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TEILDOKUMENT:



Klaus Tenfelde
Europäische Arbeiterbewegungen im 20. Jahrhundert *

* [Die Vortragsfassung wurde beibehalten, der Text leicht überarbeitet. Die Anmerkungen beschränken sich auf den Nachweis von Zitaten.- In jeweils veränderten Fassungen habe ich den Vortrag im Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung am 30.10.2000 sowie am 17.12.2000 als Otto von Guericke-Vorlesung an der Universität Magdeburg gehalten; einige Gedanken, konzentriert auf den Aspekt der innerparteilichen Demokratie, wurden auf dem 10. deutsch-norwegischen Historikertreffen vom 31.5.-4.6.2000 in Bergen/Norwegen vorgetragen.]

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I.

Man wisse ja, „was von Belang ist in der Geschichte der alten SPD„; man wisse gar, „warum sie so und nicht anders wurde„, und wenn heute „viele Parteigänger nicht einmal mehr die schönen Seiten der [Partei-]Geschichte auf[schlügen]„, dann sei das nicht gänzlich ungerechtfertigt. Mit diesen Worten hat vor kurzem eine sehr kritische Rezensentin die wichtige, von Willy Albrecht besorgte Edition eines ersten Bandes der Sitzungsprotokolle der SPD-Spitzengremien kommentiert. [Brigitte Seebacher-Brandt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2000.]
Abgesehen von einem gewissen Missverständnis, das eine solche Stellungnahme hinsichtlich der Bedeutung kritischer Texteditionen für die Geschichtswissenschaft erkennen lässt, wird der Historiker schwerlich der hier erkennbaren Auffassung vom Ewigkeitswert historischer Erkenntnis folgen wollen. Manchmal muss man daran erinnern, dass Geschichte mehr ist als die bestmöglich erkannte Wahrheit über das Gewesene: Geschichte ist immer auch, Huizinga folgend, die angemessene Interpretation des Gewesenen im Lichte der jeweiligen Gegenwart. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass unser Bild von der Geschichte der SPD - und der europäischen Arbeiterbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert - dringend einer Revision zu unterziehen ist.

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Dieses Bild erscheint, seit es in den 1970er Jahren in scharfer Auseinandersetzung mit der auf diesem Gebiet besonders herausfordernden DDR-Geschichtswissenschaft modernisierend konstruiert worden ist, einigermaßen festgefügt. Es hat in Deutschland und international ganz gewiss eine Hohe Zeit der Forschung über Arbeiterbewegungen gegeben, die etwa von 1960 bis 1980 währte. Das Interesse an diesem Forschungsgegenstand, das ja - wie immer in historiographischen Konjunkturen - auf gesellschaftliche und politische Dispositionen schließen ließ und zurückgeführt werden kann, flaute also wohl schon vor den umfassenden weltpolitischen Veränderungen an der Wende zu den 1990er Jahren ab. Dieses Interesse soll hier nicht näher begründet, und es soll auch nicht sonderlich darüber geklagt werden, dass man - mit der oben zitierten Rezensentin - für die Gegenwart einen Rückgang, wenn nicht eine Verflachung, selbst des innerparteilichen Interesses an der Geschichte der Arbeiterbewegungen beobachtet hat. Vielmehr könnten Rückgang und Verflachung eine notwendige Re-Justierung der Sichtweisen spiegeln. Ich glaube, dass eine solche Re-Justierung dringend ist, schon allein im Hinblick auf die anstehende, wiewohl anscheinend wieder verzögerte Programmdebatte, die wir im übrigen vielleicht gerade im Augenblick gar nicht nötig haben. Andererseits haben sich Programmdebatten in der Sozialdemokratie stets mit dem Versuch der Bestimmung des historischen Orts verbunden, an dem man stand oder zu stehen meinte. Dieser historische Ort wurde 1989/90 grundlegend verschoben.

Mir scheint, das Erfordernis neuer Interpretamente ist seit 1990 evident. Ich werde mich, indem ich den Weg der europäischen Arbeiterbewegungen in die Moderne nachfolgend anders als bisher zu akzentuieren versuche, um eine Re-Justierung der Sichtweisen bemühen. Es versteht sich dabei von selbst, dass wir uns dabei nicht im historischen Detail bewegen, sondern abstrahierende Deutungen zu diskutieren haben. Freilich muss auch das Detail gleichsam „deutungskompatibel„ bleiben. Um einem Irrtum vorzubeugen: Indem ich eine Interpretationsmög-

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lichkeit vorstelle, will ich den Reichtum dieser großen Geschichte der Arbeiterbewegungen, etwa die prägende Kraft ihrer Visionen und die Selbstverständlichkeit ebenso wie die Bedeutung auch ihrer Seitenwege keineswegs eskamotieren. Konkret, an einem Beispiel erläutert, liegt darin, dass ich die Geschichte des Anarcho-Syndikalismus in Deutschland für einen solchen Seitenweg halte, nicht etwa ein Verdikt über die Bedeutung von Forschung über denselben - ganz im Gegenteil: Es ist ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit, die andere Seite nicht nur zu hören, sondern sie argumentativ zu stärken, um die Argumente zu messen. Auch liegt mir jeder Hochmut über tiefe und in der zwingenden Wahrnehmung der jeweils gegenwärtigen Situationen sehr verständliche Überzeugungen vollständig fern. Solche Überzeugungen haben ganze Generationen von Mitgliedern und Arbeiterführern sowie mindestens die Anfänge und auch weite Teile der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gewerkschafts- und Parteigeschichte geprägt. Sie haben das Bild der Partei, wie es noch heute bei weitem überwiegt, strukturiert und illustriert. Wenn man, wie das nachfolgend mit dem Ausgangspunkt eines europäischen Vergleichs geschieht, vorschlägt, den Fundus an Parteitraditionen neu zu gewichten, dann heißt dies nicht, beispielsweise die mit dem Begriff des demokratischen Sozialismus verbundenen Denkformen gering zu achten. Es heißt vielmehr, die Entstehung solcher Denkformen in den jeweiligen Kontexten besser zu verstehen.

II.

August Bebels allererste große Reichstagsrede am 25. Mai 1871, es ging um die Annexion Elsass-Lothringens und um die Pariser Kommune („Vorpostengefecht„), stellte neben anderem vor allem das Demokratie- und Republikverlangen der Sozialdemokratie ganz in den Vordergrund. Es war diese Rede, die Bismarck in den folgenden beiden Jahrzehnten stets wie ein „Licht-

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strahl„ traf, gedachte er nur der Sozialdemokratie. Eigentlich stand in jener Reichstagsdebatte [Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags I/1, 43/25.5.1871, S. 920f.; gekürzt in: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, München etc. 1995, S. 147-151.] die Übertragung der kommunalen Selbstverwaltung auf die annektierten Gebiete in Frage. Bebel nutzte dies, um die ganz grundsätzliche Ablehnung der monarchischen Staatsform durch die Sozialdemokratie auf der Tribüne des Reichstags, und selbstverständlich unter vehementem Missfallen des gesamten Hauses, jedermann zu verdeutlichen. Er war zu jener Zeit der einzige sozialdemokratische Abgeordnete, der zudem soeben erst dem zweifelhaften Vergnügen entronnen war, zusammen mit etlichen Gesinnungsgenossen die deutsche Kriegsbegeisterung und Reichsgründungseuphorie in Ruhe hinter Gefängnismauern zu beobachten.

