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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:57] Diskussion
Stefan Berger: Ich fand beide papers sehr anregend und habe viel daraus gelernt. Ich werde mich auf einige kritische Einwürfe beschränken. Zu Klaus Tenfeldes Vortrag einen größeren Einwand und zwei kleinere. Was die Typenbildung anbetrifft: Ich habe selbst in der Vergangenheit auch Typenbildung betrieben. Mir ist aber jetzt noch einmal aufgefallen, dass Typenbildung natürlich nicht nur, und vielleicht noch nicht einmal vorrangig, dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn geschuldet ist, sondern auch immer Fragen der Geschichtspolitik mit hineinspielen. Mir schien gerade bei diesem Typenaufriss Tenfeldes Nord- und Westeuropa klar als Zielperspektive durchzuscheinen. Dies wirft im Prinzip die Frage auf, ob somit nicht auch über 1990 hinweg eine Art von sozialdemokratischer Parteigeschichtsschreibung konserviert wird, wie sie nach 1959 in der Bundesrepublik zum Standard geworden ist, nämlich sozusagen von der Bad Godesberger Perspektive rückwärts alles das aus der Sozialdemokratie herauszuschreiben, was nicht mehr in diese reformistische Perspektive passt. Zwei kleinere Punkte: Zum einen, was das britisch-deutsche Verhältnis betrifft, bewunderte man auch umgekehrt unter vielen deutschen Sozialdemokraten die, wie man gerade auf der reformistischen Seite meinte, ideologiefreiere Labour Party. Erinnert sei u.a. nur an Egon Wertheimer. Nun zu einem weiteren Punkt. Ganz zu Beginn: keine postkommunistische Erneuerung des sozialistischen Geschichtsbildes. Das ist nicht ganz verwunderlich, wenn man etwa an die doch recht radikale Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft oder der DDR-Humanwissenschaften insgesamt denkt. Da ist ja einfach keiner mehr, der institutionell die Rückendeckung hätte, um wissenschaftlich etwas entwickeln zu können. Und zumindest von außen, also aus Großbritannien, betrachtet, ist m.E. in der PDS eine zum Teil erstaunliche Erneuerung sozialistischer Gedanken gelungen. [Seite der Druckausg.:58] Eine kurze Bemerkung zu Helga Grebings Vortrag. Mir war nicht ganz klar, was Sie zu Beginn sagten, nämlich dass der Liberalismus kein eigenständiges Reformpotential entwickeln könnte. Ich denke, gerade aus Großbritannien kommt etwa ein new liberalism, gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Darin scheint mir doch im Prinzip ein sehr eigenständiges Reformpotential zu stecken, auf das gerade auch Toni Blair wieder zurückgreift. Wenn ich an Blair denke oder im wissenschaftlichen Bereich an Herbert Kitschels Begriff des liberal socialism, so gibt es dort gerade die Verbindung von Liberalismus und Sozialismus. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch eine radikale Kapitalismuskritik notwendig ist, und Sie selbst sprachen ja auch von der Spannung zwischen Programm und pragmatischer Politik. Für eine sozialdemokratische Regierungspolitik innerhalb des Kapitalismus kann sie allerdings, wie ich meine, kein Leitfaden sein, und daher möchte ich vielleicht auch wieder aus allzu britischer Perspektive die Frage stellen, ob man nicht gerade in Deutschland die Programme etwas weniger ernst nehmen sollte. Bo Strå th: Ich möchte auch ein paar Fragen zur Typisierung stellen. Klaus Tenfelde, wenn ich dein Bild interpretiere, sehe ich immer eine Konvergenz. Es war ein sehr differenziertes Bild am Anfang des Jahrhunderts oder zum Zeitpunkt