit einer Lebensdauer von 90 Tagen? [Vgl. Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt a.M. 2000; vgl. auch Andrian Kreye, „Die Zukunft und ihr Tauschwert„, in: Süddeutsche Zeitung v. 23.8.2000, S. 18; Mathias Greffrath, „Die neuen Barbaren„, in: Die Zeit, Nr. 40 v. 28.9.2000, S. 51f.]
Das verwirrende Tempo des Wandels führt zu einem bisher nicht gekannten rasanten Verschwinden der menschlichen Entscheidungsspielräume. Und so sieht schließlich das arme Leben in der schönen neuen Welt aus: keine Zeit, keine Kraft, keine Ruhe für Familie, Freunde, kulturelle Werthorizonte jenseits von Angebot und Nachfrage. Aus objektiven Möglichkeiten lassen sich keine subjektiv sinnvollen Chancen mehr ableiten, weder für die vielen einzelnen noch für ganze Gruppen (wie z.B. die Langzeitarbeitslosen), die einfach im rasenden Zug der totalen Entgrenzung von Raum und Zeit vergessen, abgehängt, ausgegrenzt werden.

Dies zeigt auch die seit mehr als einem Jahrzehnt sich hilflos durch die Öffentlichkeit quälende Diskussion über die Bedeutung von Arbeit und Nichtarbeit: Hat nun die Arbeit noch eine

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Zukunft oder gibt es überhaupt eine Zukunft ohne Arbeit? Da gibt es, um nur drei Beispiele zu nennen, André Gorz’ Utopie von der (von Arbeit im klassischen Sinne, also Erwerbsarbeit) befreiten Zeit, die durch den objektiv aufgezwungenen Verzicht auf Vollbeschäftigung entstanden ist; in dieser befreiten Zeit werden Kultur und Gesellschaftlichkeit durch die Kraft einer moralischen Revolte „das Ökonomische„ überwinden; oder Ulrich Becks Traum von der freien Bürgergesellschaft, in der die Erwerbs- bzw. Arbeitsgesellschaft in eine Tätigkeitsgesellschaft umdefiniert wird; hier wird parallel oder alternativ zur alten Normalarbeit die neue „Bürgerarbeit„ durch „Bürgergeld„ nicht ent-, sondern belohnt; oder Johano Strassers Konzept, in dem Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit von Männern und Frauen untereinander zeitlich begrenzt und im Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen geteilt wird. Solchen Modellen steht die nicht wegzudiskutierende Einsicht aus fast allen empirischen Untersuchungen gegenüber, dass nach wie vor die Erwerbsarbeit einen unübersehbar hohen Rang im Leben der Menschen einnimmt, jedenfalls in den ehemals klassischen Industriegesellschaften. Nur welche Konsequenzen aus dieser Einsicht im Kontext der weltweiten rasanten technisch-ökonomischen Wandlungsprozesse zu ziehen sind, darüber erfährt man so gut wie nichts. [Vgl. Helga Grebing, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil II, in: dies. (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, S. 585-593.]

Dies hängt damit zusammen, dass die alte Spannung zwischen Kapital und Arbeit längst durch ökologische Systembrüche überlagert worden ist. Die aktuellen Umweltzerstörungen haben - so argumentiert Hans-Joachim Höhn [Vgl. Hans-Joachim Höhn, Die Natur der Gesellschaft. Bausteine einer Ökologischen Sozialethik, in: APuZ, B 33-34/2000, S. 17-24.] - eine Eingriffstiefe und ein Ausmaß erreicht, „das zu einer dauerhaften, irreparablen und großräumigen Gefährdung der elementaren Lebensbedingungen des Menschen führen kann„. Selbst wenn der Mensch auf dieser Erde heute bereits in der Lage ist, alles Natürliche

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(einschließlich sich selber) technisch zu reproduzieren, naturidentisch herzustellen und Natur in dem Sinne zu beherrschen, wie es einst Marx zu denken vorgegeben hat, dass der Mensch die Natur als Ressource für seine Überlebenssicherung betrachten kann, bleibt dennoch ein unauflösbares Problem: Und dieses Problem heißt die Endlichkeit der Tragekapazität der ökologischen Grundausstattung der Erde und der aus ihr resultierenden ökologischen Systeme. Das kann ja nur bedeuten, dass der Mensch bei Strafe seines Untergangs, seines „Sich-selbst-zunichte-Machens„, lernen muss, seine ökonomischen und technischen Funktionssysteme in die Netzwerke der Natur einzupassen: Wo Natur nicht mehr ist, kann sie auch nicht reproduziert werden.