Wie immer auch jene Republik, von der Bebel sprach, gedacht gewesen sein mag, die Entscheidung darüber, ob dies eine Republik unter sozialistischer Klassenherrschaft werden oder ob diese Republik die Gestalt einer parlamentarischen Demokratie annehmen sollte, diese Entscheidung brauchte die Sozialdemokratie bekanntlich bis 1918 nicht zu treffen, konnte sie vielmehr, von jeder Mitwirkung an Verfassungsreformen ausgeschlossen und überhaupt in eine historische Situation erstarrter Verfassungspolitik hineinversetzt, beinahe genüsslich vor sich her schieben. Kann man auch kritisieren, dass eine solchermaßen dezidierte Stellungnahme des Sozialdemokraten nicht eben Brücken errichtete, über die auch von Seiten der Grundsatz-Opposition in den folgenden Jahrzehnten dann leichter hätte geschritten werden können, so wies andererseits das prinzipielle Bekenntnis zur Republik einen eindeutigen Weg. Das war um so wichtiger, als dieser Weg ja soeben von der bürgerlichen Demokratie verlassen wurde. Der Liberalismus nahm bekanntlich die „konstitutionelle„ Verfassung des neuen Deutschen Reichs zum Beispiel unter Nichtbeachtung der Menschenrechte hin. Das demokratische Reformverlangen hatte sich unter Bismarcks

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Schlägen erschöpft. Es sollte sich, außer in der Sozialdemokratie, in den folgenden Jahrzehnten nur noch bescheiden rühren. Die bürgerlichen Liberalen gaben den Weg frei für ein semi-autoritäres politisches System und für eine Gesellschaft, in der die politischen Kräfte so disponiert waren, dass sie die Klassenwirkung der nun rasch endgültigen kapitalistischen Wirtschaftsweise verstärkend überwölbten, statt sie konsensbildend zu moderieren. Unter dieser Verfassung würden, ohne dass man dem von ihr geordneten Staat Reformfähigkeit grundsätzlich absprechen müsste, beharrende Tendenzen gestärkt und in einer untypischen Koalition mit wirtschaftlichen Interessen amalgamiert werden können. Dieser politischen und gesellschaftlichen Verfassung war nicht nur die Möglichkeit, sondern eine reale Tendenz zur Ausschließung und Stigmatisierung von Reformkräften inhärent. Sie förderte nicht eine Kultur der Konsensbildung, sondern erlaubte wegen einer ganzen Reihe von ihr eingewebten Konsenshürden - der Dominanz Preußens, der Stellung des Kaisers, der Rolle des Militärs - die Erhaltung von Dissens weit über die Zeit hinaus. Das waren, grob beschrieben, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die von der Sozialdemokratie als der einzig systemkritischen Opposition, die deshalb die einzige bedeutende demokratische Kraft wurde und blieb, wortreich aber machtlos bekämpft wurden. Es waren zugleich Rahmenbedingungen, die das elementare politische Verhalten, die Selbstzuordnung und Fremdeinschätzung der Menschen und der gesellschaftlichen Kräfte, unbeschadet politischer Zuordnungen, über einen sehr langen Zeitraum prägen sollten.

III.

Die Frage nach der politischen Sozialisation unter den Bedingungen der zwei Generationen währenden Übergangsverfassung im Kaiserreich führt, an die Sozialgeschichte der Arbeiter ge-

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stellt, nach heutigem Kenntnisstand unmittelbar zu der nächsten Frage nach den Ursachen für die Herausbildung einer spezifischen Arbeiterkultur, eines klar abgrenzbaren Arbeitermilieus. In der Forschung über die Lebensformen der Arbeiter wurde in den letzten beiden Jahrzehnten Schritt für Schritt der Klassen- durch den Milieubegriff als ein Deutungsinstrument gerade auch der politischen Arbeiterbewegung verdrängt. Es ist bemerkenswert, dass die Grundlagen des Begriffs von Lepsius schon in den 1960er Jahren als „sozialmoralische Milieus„ gelegt worden sind, dass es aber bis in die späten 1980er Jahre dauerte, bis, zum Teil vermittelt durch alltagsgeschichtliche Forschungsstrategien, die Auseinandersetzungen um den Klassenbegriff mehr und mehr der Suche nach Begriffen wichen, mit denen eine durch die Position im Produktionsprozess oder Marktbeziehungen nicht hinreichend beschriebene Wirklichkeit angemessener erfasst werden konnte. [M. R. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (zuerst 1966), in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80. Zur anhaltenden Debatte s. etwa: Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte: Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 120, 2000, S. 358-395; Wilfried Loth, Milieus oder Milieu? Konzeptionelle Überlegungen zur Katholizismusforschung, in: Othmar Nikola Haberl/Tobias Korenke (Hrsg.), Politische Deutungskulturen. Festschrift für Karl Rohe, Baden-Baden 1999, S. 123-136. Im folgenden übernehme ich einige Gedanken aus meinem Versuch der Gegenüberstellung von Grundzügen des katholischen und des sozialdemokratischen Milieus im Kaiserreich: Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland [Festschrift für Hans-Ulrich Wehler], München 1996, S. 247-268.]

Milieus entstehen aus einander überlappenden und sich darin verdichtenden Netzwerken von Bindungen und Beziehungen. Teils sind diese rein geographisch, teils durch Herkommen oder auch Altersspezifik, weiter durch ethnische, Konfessions-, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit und endlich durch Selbst- wie auch Fremdzuordnungen nach sonstigen Wertgemeinschaften