des Übergangs zur Industrialisierung, und dann kamen eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg nur starker Sozialstaat bzw. auf der anderen Seite Kommunismus. Ab 1990 gab es nun überall schwache Sozialstaaten und schwache Sozialdemokratien usw. Was bleibt dann von diesen historischen Fragen, die am Anfang so wichtig waren? Wo bleiben Konfessionen, Zeitpunkt der Industrialisierung usw.? Von dieser Frage leite ich über zu Helga Grebings Perspektive: Welche Elemente bleiben, mit denen man eine neue Welt [Seite der Druckausg.:59] darstellen kann? Was ist rekonstruierbar? Das ist nämlich klar in dieser sehr wichtigen Phase, in der beide Vorträge sich sozusagen begegnen. Heinz Timmermann: Ich habe zwei kleine Fragen an Klaus Tenfelde und eine etwas vielleicht weiterführende Frage an Helga Grebing. Die Herausbildung des Milieus und die daraus entstehenden Entwicklungen fand ich sehr interessant. Mich interessiert etwas mehr im Detail die Situation während und nach dem Ersten Weltkrieg, in der wir ja eigentlich die schärferen Kämpfe nicht hatten zwischen Sozialdemokratie, sozialdemokratischem Milieu und katholischem Milieu, sondern zwischen den beiden Milieus der Arbeiterbewegung, dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen, wobei mir das auch widersprüchlich zu sein scheint. Wir wissen, dass es vielfach an der Basis, in den Kommunen usw. dann doch immer noch die Nostalgie, den Drang zur Gemeinsamkeit gegeben hat, aber auf der anderen Seite eben, teils von oben herab, teils aber auch aus dem jeweiligen Milieu heraus, den Kampf beider Milieus der Arbeiterbewegung. Mir scheint das noch ein bisschen differenzierter, nicht so klar geschnitten, wie du, Klaus Tenfelde, es dargestellt hast, aber ich nehme an, du stimmst mir zu. Ich denke nur, man soll sagen, dass auch innerhalb der Milieus mitunter die Kämpfe gegeneinander heftiger waren als zwischen den historisch entstandenen katholischen und sozialdemokratischen Milieus. Eine andere Nachfrage nach einer gesetzmäßigen Verkürzung bei dir. Sie betrifft die These, ich verkürze jetzt etwas, das Kaiserreich, das autoritäre Regime, habe Gegensätze auch in der Arbeiterbewegung unterdrückt, die dann zum Ausbruch kamen, Sozialdemokratie und Kommunismus. Wenn ich mal nach Frankreich schaue, so sah das ganz anders aus. Wir haben dort ein relativ gemäßigtes, demokratisches Regime, aber die Kommunisten waren dort viel stärker, die KPF, als die sozialdemokratische Richtung. Wir haben auch [Seite der Druckausg.:60] hier das Auseinandergehen, den Ausbruch, aber in Richtung auf Kommunismus. Ich denke, dass hier keine Gesetzmäßigkeit vorhanden ist, sondern dass irgendwelche andere Faktoren hierfür ausschlaggebend sein müssen, sei es der Einfluss Moskaus, die Faszination, die von der bolschewistischen Revolution ausging, vielleicht in Frankreich mehr als in Deutschland. Nun ganz kurz zu dir, Helga Grebing: du hast sehr eindrucksvoll gesagt, denke ich, dass wir heute vor dem Problem stehen, dass Arbeiterbewegung die Dinge zu regulieren, in den Griff zu kriegen hat, national, transnational und global. Ich meine, hier könnten und müssen wir in der Programmdiskussion zwei Probleme verknüpfen, nämlich die Europafrage und die Frage, was wir als Sozialdemokratie tun können. Europa, und hier konkret die EU, bietet meiner Ansicht nach die Chance, transnational sowieso, aber auch global, Einfluss zu nehmen, da Europa ein starker Finanzfaktor, eine