Vorausgesetzt, diese Einpassung gelänge, bliebe die Frage offen, ob die Globalisierung nicht eine eminente Gefahr für die demokratischen Steuerungssysteme und –prozesse darstellt. Selbst dann bleibt diese Frage virulent, wenn man ‚Globalisierung‘ differenziert betrachtet, wie Friedhelm Hengsbach vorschlägt [Vgl. Friedhelm Hengsbach, „Globalisierung„ - eine wirtschaftsethische Reflexion, in: APuZ, B 33-34/2000, S. 10-16.]: Die Reichweite der internationalen Handelsverflechtung ist nicht global; die internationalen Finanzmärkte sind es sehr wohl, und die Formen der Produktionssysteme sind gleichzeitig global und vielfältig. Das Demokratie-Defizit liegt nämlich darin, dass die ökonomischen Prozesse ein Tempo und ein Ausmaß erreicht haben könnten, mit denen die üblichen Mechanismen der politischen Kontrolle über sie und ihre Auswirkungen nicht Schritt halten können. Statt Synergie-Effekte entstehen Chaos-Potentiale und aus der gewaltigen Konzentration wirtschaftlicher Macht ohne feste räumliche Zuordnung eine unkontrollierbare Wirkungsmacht, die u.a. jetzt schon zu massiven Umverteilungen im Weltmaßstab geführt hat. So mental überzeugend ich persönlich Jürgen Habermas’ Argumentation finde, dass Demokratie nicht prinzipiell einer mentalen Verwurzelung

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in der ‚Nation‘ als vorpolitischer Schicksalsgemeinschaft bedarf, so überlegenswert finde ich die Erwägung, ob nicht staatsbürgerliche Solidarität als Voraussetzung für den Willensbildungsprozess in der Demokratie ein gewisses Maß an Identifikation braucht, wobei es entscheidend auf die sozialmoralische integrative Qualität dieser Identifikation ankäme; vielleicht in dem Sinne, wie es Bundespräsident Johannes Rau formuliert hat: ein Gemeinwesen zu bilden, in dem wir Menschen ohne Angst verschieden sein können.

IV.

Wenn es für Sozialdemokraten Aufgabe bleibt, wie es neulich Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Essay über „die zivile Bürgergesellschaft„ formulierte [Vgl. Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: NG/FH, Jg. 47, 2000, H. 4, S. 200-207.] , eine „lebenswerte Gesellschaft„ zu gestalten, in der Gerechtigkeit und Beteiligung, Solidarität und Innovation bestimmend wirken und ein neues Bürgerbewusstsein über mehr Eigenverantwortung zu mehr Gemeinwohl führt, so wird man fragen müssen, ob die Sozialdemokratie - gemessen am Stand der programmatischen Reflexionen - da schon auf dem treffenden Wege ist.

Der Anspruch, alles „neu„ machen zu wollen, wirkt eher hilflos: „Neue Mitte„ (die es schon mehrfach in der Geschichte der Sozialdemokratie gegeben hat, angefangen bei August Bebel und weitergeführt von Willy Brandt) und auch sonst noch manches „Neue„, das entbehrt der präzisen Analyse und dient ohne diese nur der Bedeutungssteigerung von Ladenhütern. Ein inhaltsarmer internet-trächtiger Praktizismus - so kündigt das Sekretariat des geschäftsführenden Vorsitzenden der Programmkommission der SPD an, dass Gästebücher, Foren und Chats Beteiligungsmöglichkeiten an der Programmdiskussion für Mit-

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glieder und Nichtmitglieder eröffnen sollen - läuft im modischen Trend liegend auf die Auflösung eines angedachten gesellschaftlichen Ganzen hinaus, dessen Reflexion man sich nicht mehr zutraut. Wir kennen alle die Topoi: Protestgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft und dergleichen.