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bestimmt. Es empfiehlt sich, gegenüber moderneren sozialwissenschaftlichen Prägungen des Milieubegriffs die großen, nachgerade „klassischen„ historischen Milieus abzugrenzen, von denen Lepsius vier näher bestimmt hat. Heute besteht Übereinstimmung dahingehend, dass dem sozialdemokratischen und dem katholischen Milieu in der deutschen Geschichte eine hohe Wirksamkeit zugekommen ist. Was die Arbeiterbewegungen angeht, ist dabei wiederum bemerkenswert, dass Forschungen zum Milieu anfänglich um den Begriff der Arbeiterkultur und der Arbeiterkulturbewegung [Vgl. bes. Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Arbeiterkultur, Königstein/Ts. 1981, Einleitung des Hrsg.] kreisten, während in der jüngeren Katholizismusforschung der Milieubegriff von vornherein Geltung erlangte. In den letzten Jahren ist der Aufstieg sowohl des katholischen als auch des sozialdemokratischen Milieus seit der Reichsgründung in vielfältigen Schattierungen nachgezeichnet worden. Es ist darin auch deutlich geworden, dass temporäre Milieus, bedingt etwa durch Zuwanderungen, in allen industrialisierenden Gesellschaften entstanden sind, dass aber die beiden „klassischen Milieus„ der deutschen Geschichte während des Kaiserreichs eine besondere, anhaltende Wirkung entfaltet haben. Das hatte vielfältige Gründe, von denen ich einige aufzeigen möchte:

1. Die Entstehung der Milieus wurde durch die politischen Entwicklungen nicht etwa verursacht, aber von diesen doch entscheidend vorangetrieben und akzentuiert. Es war Bismarck, der zum guten Teil diese politische Dimensionierung der Milieus verantwortete, weil ihm die „innere Reichsgründung„ misslang. Er war in den folgenden Jahren nur bei den Katholiken bereit, Versäumnisse und Fehler einzuräumen, während er das „sozialdemokratische Problem„ weiterhin nach altpreußischer Manier durch Disziplinierung und Privilegierung, durch Sozialistengesetz und staatliche Sozialpolitik letztlich vergeblich zu lösen versuchte. Die Herausdrängung großer, teilweise noch stark an-

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wachsender Bevölkerungsteile aus der inneren Reichsgründung mittels Sondergesetzen und bitterer Repression verlieh beiden Milieus eine völlig unnötige Dignität. Sie verlieh ihnen den Märtyrerstatus, bereitete ihnen ein Heroenzeitalter, aus dessen Urgründen sich Politik künftig um so besser zu legitimieren schien. Kulturkampf und Sozialistengesetz verwoben die Menschen mit den in ihren Bewegungen vermittelten Wertorientierungen besonders eng. Eigene Verfolgungslegenden ließen sich konstruieren. Mehr noch, in den Verbotssituationen verliehen sich die Milieus ihre eigenen Chiliasmen, sofern sie solche, wie im Katholizismus, nicht längst bereits besaßen: Neue sozialistische Heilserwartungen wurden programmatisch durch die Marxismus-Rezeption begründet. Wer Unterdrückung sät, erntet Radikalität. Das wilhelminische Deutschland verdiente präzise diejenige, scheinbar sehr machtvolle Arbeiterbewegung, die ihm die Bismarckzeit unter den eben beschriebenen verfassungs- und damit gesellschaftspolitischen Dispositionen vorbereitet hatte.

Weiteres kam hinzu:

2. Weil das Regierungssystem der Reichsverfassung die Mitwirkung der Parteien an der Gesetzgebung begrenzte und von der Regierungsbildung ausschloss, versetzte es die Parteien, die Sozialdemokratie noch dazu wegen sozusagen prinzipieller Ausschließung, in die komfortable Situation, nicht regieren und deshalb vor allem nicht gegen die eigene Klientel handeln zu müssen. Die Sozialdemokratie sah sich deshalb um so stärker auf ihre Anhängerschaft verwiesen und verzimmerte sich mit ihr, auch, weil das Regierungs- und Verfassungssystem anhaltende Stigmatisierungen gesellschaftlicher Großgruppen begünstigte. Diese Verzimmerung lässt sich auch am Zentrum zeigen, sie begründete den berühmten „Zentrumsturm„ in der Wählerschaft. Sie schmiedete eine besonders enge Beziehung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, und sie hat beiden Massenorganisationen zugleich eine hohe innere Modernität nahegelegt und ermöglicht.

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3. Unübersehbar klangen in der Milieubildung auch Traditionen ständischer Vergesellschaftung nach, die ja zeitgenössisch auch noch neu begründet worden sind, indem korporative Elemente der Verfassungs- und Gesellschaftsordnung relevant blieben oder neuerdings relevant wurden. Man denke nur an die Professionalisierung der freien Berufe, an die korporative Wirtschaftsverfassung in Handels- und Handwerkskammern, an die Geschichte der Innungen und der sonstigen Kammersysteme. Das Ständische war weiter virulent und wurde wachgehalten, es blieb über seine Zeit hinaus leitbildprägend, es ordnete die Gesellschaft aus der Selbst- und aus der Fremdsicht in Hierarchien und erkennbar schwer zu überschreitende Grenzlinien. Man könnte es am sogenannten Mittelstand besonders überzeugend zeigen. In gewisser Weise waren Milieus Stände - mindestens waren Milieus und die älteren Stände in Teilbereichen funktional äquivalent.

4. Unter den Verfassungsbedingungen des Kaiserreichs blieb den sozialmoralischen Milieus eine besonders lange Wirkungszeit vergönnt. Sie verankerten sich, seit dem heroischen Zeitalter, über nicht weniger als zwei Generationen, sie vererbten sich, indem sie als Sozialisationsgemeinschaften die Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu umfangen bestrebt waren. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegungskultur umfasste die Menschen in ihren täglichen, wochen- und monatsrhythmischen, jahreszeitlichen und lebenszyklischen Zeitabläufen und in allen denkbaren Bereichen als eine Erfahrungs-, Hilfs- und Schutzgemeinschaft, sei es nun in Freizeitorganisationen oder Bildungseinrichtungen. Sie erfasste die Lebensalter, mithin die Generationen, und die Geschlechter, und sie gewann ihre Stärke aus der hohen Verbreitung eines für die Zeit typischen Instruments von Kommunikation, des Vereins. Insofern forderte sie und trug die überfamiliale Vergesellschaftung der Menschen im Milieu. Sie bildete eine erblich werdende Fest- und Symbolgemeinschaft heraus, und sie öffnete und begrenzte darin das Denken und die Wertorientierungen der Menschen. Als erbliche Sozialisations-

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gemeinschaft wirkte das sozialdemokratische Milieu weit über seine Zeit hinaus. Man bedenke: Rein statistisch wurden zwischen 1890 und 1914 besonders viele „Proletarierkinder„ geboren, oder genauer: angesichts einer rasch sinkenden Säuglingssterblichkeit überlebten weit mehr Proletarierkinder als zuvor, so dass die an sich bereits sinkende Gebürtigkeit der Arbeiterfamilien gar überkompensiert wurde. Es waren diese Kinder, die, spezifisch im Milieu sozialisiert, in der Zwischenkriegszeit erwachsen wurden und das Wahlalter erreichten. Es waren damit auch diese Kinder, die den Arbeitsmarkt der Zwischenkriegszeit belasteten. Schließlich entstammten die nationalsozialistischen Führer und Funktionäre ebenso wie die Parteimitglieder, freilich zumeist aus anderen gesellschaftlichen Hintergründen, gleichermaßen dieser Generation.