starker Handelsfaktor ist, in den internationalen Gremien auch stimmenmäßig eine wichtige Rolle hat. Hier müssen die Sozialdemokraten in vielen dieser Länder, wenn auch variiert, in der Programmatik Einfluss nehmen. Die Regulierung der globalen, der freien Ströme ist ein besonderes Problem, das wir in der Programmgestaltung verstärkt berücksichtigen müssen, zumal Gerhard Schröder sagt: Die EU-Erweiterung und überhaupt die Europäische Union ist unsere erste außenpolitische Priorität. Jürgen Herres: Ich habe zwei Fragen, die eine an Herrn Tenfelde, die andere an Frau Grebing. Herr Tenfelde, was ich an Ihrem Vortrag interessant fand, war, dass Sie mit der Milieutheorie Ernst machen, und zwar dabei gerade auch, was vielleicht jetzt hier nicht so aufgefallen ist, die neuen Ergebnisse der Katholizismus- [Seite der Druckausg.:61] forschung aufgreifen. Interessant ist ja hierbei, wie Sie es jetzt vorgetragen haben, dass beide Milieus sich im Grunde genommen erst im Kaiserreich formierten und nicht vorher. In der Katholizismusforschung wurde lange ein lineares Verlaufsmodell favorisiert, das dann praktisch im Kaiserreich kulminierte, aber in Wirklichkeit bildete es sich erst im Kaiserreich. Mit dieser Herausbildung gingen Entwicklungsstränge, die vorher angelegt waren und ein vielfältigeres Bild boten, verloren. Insofern wäre natürlich, wenn man über europäischen Sozialismus spricht, zu fragen, ob jetzt weiter zurückzugehen ist, und zwar in die Geschichte der I. Internationale, die Kongresse der Internationale, wo praktisch ein buntes Gemisch aller möglichen Personen aus der Arbeiterbewegung, aus den verschiedenen Ländern, aus den verschiedenen sozialistischen Sekten, sich im Grunde genommen getroffen und sozialistische Programmatik beraten hat. Spielte es da nicht vielleicht eine viel größere Rolle, wenn man das ernst nimmt und weiter zurückgeht? An Frau Grebing richte ich die Frage: Die von Ihnen am Anfang zitierte Szene ist zwar fiktiv, aber wenn Sie heute im Karl-Marx-Haus in Trier im Gästebuch blättern - vieles kann ich nicht lesen, weil ich kein Chinesisch oder Japanisch lesen kann, aber hin und wieder sind auch Schriftzeichen oder Einträge darin, die Sie lesen können -, so werden Sie dort immer wieder den Satz finden: Erst heute verstehe ich, was Marx wollte, oder: Heute habe ich erst verstanden, was mir im Marxismus-Leninismus-Unterricht beigebracht wurde. Sie zitieren am Anfang auch den Satz. Was meinen Sie, hatte Marx recht? Dieter Dowe: Ich habe eine kurze Anmerkung, die an das anknüpft, was Bo Strå th eben gesagt hat. Er hat ja bemerkt, dass die Argumentationsbasis von Klaus Tenfelde immer schlanker wird, je mehr man an die Gegenwart herangeht, dass er sehr differenziert im Kaiserreich gewesen ist, die Zwischenkriegszeit noch einigermaßen in ähnlichen Kategorien gefasst hat, dann aber relativ dünn gewesen ist. Das kann nur dann einen Sinn machen, wenn man davon ausgeht, dass die Voraussetzungen seiner Argumen- [Seite der Druckausg.:62] tation sowohl mit Bezug auf das Milieu, das er sehr breit dargestellt hat, als auch mit Bezug auf das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft ein durchgängiges, bleibendes gewesen ist. Da möchte ich doch ein Fragezeichen anbringen. Wir haben immer wieder festgestellt, dass zumindest für Deutschland spätestens nach 1945 die Rekonstituierung des Milieus entweder nicht gelungen ist oder gar nicht intendiert war und dass wir von daher nach dem 