Die Beschreibung der offenen Gesellschaft der „Neuen Mitte„ gleicht, obwohl der Bezug auf Karl Popper offensichtlich ist, eher einem Phantom, zu dem man sich die „Neue SPD„ ausdenkt. Grundlage der Reflexionen sind m.E. prinzipienloses Zurückhangeln in die bereits seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von den Extrem-Liberalen Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke und Friedrich von Hayek militant vertretene Auffassung, dass es jenseits der liberalen Wirtschaftsverfassung und einer gewinnorientierten Marktökonomie kein freiheitlich-demokratisches politisches System geben könne. [Im folgenden beziehe ich mich vor allem auf den Beitrag von Wolfgang Bruckmann, Weltanschauliche Revision überfällig. Leitlinien für die sozialdemokratische Debatte über das Berliner Programm, den „Dritten Weg„, die zivile Gesellschaft und den Umgang mit der PDS. Vorschläge für die Diskussion in der SPD, April 2000, download unter: www.ndh.net/home/bruckmann. Der Verfasser dankt „Matthias Bucksteeg (Bundeskanzleramt) für die kritische Durchsicht des Manuskripts„.] Vergessen ist nicht nur das Horkheimersche Diktum, dass, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen kann. Vergessen ist auch, dass der den Kapitalismus ideologisch tragende Liberalismus per se keine sozialen Ideen hervorbringen kann und hervorgebracht hat, weil für ihn Macht, Wettbewerb und verständige Egoisten die Grundlage einer unverrückbaren natürlichen Ordnung sind. Wie aber „Individualismus und Demokratie„ auf einer kapitalistisch verfassten ökonomischen Basis von einem sozialdemokratischen Konzept der „sozialen Demokratie„ gestaltet werden kann, bleibt das Geheimnis der Erfinder einer an-

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geblichen Konvergenz von Kapitalismus und sozialer Gerechtigkeit.

In dieses Szenario passt, wie nach alt-konservativer Abstrafungsmanier ‘der’ Sozialismus als gescheitert deklariert, ja totgesagt wird; historische Differenzierungen werden nicht zur Kenntnis genommen; Begriffe wie „soziale Demokratie„, aber auch „Neue Mitte„ und „Dritter Weg„ werden ihres historischen Kontextes entkleidet. So war „soziale Demokratie„ ja kein Entwurf einer alternativen Gesellschaftsform und galt lediglich als Ergänzung der für unzulänglich gehaltenen „politischen Demokratie„, und es waren nun gerade die sozialdemokratischen Linken, die darauf pochten. „Dritter Weg„ bedeutete eindeutig, einen Weg zu gehen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, und dies war der demokratische Sozialismus. Ohne jegliches analytisches Fundament erlaubt dann die Absage an eine differenzierte Wahrnehmung von Sozialismus, das ultimative Revisionsgebot auszusprechen: das von der „Unvereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie„. Auf diese Weise ‚gelingt‘ es dann, ganze Staffeln von sozialdemokratischen Programmen außer Kraft zu setzen. August Bebels Doppelwarnung ist vergessen: Sozialismus ohne Demokratie wird Kasernen- und Parteisozialismus; Demokratie ohne Sozialismus ist Manchestertum.