5. Ein letzter Aspekt sei erwähnt, derjenige der Milieukonkurrenz zwischen dem katholischen und dem sozialdemokratischen Milieu, denn schließlich wilderte man, wiewohl das katholische Milieu die Schichtspezifik sprengte, in denselben Jagdgründen. Milieukonkurrenz, das hat zur institutionellen Verhärtung, zur Selbstverstärkung und zu scharfen Auseinandersetzungen geführt. Milieus waren affektuelle Vergemeinschaftungen, so dass Kämpfe zwischen den Milieus, später dann Kämpfe in den Milieus in besonderer Härte entbrannten. Vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, mit welcher Schärfe Sozialdemokraten und Kommunisten sich in der Spätphase der Weimarer Republik bekämpften.

IV.

Von dieser eher milieutheoretisch orientierten Betrachtung am deutschen Beispiel ausgehend, soll im folgenden verständlicher werden, dass und inwiefern sich die europäischen Arbeiterbewegungen im 20. Jahrhundert fundamental unterschieden, ferner, dass und inwiefern diese Unterschiede wesentlich auf langwäh-

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rende Prozesse der politischen Sozialisation zurückzuführen sind, schließlich, dass und wiefern solche Unterschiede Folgen zeitigten, die es insgesamt gestatten, die Epoche zwischen 1917/18 bis 1990 als eine Epoche des Übergangs zum „westlichen Format von Arbeiterbewegung„ zu charakterisieren.

Die milieubezogene Betrachtung hat insbesondere gezeigt, in welchem Umfang die gegebene politische Kultur die Arbeiterbewegungen formte. In sehr verschiedenem Umfang ist der Staat als Repressionsinstrument wahrgenommen worden: im kontinentalen Europa beinahe überall, sogar in der Schweiz, deutlich weniger hingegen in England, durchaus stark wiederum in den USA, freilich im wesentlichen auf der lokalpolitischen Ebene. Die betrieblich-gesellschaftliche Herrschaft der Unternehmerklasse setzte sich in dem Maße durch oder wurde frühzeitig behindert, in dem sie mittelbar und direkt durch den Staat und dessen Organe auf vielerlei Wegen gestützt wurde. Das allein bezeichnet m. E. den empirischen Gehalt des sog. „staatsmonopolistischen Kapitalismus„. Zwar relativierte sich die pure ökonomische Herrschaft stets durch den Markt, durch die Nachfrage nach und das Angebot von Arbeitskräften in wie immer überschaubaren Beziehungen. Es war aber ausschlaggebend, in welchem Maße die verfassungspolitischen Umstände und daraus hergeleitete Haltungen und Maßnahmen den betrieblich-gesellschaftlichen Einfluss der Unternehmerschaft, und generell des besitzenden und gebildeten Bürgertums, stützten oder relativierten. Ferner war wichtig, ob und in welchem Maße spätabsolutistische obrigkeitliche Autorität und merkantilstaatliche Ordnungstraditionen ein- und fortwirkten, in welchem Maße also der Staat (noch) wirtschafts- und sozialordnende Kompetenz beanspruchte. Das war trotz Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit in Deutschland und Österreich sowie in südeuropäischen Staaten noch lange der Fall. Schließlich wirkten sich der Zeitpunkt der beginnenden Industrialisierung beziehungsweise der Erfolg und die Ursachen ihrer Verzögerung auf die Arbeiterbewegungen und deren politische Verortung aus. In Deutschland

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und Österreich waren es nicht so sehr der aufgeklärte Absolutismus und Ständestaat an sich, sondern viel eher die damit eng verbundenen, in Jahrhunderten herangewachsenen Dispositionen obrigkeitlichen Verhaltens, die emanzipatorische Bestrebungen zurückdrängten. Ständestaatliche Privilegierung, worin der Staat die ständische Ordnung beaufsichtigte, und obrigkeitliche Disziplinierung bezeichneten darin zwei Seiten derselben Medaille. Das kumulierte zumal dann, wenn eine erfolgreiche Tradition der Reform „von oben„ am Beginn der Moderne, dank Napoleon, etabliert werden und sich mit der ebenso erfolgreichen Domestizierung des Bürgertums in scheiternden Revolutionen fest verankern konnte. Ebendies traf wiederum auf Preußen-Deutschland und Österreich zu. Ebendiese Beziehung zwischen Privilegierung und Disziplinierung gipfelte dann, Milieutraditionen begründend, in ausnahmerechtlichen Generalverboten, wiederum in Deutschland und Österreich, und zugleich in Sozialpolitiken von hoher, vorauseilender Modernität. Im aktuellen Konfliktfall konnten dabei obrigkeitsstaatliche Repressivmaßnahmen gegen Arbeiterbewegungen wegen der unterschiedlichen Rechtstraditionen in den Ländern wiederum sehr unterschiedlich ausfallen. So gesehen, war Repression in Deutschland und Österreich ein prinzipiell brutales Unterfangen in milden, tendenziell rechtsstaatlichen Verfahrensformen – ganz anders etwa in den USA, wo bei Arbeiterunruhen sehr rasch geschossen werden konnte.

Mit diesen Hinweisen sollte deutlich werden, dass unter der Bedingung unterschiedlich rasch industrialisierender Gesellschaften vermutlich die Staatsformen und die darin begründeten Reformfähigkeiten die Arbeiterbewegungen entscheidend geprägt und insofern deren Verhältnis zur Demokratie und zur Moderne disponiert haben. Ich will dies an einem Versuch der Typisierung europäischer Arbeiterbewegungen verdeutlichen:

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[Tabelle auf Seite 21 der Druckausgabe ]

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Sicher wird hier allzu stark vergröbert, und vieles bedarf der Erläuterung. Der Überblick geht, im Blick auf die politischen Existenzbedingungen der Arbeiterbewegungen, von einer Dreiteilung des europäischen Staatengefüges in westlich-demokratische, konstitutionelle beziehungsweise semi-autoritäre und autokratisch-diktatorische Nationen aus. Diese Dreiteilung hat der Ungar Szúcs in einem erstmals 1985 in französischer Sprache unter dem Titel „Les trois Europes„ erschienenen, auch ins Deutsche übersetzten Buch vorgetragen, weitere Anregungen verdanke ich den ebenfalls inzwischen übersetzten Reflexionen von Juan Linz über autoritäre und demokratische Regierungsformen. [J. Szúcs, Les trois Europes, Paris 1985; Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000, bes. S. 142ff.; einige der nachfolgenden Gedanken bereits in: K. T., Die Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung 18/1997, S. 181-198.]
Es zeichnen sich mit Einschluss der USA vier Typen von Arbeiterbewegung und damit vier unterscheidbare Interpretationsformate ab:

Die westliche Sozial- und Verfassungsnorm, zu finden in England und den skandinavischen Staaten, in sehr eigener Prägung in Frankreich, in Belgien und in Holland, dann vor allem in der Schweiz, ließ die Vision des Sozialismus zu aller erst auf dem Urgrund der Gewerkschaften entstehen. Das galt letztlich selbst dort, wo, wegen Fremdeinflusses, die Sozialdemokratien zuerst gegründet wurden, auch dank zunächst ausbleibender flächendeckender Industrialisierung. Seit dem Frühsozialismus konkurrierten in diesen Ländern über viele Jahrzehnte unterschiedliche Varianten sozialistischen Denkens. Kaum in Frankreich, vor allem in England erwies sich das politische System seit dem Chartismus als hinreichend stabil und integrationsfähig, um interessenpolitische Strömungen zögernd, aber gemäß ihrer zeitgenössischen Virulenz zu integrieren, und das entzog radikal opponierenden Strömungen den politischen Boden. Die theoretisch-programmatische Vision von Sozialismus blieb deshalb

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schwach ausgeprägt und organisierte sich politisch vergleichsweise spät, und sie organisierte sich auf dem Kontinent vielfach unter dem Eindruck des überragenden Organisationserfolgs der deutschen Sozialdemokratie im Rahmen der II. Internationale. Der interessenpolitische Kampf der Arbeiterbewegungen wurde also in diesen Gesellschaften ziemlich früh anerkannt und assimiliert. Gerade in diesem Punkt ging Frankreich – anscheinend u. a. wegen der dort die bürgerlichen Mittelschichten seit der Notabelngesellschaft stark prägenden, eher exkludierenden Traditionen – einen eigenen Weg. Die meistens länger schon demokratisierten Verfassungsgefüge, ob auf singulären Rechtsakten beruhend oder im Common law verankert, waren durchgängig selbst unter den Bedingungen des Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft zur kapitalistischen Produktionsweise imstande, die dadurch entstandenen, neuen gesellschaftlichen Kräfte langfristig zu binden, wenn auch sicher nicht ohne scharfe Konflikte. Für den institutionellen Niederschlag der interessenpolitischen Konstellation und ihrer politischen Formierung waren dabei nicht zuletzt die überkommenen und fortentwickelten Wahlrechte entscheidend: In England führte dies, nach dem Chartismus und der Lib-Lab-Phase, zur sehr späten Bildung der Labour Party, die dann allerdings wegen des Wahlrechts durchschlagend die Funktion des Liberalismus im Parteiengefüge übernahm. In den kontinentalen Staaten „westlichen Typs„ unter Einschluss der skandinavischen Länder gelangte die politische Bewegung mit ländertypischer Zersplitterungsneigung im wesentlichen seit 1918 zu einer dann die politische Integration vollendenden Regierungsverantwortung.

Hier erscheint ein Einschub erforderlich. In vielerlei Hinsicht waren die europäischen Staaten vor 1914, ironischerweise also im Zeitalter der Nationalstaatsbildung, mit Einschluss ihrer Arbeiterbewegungen im kulturellen Habitus sehr viel internationaler als jemals danach, während sie in ihren politischen Systemen überaus national-naturwüchsig gestaltet waren. Für die Arbeiterbewegungen kam die aufgrund alltäglicher Erfahrungen leicht zu

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gewinnende, gewiss dann theoretisch untermauerte Überzeugung von der zwangsläufigen Internationalität des kapitalistischen Marktgeschehens hinzu; wer den Kapitalismus theoretisch betrachtete, musste rasch die Einsicht von der global nivellierenden Richtung und Eindeutigkeit der sozialen Prozesse gewinnen. Im Rahmen der II. Internationale hat der scheinbar programm- und theorieinduzierte, überragende Organisationserfolg der deutschen Sozialdemokratie deshalb eine fatale Rolle gespielt. Darauf, dass dieser Organisationserfolg auf einer Fiktion beruhte, werde ich noch eingehen. Fatal daran war, dass kleinere, nicht nur benachbarte Nationen, von Holland bis Finnland, in unterschiedlichen Maßen zur anpassenden Aneignung neigten. Selbst in England bewunderte man, wie Stefan Berger gezeigt hat, ausgiebig, wenn auch selbstbewusst den deutschen Organisationserfolg, zumal auch im kulturellen Bereich. [Stefan Berger, Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich. 1900-1931, Bonn 1997, u. a. S. 281. In einigen anderen Einschätzungen, so hinsichtlich der „etwas besseren„ Integration der deutschen Sozialdemokratie in die Gesellschaft, weiche ich ab. Die Aspektvielfalt eines weitgefassten Vergleichs der europäischen Arbeiterbewegungen wird deutlich in: ders., European Labour Movements and the European Working Class in Comparative Perspective, in: ders. (Eds.), The Force of Labour. The Western Labour Movements and the Working Class in the Twentieth Century, Oxford/Washington D. C. 1995. Gedankenreiche Vergleiche enthält der Aufsatzband von John Breuilly, Labour and liberalism in ninetheenth-century Europe. Essays in comparative history, Manchester/New York 1992.]

Ganz anders nun die USA, deren wichtigster Unterschied vermutlich im beinahe vollständigen Fehlen feudaler Traditionen und Institutionen und in einer entsprechend vergleichsweise geringen Staatsorientierung des politischen Verhaltens bestand. Auch hier wurden Gewerkschaften stark behindert, aber sie konnten in den großen Städten des Ostens gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend frei agieren, und sie erreichten, indem sie sich als Lobby und manchmal bis zum Korruptionsverdacht in das System politischer Entscheidungsbildung einbanden, auch

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politischen Einfluss. Organisierte Sozialismen blieben hingegen stets regional und partikular und überdies von exulierten Zuwanderern beeinflusst. Niemals hatte, und das hängt selbstverständlich wiederum auch mit dem Wahlrecht zusammen, eine amerikanische sozialistische Partei eine Chance auf nationsweiten politischen Einfluss. Mag sein, dass die Dominanz der Gewerkschaftsbildung auch stark von deren anfänglich sogar überwiegender ethnischer Einfärbung abhing, wie andererseits bestimmte konfessionelle Einflüsse sowie die Landnahme im Westen insgesamt den Wirtschaftsindividualismus auch in den Arbeiterschichten verankerten. Zu diskutieren ist mindestens die Beobachtung, dass der selbstverständlich, denkt man an die Südstaaten, auch nur relative Mangel an feudalen Traditionen jedenfalls eine sozialdemokratische Parteibildung entbehrlich machte. Die das politische System tragenden Schichten ließen sich das politische Reformbegehren nicht entwinden, so dass es daneben keiner weiteren demokratischen Reformkraft bedurfte. Anders in Deutschland und Österreich, wo die mittleren und bürgerlichen Schichten in der Erkämpfung der Demokratie versagten, mithin eine politische Arbeiterbewegung als beinahe einzige Wahrerin demokratisch-republikanischen Reformverlangens unentbehrlich war.