2. Weltkrieg völlig andere Bindungen und Integrationsvoraussetzungen haben als in der Zeit davor. Sicher ist, dass auch das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft mittlerweile ein völlig anderes geworden ist, womit im Grunde ja nur die, wie soll ich sagen, Helga Grebing, Ratlosigkeit zu erklären ist, mit der du an die Formulierung deines Themas herangegangen bist und weshalb du im Grunde eine dezidierte These bewusst nicht formuliert hast. Bruno Groppo: Mir scheint, dass es wichtig ist, zwischen Sozialismus und Arbeiterbewegung zu unterscheiden, insbesondere, wenn wir über die mögliche Zukunft der beiden nachdenken. Wir wissen, der Sozialismus war die wichtigste politische Form der Arbeiterbewegung in vielen Ländern Europas - Sozialismus in verschiedenen politischen Ausprägungen. Der Sozialismus ist gewissermaßen mit der Problematik der industriellen Gesellschaft verbunden. Und die Frage ist, inwieweit der Sozialismus als Idee eine Zukunft in einer Gesellschaft hat, die sich mehr und mehr von der traditionellen industriellen Gesellschaft unterscheidet. Dass die Arbeiterbewegung als solche oder eine Bewegung der Lohnabhängigen eine Zukunft hat, scheint mir sicher. Wir sehen, dass die Arbeit selbst immer eine zentrale Stelle in unseren Gesellschaften hatte. Wer von lohnabhängigen Arbeitern spricht, spricht auch von verschiedenen Interessen und Gegensätzen, von der Notwendigkeit für die Lohnabhängigen, sich zu verteidigen. In diesem Sinne kann man von einem Jahrhundert der Arbeiter- [Seite der Druckausg.:63] bewegung oder lohnabhängigen Bewegung sprechen. Was den Sozialismus betrifft, scheint mir eines zentral. In der Idee des Sozialismus war die soziale Demokratie am wichtigsten. Die Demokratie als solche ist eine historische Konstruktion, die kein Ende hat. Wir leben in demokratischen Gesellschaften, aber wir stehen sozusagen an einem bestimmten Punkt der Demokratisierung. Die Demokratie als solche hat in sich selbst viele Möglichkeiten, die noch zu entwickeln sind. In diesem Sinne scheint mir, dass auch der Sozialismus, sehr eng mit der Idee der Demokratie verbunden, eine Zukunft haben kann. Ich glaube, vom methodischen Standpunkt her, müssen wir versuchen zu unterscheiden zwischen einer realen Bewegung hier der Arbeiterbewegung - und ihrer politischen Form. Bernd Faulenbach: Zunächst zu Klaus Tenfelde: Es ist natürlich absolut legitim, Typen zu bilden. Das hilft auch weiter im Hinblick auf den Versuch, sich das, was Arbeiterbewegung ist, anzueignen und darüber einen Überblick zu gewinnen. Aber man muss sich natürlich fragen, inwieweit diese Typenbildung zur Erklärung der heutigen Situation noch aussagefähig ist. Es ist von dem ersten Diskussionsredner zu Recht darauf hingewiesen worden, dass zwar der amerikanische Fall als ein besonderer Fall erscheint, dann der osteuropäische Fall, aber offenbar fallen dann doch in der Gegenwart der westeuropäische Fall und der mittel- und südeuropäische Fall zusammen. Zumindest wüsste ich gerne, wie Klaus Tenfelde das sieht, ob er noch bestimmte fortwirkende Unterschiede sieht oder ob diese Typen zu einem Typus in der Gegenwart zusammengefallen sind; wenn es Unterschiede gibt, hätte ich sie gerne benannt. Wenn sie aber auf einen Typus hinauslaufen, müsste auch dies erklärt werden. Eine zweite Bemerkung zu diesem Typisierungsmodell. Man müsste fragen, ob man in einer solchen Typenbildung nicht auch noch Aussagen braucht über die Rolle des Bürgertums