Insbesondere das Berliner Programm der SPD von 1989 muss daran glauben. Ihm wird unterstellt, es sei überholt, und eine „weltanschauliche Revision„ sei überfällig. Unbegriffen bleibt dabei, dass das Berliner Programm gar keine ‚Weltanschauung‘ transportiert – eben gerade nicht – im Sinne einer umfassenden, womöglich systemorientierten Vergewisserung. Das Berliner Programm bot vielmehr eine akzeptable Möglichkeit zur Fixierung von Grundpositionen der demokratisch-sozialistischen Überlieferung. Dass es heute in wichtigen Punkten als defizitär betrachtet werden muss, kann niemand leugnen. Da hat jedoch die SPD ganz zu Recht in ihrer programmatischen Tradition zwischen Grundsatz- und Aktionsprogramm unterschieden und Kurt Schumacher 1946 davor gewarnt, unter analytisch unge-

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klärten Bedingungen eine Programm-Debatte zu eröffnen, womöglich eine, die jahrelang dauert. Auch hier hat die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie Warnsignale parat: Der Orientierungsrahmen war einer der besten programmatischen Ansätze – als er fertig war, hatten ihn die Zeitläufte schlicht überholt. Im übrigen bringt es nichts, immer wieder die „olle Kamelle„ eines angeblichen Widerspruchs zwischen sozialistischem Programm und sozialdemokratischer Politik heranzuziehen: Seit dem Erfurter Programm von 1891 waren dies immer zwei Seiten einer Medaille.

Methodisch höchst problematisch ist die Absicht, die angebliche Weltanschauung des Berliner Programms durch eine neue ersetzen zu wollen, eben die der „sozialen Demokratie„ als zivilgesellschaftliches Projekt. Diese „Utopie„ soll dann die weltanschauliche Grundlage des „Dritten Weges„ sein. Weltanschauung – das ist totalitarismus-verdächtig und historisch obsolet. Aber abgesehen davon: Wenn ein Projekt eine Utopie ist, dann kann man es als real relevant gleich vergessen.

V.

Zu Recht wird darauf verwiesen [Mathias Brodkorb, Repressive Modernisierung mangels Arbeit?, in: NG/FH, Jg. 47, 2000, H. 7/8, 459-462. ] , dass Gerhard Schröders Projekt der modernen sozialdemokratischen Zivilgesellschaft zentrale Gedanken von Beck und Giddens aufgenommen hat; dennoch bleiben wesentliche Unterschiede zu registrieren: Erwerbsarbeit bleibt der Kern, Ehrenamt bzw. Bürgerarbeit sind lediglich Zusätze, wenngleich zur Rekonstruktion des Arbeitsmarktes nichts gesagt wird. Der Staat erscheint bei Schröder zwar nicht mehr „als das beste Mittel, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen„, insofern haben wir es mit einem Abschied vom klassischen sozialdemokratischen Etatismus zu tun. Aber der Staat soll offenbar eine neue Rolle erhalten: Er soll zwar als Sozial-

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staat wie bisher kritische Lebenslagen (wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit) absichern, aber er muss nun auch riskante Übergänge im Lebens- und Berufsweg vor allem junger Menschen unterstützen. Er muss anders als bisher nicht mehr überwiegend über Behörden agieren, sondern in lokalen und regionalen Netzwerken gegenwärtig sein, wie denn auch „die zivile Bürgergesellschaft sich am ehesten in der eigenen Kommune, im eigenen Stadtviertel manifestiert„.

Die sich hier andeutende, nicht unproblematische Auflösung der Trennung von Staat und Gesellschaft, um die einst die bürgerliche Gesellschaft gerungen hat, bedarf noch im Hinblick auf ihre Wirkungen der analytischen Durchdringung. Auch ist ‘bürgerliche Gesellschaft’, aus der das Projekt der „zivilen Bürgergesellschaft„ hervorgegangen ist, nur noch symbolisch, aber nicht mehr eindeutig historisch-konkret zu verorten. Auch hier läge es nahe, noch einmal nachzuvollziehen, wie und warum die Arbeiterbewegung in Europa zum Träger der genuin liberalen Ideen geworden ist, während die Protagonisten der ‘bürgerlichen Gesellschaft’ diese in dialektischer Wendung der Aufklärung, die sie einst hervorgebracht hat, in ihr Gegenteil verkehren konnten: bis hin zur totalitären Gesellschaft des „total-autoritären Staates„. [ Hier lohnt es, zur Kenntnis zu nehmen, was Herbert Marcuse 1934 in Paris geschrieben hat: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a.M. 1965, S. 17-55.]