Die Staaten des „konstitutionellen„, semi-autoritären Sozial- und Verfassungstyps, das waren Deutschland und Österreich, mit wichtigen Modifikationen auch die süd- und südwesteuropäischen Nationen, bildeten während des 19. Jahrhunderts durchweg einen Mischtyp der politischen Verfassung im sogenannten Konstitutionalismus aus. [Siehe als letzten ausführlichen Beitrag zur verfassungsgeschichtlichen Auseinandersetzung über den Konstitutionalismus: Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; einige Überlegungen zur gesellschaftlichen „Modernität„ des Kaiserreichs in: Klaus Tenfelde, 1890-1914: Durchbruch zur Moderne? Über Gesellschaft im späten Kaiserreich, in: Lothar Gall (Hrsg.), Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels?, Paderborn etc. 2000, S. 119-141.]
Dieser ermöglichte begrenzte politi-

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sche Partizipation, wirtschaftliche und in hohem Maße auch gesellschaftliche Modernisierung. Er stabilisierte jedoch die aus dem aufgeklärten Absolutismus überkommenen politischen Eliten und schrieb den autokratischen Habitus der Politik fort. Gesellschaftlich führte dies zu merkwürdigen Spannungen: einerseits Agrarzustände mit zögerndem, die agrarischen Eliten fördernden Übergang in die Besitzklassengesellschaft, andererseits – in Mitteleuropa – industriell induzierte Urbanisierung und eine rasche Entfaltung moderner Erwerbsklassen. Auf der iberischen Halbinsel verlief diese Entwicklung sehr viel punktueller und wesentlich später, in Italien wurde sie vom Nord-Süd-Gegensatz geprägt.

Die Arbeiterbewegungen dieses Sozial- und Verfassungsmodus sind durch die Herstellung ihrer sozialen Grundbedingungen infolge Industrialisierung ebenso geformt wie durch die verfassungspolitischen Bedingungen ihrer Existenz in der Gesellschaft. Sie bildeten im allgemeinen ein Übergewicht der politischen Bewegung, der Sozialdemokratie, heraus. ihr waren die Gewerkschaften und die Genossenschaften in unterschiedlichen Graden und oftmals gar als „Schulen„ zugeordnet. Die verfassungspolitische Existenz dieser Sozialdemokratien war prekär und wurde bis 1918 nur wenig sicherer. Solcher Art marginalisiert, neigten diese Sozialdemokratien um so eher zum programmatischen Radikalismus, als sich ihnen der Marxismus als eine aus ihrer Sicht richtige Deutung ihrer Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsverhältnisse anbot. Sie konnten durchweg die unterdrückende Politik der herrschenden Klassen als merkwürdige, an sich jedoch atypische Fusion von Kapitalinteressen und alten Herrschaftseliten wahrnehmen. So überwölbten sich die gesellschaftlich produzierten Gegensätze in den autoritär-konstitutionell verfassten Staatsgebilden aus der Sicht der Sozialdemokratien und ihrer Anhänger durch ein-

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seitige besitzklassenförderliche Politik. Dies alles machte die Sozialdemokratien dieses Verfassungstyps dort, wo rasche Industrialisierung stattfand, besonders stark. Die Gräben in den Gesellschaften wurden in der Wahrnehmung vertieft, und sie erschienen bald auch institutionell zementiert. Evolutionäre Reformen fanden statt, aber die Reformkräfte schreckten, das war entscheidend, vor der Demokratisierung der politischen Systeme zurück, nachdem die bürgerlichen Revolutionen, wo sie denn stattgefunden hatten, gescheitert waren.

Zumindest für Deutschland und Österreich bedeutete der Erste Weltkrieg eben auch einen äußersten Versuch zur Stabilisierung des Konstitutionalismus. Die vollständige Entlegitimierung des konstitutionellen Systems im Kriegsverlauf versetzte die Arbeiterbewegungen in eine problematische Ambivalenz. Sie erlitten die Folgen ihrer gewiss nur teilweise milieuverankerten visionären Verbalakrobatik der Vorkriegszeit, als sie antraten, ihr demokratisches Erbe zunächst und das sozialistische vielleicht zu verwirklichen. Die ungelösten Modernisierungsspannungen der Gesellschaften und die Folgen des verlorenen Krieges addierten sich, gebündelt mit den ökonomischen Problemlagen der Zwischenkriegszeit, zu schwerwiegenden politischen Krisenlagen. Die ehedem konstitutionellen Sozial- und Verfassungssysteme führten durchweg zur terroristischen Variante von politischer Autorität im Faschismus.

Den osteuropäischen Sozial- und Verfassungstyp der Autokratie will ich nur kurz behandeln. Er erzwang ganz andere Übergänge, in denen sich Russlands Weg hin zur stalinistischen Entwicklungsdiktatur unter dem weltumspannenden Anspruch der Partei als der führenden politischen Kraft als zwingend dominant erwies. Eine ausreichende soziale Grundlage der bolschewistischen Revolution gab es bekanntlich nicht, selbst diejenige der bürgerlichen Revolution war ja sehr schwach, das revolutionäre Geschehen war insgesamt durch den selbstverständlich seit Jahrzehnten voraussehbaren, im Weltkrieg endgültigen Legitimitätsverlust der zaristischen Autokratie verursacht.

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In Russland waren stets schon die Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft ganz schwach ausgeprägt gewesen. Grundrechts- und Demokratiegestaltungsdebatten wurden unter Verfolgungsdruck in isolierten Gemeinschaften geführt, und es gab kaum Verfassungstraditionen im westlichen Sinn. Der Übergang zur Demokratie musste sich sehr spät unter ganz andersartigen Bedingungen vollziehen. Man kann sagen, dass zu diesen Bedingungen die 1989 immerhin weitgehend friedlich vollzogene Selbstverringerung der politischen Arbeiterbewegung geführt hat. Sie war längst schon als „Arbeiterbewegung„ nicht mehr erkennbar gewesen.

Blicken wir noch einmal auf die Mitte Europas zurück, dann kann man sagen, dass sich in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine außerordentlich große politische Arbeiterbewegung ohne Macht in einer prekären Balance von Demokratie und Sozialismus entfaltet hatte. Die deutsche Sozialdemokratie hatte bis dahin keine starke Menschenrechtstradition ausgebildet, anders vielmehr, sie hat diese Tradition, wo sie sie im Vormärz und bis in die 1870er Jahre wegen ihrer bürgerlichen Verwandtschaft deutlich aufgewiesen hatte, durch ihre Selbstauslieferung an die eine beherrschende Programmvariante zurückgedrängt. Marx hat die Menschenrechte frühzeitig unter Ideologieverdacht gestellt, hat sie zu Instrumenten der herrschenden Klassen denaturiert. Aus solcher Sicht konnte Freiheit im wesentlichen auf Organisations-, Vereins- und Koalitionsfreiheit zur Existenzerhaltung der Arbeiterbewegung reduziert werden. [Vgl. das Kolloquium für Hans Mommsen: Freiheit und Sozialismus. Arbeiterbewegung und Menschenrechte in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung 18/1997, S. 3ff.]
Vor allem die individuellen Freiheitsrechte blieben vernachlässigt, betont wurden kollektive und soziale Rechte. Darin entfernte man sich weit vom Wertekanon der wohlverstandenen bürgerlichen Gesellschaft.