und die Rolle des Libera- [Seite der Druckausg.:64] lismus in den jeweiligen Gesellschaften. Wie sich die Arbeiterbewegung oder die Sozialdemokratie hat entwickeln können, hängt nicht zuletzt eben auch davon ab, inwieweit das Bürgertum eine emanzipatorische Rolle gespielt hat oder nicht. Auch dies müsste wohl in eine solche Typenbildung hinein. Schließlich müsste man wohl auch versuchen Unterschiede zu diskutieren im Hinblick auf die politischen Kulturen, die es in den jeweiligen Ländern gibt. Der Etatismus ist zwar hier genannt worden, aber Etatismus und auch die Frage, inwieweit Pluralismus eine Tradition in einem Land hat, dürften eine Rolle spielen, ebenso die Verrechtlichung von bestimmten Auseinandersetzungsformen und ähnliche Dinge mehr, sie alle haben ja ihrerseits Einfluss auf die Arbeiterbewegung, auf die Sozialdemokratie und ihre Bedingungen. Also kurz gesagt: Dieses Modell trägt ein Stück weit, aber müssten wir, wenn wir eine Feinanalyse machen, nicht noch weitere Elemente mit einfügen in ein solches Typenmodell? Schließlich hätte ich noch eine Frage an Helga Grebing, wir kommen aber sicher gleich noch dazu, bestimmte Fragen, die sie aufgeworfen hat, auf dem zweiten Panel zu diskutieren. Aber, Helga, ich hätte gerne einmal gewusst, was du unter Sozialismus verstehst. Ist das ein historisch geprägter Sozialismusbegriff, mit dem du arbeitest, oder bist du dabei, einen eigenen, neuen Sozialismusbegriff zu entwickeln? Vielleicht zerlegst du den Ismus in seine verschiedenen Elemente und zeigst, was diesen Sozialismus hauptsächlich ausmacht. Dann können wir uns, glaube ich, verständigen, wie chancenlos oder wie chancenreich die Versuche sind, den Sozialismus im 21. Jahrhundert weiter zu verfolgen und weiter zu entwickeln. N.N.: Wegen der gebotenen Kürze möchte ich nur kurz an Bernd Faulenbach anschließen und die Frage umformulieren: Warum sollten wir nicht auf diesen Begriff, den Sie eben zu definieren ge- [Seite der Druckausg.:65] beten worden sind, verzichten, vielleicht auch aus geschichtspolitischen Gründen, weil er in seiner Verbindung in der Geschichte viel zu belastet ist. Der Sozialismus ist nämlich keinesfalls, wie Bruno Groppo gemeint hat, mit Demokratie unlöslich verbunden, sonst müsste man ihm ja hier nicht das Wort demokratischer (Sozialismus) voransetzen. Reinhard Rürup: Es ist offensichtlich, dass in der Diskussion sehr grundsätzliche und auch sehr komplexe Fragen aufgeworfen worden sind. Dennoch will ich die beiden Referenten aus Zeitgründen bitten, und Sie von vornherein dafür um Verständnis bitten, so knapp wie möglich auf diese hoch komplexen Fragen zu antworten. Helga Grebing: Ich verzichte nicht auf den Begriff demokratischer Sozialismus, aber ich bin auch nicht in der Lage, und das wäre eine Anmaßung, hier eine Definition zu bringen, denn das wäre genau contre coeur dem, was ich meine. Man kann nämlich nur definieren, wenn man sozusagen analytisch ganz klar, was ja nie ganz gelingen wird, das wissen wir auch, Boden unter den Füßen hat. Den habe ich nicht, sondern ich habe versucht - insofern ist der Titel, der mir vorgegeben war, Programmatische Konturen, ein bisschen zu großartig gefasst - die Voraussetzungen ein bisschen zu zeichnen, die dazu führen könnten, zu überlegen, ob die tatsächlich historisch tragenden Begriffe, die den demokratischen Sozialismus ausgemacht haben - zuletzt steht es ja alles schön im Berliner Programm auch weiterhin Tragfähigkeit