Das Projekt der sozialdemokratischen Zivilgesellschaft passt sich ein in neue Entwicklungen, auf die Jeremy Rifkin aufmerksam gemacht hat, wenn er vom „Verschwinden des Eigentums„ spricht. Dies will er nicht so verstehen, dass es keinen Besitz mehr gibt; wohl aber macht es in einer Welt, die permanent aktualisiert wird und in der Neuanschaffungen innerhalb kurzer Zeit zu Schrott werden, zunehmend weniger Sinn, irgend etwas besitzen zu wollen. Deshalb verwandeln sich Güter in Dienst-

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leistungen bzw. Nutzungsnetzwerke und Dienstleistungen in erwerbbare Erfahrungen. Rifkin sieht im Kontext dieser Entwicklung den Unterschied zwischen rechts und links weiter verschwimmen: Da werden sich das Lager der Kulturessenzialisten (derjenigen, die die von sekundären Institutionen kolonialisierte Kultur wieder autonomiefähig machen wollen) und das Lager der Kommerzialisten gegenüberstehen (derjenigen, „die jedes Verhältnis und jede Maßnahme ökonomistisch interpretieren, rein nach globalen Nutzen-Maximierungs-Strategien„). Dazu passt die Auffassung des britischen Historikers Eric Hobsbawm, selbst ein Sozialist aus der marxistischen Tradition. Er vermutet, „dass die Debatte, die den Kapitalismus und den Sozialismus als sich gegenseitig ausschließende, konträre Gegensätze darstellte, von künftigen Generationen nur als Relikt der ideologischen kalten Religionskriege des 20. Jahrhunderts gesehen wird„. [Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 694; vgl. ders., Das Gesicht des 21. Jahrhunderts, München/Wien 2000.]

Und was bleibt vom Sozialismus? Da ist, wie z.B. bei dem katholischen Theologen Hans Küng, viel die Rede von der Notwendigkeit, die gegenwärtige Orientierungskrise durch einen weltweiten Bewusstseinswandel zu bewältigen (wie es einst bei der Friedens- und bei der Frauenfrage der Fall war). Der Theologe ist davor gefeit, die Frage nach dem Sinn der Sinnfrage stellen zu müssen: Den letzten Lebenssinn können er und die, die ihm folgen, durch Gott erfahren, sagt er. Und was tut der, der säkularisiertem Denken den Vorzug gibt? Es ist christliche Überzeugung, dass jeder für sich und seine Entwicklung, aber gleichzeitig auch für die seiner Mitmenschen verantwortlich ist; diese Brücke kann auch derjenige betreten, der sich der in der Aufklärung wurzelnden demokratisch-sozialistischen Überlieferung verpflichtet sieht. Geht es doch darum, darauf zu bestehen und danach zu handeln, dass zum Entwurf des Menschen und

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des Menschlichen die Selbstverpflichtung gehört, Leben zu achten und in Würde zu leben und leben zu lassen.

Das klingt sehr, wenn nicht zu allgemein. Aber seit „soziale Ideen„ im uns geläufigen modernen Sinn diskutiert werden, geht es um diese Perspektive, die ihrerseits die Konturen einer sozialistischen Programmatik bestimmt hat. Es bemühen sich zwar viele darum zu beweisen, dass im 21. Jahrhundert alles anders sein wird; aber soziale Ideen sind ja keine Denksysteme, auch keine tragfähigen Gedankengebäude, denen man zustimmen oder die man verwerfen kann. Sie sind in der Regel Wertorientierungen, Deutungsmuster, handlungsbezogene Vorstellungshorizonte, auch Denkstile, die gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Wandlungen beschreiben, begleiten, einfordern. Und da soziale Realität nicht per se existiert, sondern stets nur in der Wahrnehmung der in sie eingeschlossenen und von ihr beeinflussten Menschen und den reflektorischen Formen dieser Wahrnehmung, werden „soziale Ideen„, die dem Sozialismus zugerechnet werden können, auch im 21. Jahrhundert ihre Bedeutung finden.

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