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Gerade in Preußen-Deutschland und in Österreich waren die politischen Arbeiterbewegungen Kinder der Gesellschaften und Systeme, die sie umschlossen, und das gerade machte sie ironischerweise stark. Selbst auf dem Gebiet der sozialen und politischen Ideen wirkte der Obrigkeitsstaat indirekt, aber nachhaltig, indem er, wie angedeutet, den ursprünglichen Reichtum – manche sprechen von Eklektizismus – begrenzte und die probate radikale Antwort provozierte. Wer gesellschaftliche und politische Marginalisierung sät, erntet mindestens verbale Radikalisierung, wenn nicht Gewalt. In zwei langen Generationen war das von Bismarck mit geprägte und vor allem ausgegrenzte Milieu organisatorisch durchtränkt und in einen Wertehimmel gefügt worden, der die Erwartungen von der zukünftigen Gesellschaft zum Maß der Dinge fügte. Was aber vor 1914 nützlich als Bollwerk gegen den Obrigkeitsstaat gewesen war, das Milieu und die durch das Milieu getragene organisatorische Macht der Sozialdemokratie, das hinderte seit 1918 im Prinzip und schränkte die Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie ein. Besser, „einmal mit den Massen [zu] irren, als gegen die Massen [zu] marschieren„, so hat Otto Wels diese strukturelle und mentale Hemmung der Weimarer Sozialdemokratie 1926 im sächsischen Landtagswahlkampf zum Ausdruck gebracht. [Zit. n. Hans J. L. Adolph, Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894-1939. Eine politische Biographie, Berlin 1971, S. 125, Anm. 79.]
Das sächsische Beispiel zeigt auch, welche unterschiedlichen Formen und Folgen die Disposition der Sozialdemokratie außerhalb des längst schon um die Erhaltung der Vormacht ringenden Kräftespiels der bürgerlichen und konservativen Kräfte nach sich zog: Lange schon war die Wählermehrheit der sächsischen Sozialdemokratie in der Landespolitik offenkundig geworden, aber die Vorkriegs-Wahlrechtsverschlechterungen stützten den unerbittlichen Linkskurs. Nach 1918 scheiterte die Linksregierung, und

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die sich jetzt abspaltende, kleine Reformpartei verging, vornehmlich, weil es ihr an Milieuverankerung mangelte. [Neben den Spezialstudien von Simone Lässig und Karsten Rudolph s. den Sammelband: Helga Grebing u. a. (Hrsg.), Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis 1933, Essen 1993.]

So gesehen, wurde vieles von dem imposanten Organisationserfolg der großen deutschen Sozialdemokratie dem Obrigkeitsstaat und der durch ihn geschaffenen besonderen gesellschaftlichen und politischen Verfassung gedankt. Die ungute Paarung von verbalem Revoluzzertum, organisatorischer Macht und politischer Ohnmacht, aus französischer Sicht etwa von Jean Jaurès nach der Jahrhundertwende sehr überzeugend beklagt, oder, in anderen Worten, „negative Integration und revolutionärer Attentismus„ [Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 2. Aufl., Frankfurt a. M. etc. 1975.] , all dies deutet sich als eine durch das politische System bedingte Kräfteverzerrung auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft.

Auch die erbitternde Bedeutung der Flügelbildung im Wettstreit der ideologischen Varianten innerhalb der Sozialdemokratie erschließt sich aus dieser Sicht auf neue Weise. Von ihren Anfängen hatte sich die deutsche Sozialdemokratie „doppel-polig„ [Vgl. Shlomo Na’aman, Demokratische und soziale Impulse in der Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung der Jahre 1862/64, Wiesbaden 1969.] konstituiert, hatte mithin die Möglichkeit von proletarischem Radikalismus und Reformismus aufgewiesen. Während es in den integrationsfähigen Gesellschaften gelang, den Reformismus Schritt für Schritt zu integrieren und den Radikalismus zu marginalisieren, schmiedete der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat durch Druck von außen, schiere politische Repression, zusammen, was nicht zueinander gehörte. Statt einer politischen Marginalisierung der radikalen Variante der Arbeiterbewegung marginalisierte der Obrigkeitsstaat, ganz anders als in England,

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die gesamte Arbeiterbewegung und überließ sie deshalb dem ideologischen Radikalismus der Intellektuellen. In dem Augenblick dann, in dem sich der Staatsdruck milderte, in dem sich politische Partizipationschancen auftaten, brach die Flügelbildung, sicher unter den Bedingungen des Weltkriegs, auf zur Spaltung. Es ist symptomatisch, dass die politische Arbeiterbewegung spätestens in den Kriegsjahren sowohl in England als auch in Frankreich in die Regierungsverantwortung einbezogen wurde, wenn das nicht schon vorher geschehen war – in Deutschland und Österreich blieb man weit davon entfernt. An diesem Punkt wird auch deutlich, dass man der Problemlage der Arbeiterbewegungen nicht mit einem allein auf die politischen Verkehrsformen bezogenen Verfassungsbegriff beikommt. Die von Gustav Mayer frühzeitig diagnostizierte Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie [Gustav Mayer, Arbeiterbewegung und Obrigkeitsstaat, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Bonn-Bad Godesberg 1972.] hat sich etwa in England nie vollzogen; hier wie in den USA wurden Facharbeiter Teile der unteren Mittelschicht und wählten konservativ oder liberal oder demokratisch; in England war der Gegensatz von „roughs„ und „respectables„ innerhalb der Arbeiterklasse wichtiger als jener zur Mittelschicht. Anders auch als die berühmte „Kragenlinie„ in den USA, teilte der obrigkeitlich hochstilisierte Gegensatz der Arbeiter zu den Angestellten und Beamten die deutsche Gesellschaft gezielt auf zwischen den revolutionären oder doch revolutionsverdächtigen Elementen und den alten und neuen Mittelständlern als einem Bollwerk der bestehenden Verhältnisse gegen die herandräuenden Massen. Aus dieser Sicht wird auch verständlich, dass „gelbe Gewerkschaften„ in der Schlussphase des Wilhelminismus einige Resonanz auf sich ziehen konnten, während konservativer gesinnte Arbeiter politische Zuflucht in den konfessionellen Arbeitervereinsbewegungen und wohl auch in der christlich-katholischen Gewerkschaftsbewegung suchten. Von der Selbstverständlichkeit des

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„Tory worker„ in England war das weit entfernt, ihr aber strukturell äquivalent

V.