besitzen. Was müssen wir als historisch obsolet vergessen? Das war mein Anliegen. Insofern würde ich mich auch weigern, wie ein Dogmatiker hier zu erklären: Sozialismus ist ... Mir kommt es, wie gesagt, auf die Voraussetzungen an, unter denen man dies, was ich gerade anzudeuten versucht habe, diskutieren könnte. Was mich aber noch umgetrieben hat, und das will ich [Seite der Druckausg.:66] sehr deutlich sagen, dass ich zuwenig die Anstrengung feststelle, soziale Ideen, die im historischen Kontext des demokratischen Sozialismus entstanden sind, zu verknüpfen mit dem, was wir vielleicht sozialdemokratisches zivilgesellschaftliches Projekt nennen können. Ich finde es übertrieben und zum Teil einen Irrweg, dass man zurückgeht auf Ideen, die nicht zuletzt aus dem Liberalismus stammen und in der Geschichte versagt haben. Der Sozialliberalismus fängt an mit Friedrich Naumann. Friedrich Naumann blieb im Rahmen der Diskussion der Liberalen aber eine Randfigur. Wenn Sie die Diskussionen unter den Neo-Liberalen nach 1945 verfolgen, dann werden Sie sehen, z.B. bei Alexander Rüstow, aber auch bei anderen, dass diese bei dem auskommen, was andere zur gleichen Zeit als freiheitlichen Sozialismus bezeichnet haben. Die Rückkehr zu einem wirklich mit negativen Traditionen belasteten Begriff von Liberalismus, der sich gewissermaßen an die reinen Liberalen der 20er Jahre anhängt, diese Rückkehr hielte ich für einen ganz gefährlichen Weg, den die Sozialdemokratie nicht beschreiten sollte. Das war mein Anliegen: ein paar Anregungen zu geben, wie man mit bestimmten historischen Tendenzen umgehen kann. Ich habe versucht, es ein bisschen salopp zu machen mit dem Eingangszitat aus dem Buch von Peter Schneider: Was sich natürlich auch innerhalb der gerade beginnenden sozialdemokratischen Programmdiskussion ein bisschen einschleicht, ist die Vorstellung, man könnte doch eigentlich Fixpunkte, die weltanschaulicher Natur sind, wieder aufgreifen. Ich hielte es aus meiner Sicht für absolut fatal, wenn wir dies versuchen wollten. Das war mein Anliegen. Wir müssen noch einmal über den von dir angesprochenen Punkt sprechen, Heinz Timmermann: Ich hatte in meinem Referat eine Aussage, vor der ich selber erschrocken bin. Es könnte sein, dass wir in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, so etwas wie eine nationalstaatliche Identifikation - ich habe nicht gesagt: Identität - brauchen. Diese müsste aber gewissermaßen mit den demokratischen Traditionen verknüpft werden. Ich bin [Seite der Druckausg.:67] kein Nationalist und keiner, der ausgrenzen will, aber es ist sehr schwierig, sonst in dieser Frage weiterzukommen. Es war für Sozialdemokraten immer viel einfacher, sich auf das eigene Vaterland beziehen zu können. Das war ja leider gegen die Tradition, unter der man eigentlich angetreten ist. Klaus Tenfelde: Helga Grebing hat zitiert, was Willy Brandt unter demokratischem Sozialismus verstand: Freiheit, Humanismus, Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit. Zu Dreiviertel ist das in bürgerlichen Traditionen begründet, und allein die soziale Gerechtigkeit könnte man eher bürgerlich-philantrophisch zu interpretieren haben, wollte man es einordnen. Brandt hat wohl ein deutliches Bekenntnis zu einer bürgerlich interpretierten Gesellschaft, im Laufe seines Lebens von der SAP wegkommend, abgelegt. Ich will nur auf einige Punkte der Diskussion eingehen. Herr Berger, ich habe nichts ausschreiben wollen. Ich glaube, dass der Aufschwung der Arbeiterbewegungshistoriographie in den 60er und 70er Jahren eben nicht von dem Fernziel bürgerlicher oder Zivilgesellschaften getragen war, sondern eher eine neue, kommunismus-kritische Materialität in der Sozialgeschichtsschreibung gesucht hat. Wir haben uns alle gefragt, warum sich denn Arbeiter wie verhalten, warum sie sich organisieren, und wir haben im Arbeitsplatz die Antworten auf diese Fragen zu finden versucht, im Familienleben, in den Lebensstandards und in vielem mehr. Das hatte mit der bürgerlichen Gesellschaft und diesen Orientierungen, die aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammen, noch nichts zu tun. Wir haben sie in Deutschland stark gewonnen durch den Aufschwung der Bürgertumsforschung, an der ich zeitweise selbst beteiligt gewesen bin, durch die Sonderwegs-Debatte. Hier haben wir uns wieder die Utopie jener kantianischen Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts stärker vergegenwärtigt und waren ganz überrascht, ihre Strukturzüge in dieser Gegenwart durchgesetzt zu sehen. [Seite der Druckausg.:68] Helga Grebing: Das ist aber das Verdienst der Arbeiterbewegung und nicht der Liberalen. Klaus Tenfelde: Das ist nicht unbedingt ein Verdienst weder der Arbeiterbewegung noch der Liberalen, sondern es ist schlichtweg ein Erkenntnisgewinn, den ich nicht von vornherein politisch verorten möchte. Bo Strå th, ich bin sehr dieser Ansicht, ich sehe eine Konvergenz, und zwar keineswegs eine west-nordeuropäische Konvergenz zu diesem Ziel hin, wie Berger anzudeuten versucht hat, aber schon eine Konvergenz hin zu diesen Basisorientierungen in der demokratischen Gesellschaft, der Fungibilität auch von Arbeiterbewegung in den demokratischen Gesellschaften, die keineswegs sozialismusgeleitet sein müssen und in Amerika nie gewesen sind. Das ist für mich diese Perspektive. Es ist richtig, dass ich verschlanke nach 1945. Ich habe aber sehr detailliert von Sozialisationsgenerationen gesprochen. Diese wichtige Führungsgeneration, die zwischen 1890 und 1914 geboren wird, bestimmt das politische Leben nicht nur in Deutschland, sondern auch anderwärts bis 1960. Man kann die Ablösung in der Funktionärsgeneration der Sozialdemokratie wunderschön nachverfolgen. Kurt Klotzbach hat es zum Teil getan. Diese Ablösung ist also bis in die frühe Bundesrepublik hinein außerordentlich schwierig, wie sich sozusagen in der zweiten im Milieu sozialisierten Generation die Breite erst richtig herstellt. Übrigens habe ich die Milieus als auch affektuelle Vergemeinschaftungen interpretiert. Ich bin also in der Tat der Meinung, dass in dem Augenblick, wo milieuinterne Konflikte losbrechen, diese innerhalb des Milieus ganz besonders erbittert zu umfechten sind, weil es ja Blut vom eigenen Blute ist, mit dem man, sozusagen sanguinisch gesprochen, dabei zu tun hat. [Seite der Druckausg.:69] In der Tat habe ich den Milieuvergleich, der jetzt eigentlich erforderlich wäre, zwischen einzelnen Staaten, zwischen einzelnen Nationen beiseite gelassen, da gibt es gerade durch Bergers Forschung - dazu beigetragen hat auch Dick Geary - zwischen Deutschland und England einige Möglichkeiten. Mich würde sehr stark Italien und auch Frankreich interessieren. Da weiß ich schlichtweg nicht genug, um das fundiert darstellen zu können. Mir scheint insgesamt aber, dass die Milieuprägung in Deutschland und Österreich bei weitem am dichtesten und über zwei Generationen am stabilsten gewesen ist, auch dank einer Fülle weiterer Umstände, von denen ich nur einige erwähnt habe. Die Milieus nach dem 1. Weltkrieg habe ich damit erwähnt. Die französische Besonderheit, die ich hier auch nicht erklärt habe, mag sich vielleicht wohl durch einen besonders ausgeprägten Agrarkommunismus erklären lassen und durch eine besonders starke syndikalistische Tradition im Sinne der lokalistischen Organisation in den Bourses de Travail und in dem, was danach kommt in der Zwischenkriegszeit, bis hin zur Volksfront. Dies verlangt genaueres Fragen. Das müssen wir genauer wissen, warum es sozusagen eine stark kommunistische Einfärbung schon in der Zwischenkriegszeit gibt. Das ist meines Erachtens auf die 21 Bedingungen oder sonstige leninistische Einflüsse eher zum Geringeren zurückzuführen. Ich stimme mit Bruno Groppo darin völlig überein: Vom Ende der Arbeiterbewegung zu reden, halte ich für einen endlosen Quatsch. Solange Lohnarbeit und lohnabhängige Beschäftigung stattfinden, wird es eine interessenpolitische Arbeiterbewegung geben, und die Gewerkschaften werden sie immer zu repräsentieren haben. Meine entscheidende Frage vielmehr, und das antworte ich auch an Bernd Faulenbach, ist hier gewesen, ob denn die Sozialdemokratie so notwendig ist wie die Gewerkschaftsbewegung, die überall eine Basisbewegung ist. Hier bin ich allerdings der Meinung, dass die alte Frage von Werner Sombart Warum gibt es keinen Sozialismus in Amerika, abgesehen davon, dass sie methodisch falsch ist, falsch gestellt ist. Die Fra- [Seite der Druckausg.:70] ge muss lauten: Warum gibt es Sozialismus in Europa? Der Normalfall wären die USA gewesen in einer, wie immer man das im einzelnen sieht, integrationsfähigen Gesellschaft. Die Erfindung der Sozialdemokratie ist ein europäisches Phänomen. Dieses gilt es zu begründen, und da scheint mir der Übergang aus der feudalen Gesellschaft mit dem Staat als Adressaten und als Repressionsinstrument das entscheidende Moment der Präponderanz des Politischen in der sozialen Bewegung zu sein. Deswegen entstehen die Sozialdemokratien in Europa, und dann habe ich zusätzlich das Argument der institutionellen Schwerkraft eingefügt. Was einmal ist in dieser politischen Welt, zumal wenn es die Funktion des Liberalismus im Parteiensystem übernommen hat, wie in England, das kriegt man so schnell nicht weg, ganz im Gegenteil. Die Sozialdemokratie in Europa ist das zu erklärende, nicht das Fehlen der Sozialdemokratie in den USA. Die Sozialdemokratie ist in der Tat keine historische Selbstverständlichkeit. Das wollte ich damit deutlich machen. Übrigens habe ich auf die Rolle des Liberalismus und Bürgertums, Scheitern der Revolution usw. wiederholt hingewiesen. Da würde ich mich selber in Schutz nehmen, und ich stimme dir, Bernd Faulenbach, völlig zu: Verrechtlichung, all dies, also der Unterschied zwischen common law tradition und positivem Recht auf dem Kontinent, ist immens gewesen. Man kann es heute nachverfolgen in der Rolle, die das Arbeitsrecht in den respektiven Gesellschaften zu spielen hat. In England wird unter großen Problemen und mit Hilfe der Europäischen Union Arbeitsrecht soeben erst gewonnen, während wir eine reiche arbeitsrechtliche Tradition seit Hugo Sinzheimer und anderen haben, nicht nur in Deutschland. Da sind weitere fundamentale Unterschiede, die ich aber hier in der verfassungsbezogenen Typisierung nicht mit aufnehmen möchte. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001 |