In dem hier vorgetragenen Versuch einer Typisierung hat es selbstverständlich den idealiter reinen historischen Integrations- bzw. Radikalisierungstypus von Arbeiterbewegung nicht gegeben, aber der Überblick sollte vor allem zeigen, dass und wie sehr das 20. Jahrhundert, und zwar in seiner kurzen Version von 1914 bis 1990, von radikal unterschiedlichen Antworten auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Moderne geschüttelt wurde. Ich will einen kurzen Seitenblick auf die, wenn man so will, „Verunreinigungen„ der drei europäischen Typen richten. Einige davon habe ich schon erwähnt: rasche oder späte Industrialisierung, Milieubildung und Kultur, hinzuzufügen wären: Konfession, Urbanität. Zwei solcher „Verunreinigungen„ verdienen genauere Aufmerksamkeit: zum einen der Imitationskomplex in den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, zum anderen diejenige prägende Kraft der Geschichte, die sich am ehesten als Schwerkraft der Institutionen beschreiben lässt.

Ob es um den Export des Lassalleanismus nach Ungarn oder um die Nachahmung der unsinnigen christlich-freigewerkschaftlichen Gewerkschaftsspaltung in den Niederlanden, ob es um das Abschreiben des Erfurter, übrigens zum Teil des Hainfelder, Programms in Serbien oder Finnland oder irgendwo sonst ging - unbestreitbar war bis 1914 die Führungsrolle der deutschen im Rahmen der europäischen Sozialdemokratie nicht nur in der II. Internationale, sondern in einer Fülle von bilateralen Beziehungen. Diese Führungsrolle beruhte zum einen Teil -und im allgemeinen - auf dem Gewicht deutscher Kultur in der Mitte Europas, strahlend vor allem nach Norden, Osten und Südosten. Zum anderen Teil lag sie in dem imposanten Organisationserfolg der deutschen Sozialisten und Gewerkschafter begründet, der wie

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von selbst programmatischer Wahrheit zugeschrieben wurde; Kautsky war der vertrauengenießende Programmpatriarch nicht nur im Reich, sondern vor allem in den kleineren Staaten der Peripherie. In der ersten Sektion über Willy Brandt, die bisher auf einem deutschen Historikertag, jenem in Aachen 2000, stattfand, hat sich soeben Peter Merseburger darüber verwundert, dass Willy Brandt gewiss erzwungenermaßen Deutschland 1933 verließ, aber auch deshalb gerade nach Norwegen ging, weil er der norwegischen Sozialdemokratie die programmatischen Erkenntnisse der SAP nahezubringen gedachte - „unerhört arrogant„, so Merseburger. In Wahrheit lag darin noch eine Spur des programmatischen Papsttums, dessen deutsche Sozialisten inne sein konnten. Ich habe hier dagegen zu zeigen versucht, dass der organisatorische und programmatische Erfolg, ja, die frühe Erfindung der Sozialdemokratie überhaupt, ganz wesentlich auf den verfassungs- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen beruhte, die in Deutschland singulär ausgeprägt waren, mithin, dass es ein hohler Erfolg war, der gleichwohl historische Fakten setzte.

Zum zweiten die Schwerkraft der Institutionen oder, breiter gesprochen, das Fortwirken einmal geschaffener Faktizität, wie immer diese zustande kam. Das ist ein allgemeines gesellschaftspolitisches Problem, das man aber in der Arbeiterbewegung gut exemplifizieren kann. Wo wäre der Reformprozess in den deutschen Gewerkschaften geblieben, hätte es nicht das „Geschenk„ der sozialistengesetzlichen Katastrophe gegeben, aus der sie in schöner Reinheit mit Dachverband und der Möglichkeit von Industrieverbänden, die lokalistische Revolte abstreifend, auferstanden? Eine ähnlich euphemistische Formulierung für die Zeit des Nationalsozialismus verbietet sich, aber gewiss bleibt, dass die westdeutschen Gewerkschaften als Einheitsgewerkschaften bis um 1970 eine aparte, schlagkräftige Struktur hatten und sich jetzt erst mit Reformen plagen. Ohne den Segen solcher Katastrophen stritten die englischen und auch die amerikanischen Gewerkschaften, letztere bis zur Spaltung

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, und erstere erlebten erst die Ära Thatcher wenigstens teilweise als Götterdämmerung. Ob es die französischen Richtungsgewerkschaften so noch gäbe, wenn nicht zwei militärische Siege und zudem wohl die Volksfronterfahrung und vielleicht die Résistance eher strukturbestätigend gewirkt hätten?

Dabei ist kein Wort darüber verloren, ob nicht der historische Nachteil, das Zuspät- oder Zufrühkommen, das Abhängigsein, das fatale Bestätigtwerden, doch auch zugleich historische Vorteile, angemessenere Antworten etwa und auch kulturelle Adäquanz, in sich birgt. Die deutsche Sozialdemokratie etwa, die sich in Weimar eben ein wenigstens etwas moderneres Programm gegeben hatte, musste in Heidelberg aus Gründen der Integration der USPD wieder einen Schritt zurückgehen. Auf die Menschenrechte besann sich dann erst das Prager Manifest. Es ist dies ein Dokument der durch die Gewalt der Umstände erzwungenen Besinnung auf die Tugenden einer nicht in erster Linie sozialistisch gedachten Freiheit und Demokratie. Dann strömten die anderen Erfahrungen des Exils ein, aber es ist ja bekannt, welche Mißerfolge auszustehen und welche Auseinandersetzungen zu erleiden waren, bis man Godesberg gleichsam gewann.

VI.

Es sei nun ein stark verkürzender Blick auf die Zeit nach 1945 im Lichte des hier vorgestellten Interpretationsversuchs geworfen.

Für sich ist interessant, dass sich das neue Muster einer demokratisch integrierten Sozialdemokratie als maßgeblicher so-zialer Reformkraft auf der Bühne der politischen Parteien anscheinend in Europa von den kleinen Staaten her durchgesetzt hat. Gemeint ist vor allem Schweden, auch die Schweiz und die Niederlande. In Schweden begann der Weg sozialer Reformen, lange bevor sich anderwärts die Priorität der Demokratie vor

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dem Sozialismus durchsetzen konnte. Das war zum größten Teil durch Faschismus und Nationalsozialismus einerseits, durch den diktatorischen Kommunismus anderseits, also durch die totalitären Herausforderungen der europäischen Gesellschaften, bedingt. Es ging da jetzt um anderes, um rassistische oder sozialistische Weltherrschaft und um die Satelliten, derer man zu ihrer Verwirklichung bedurfte, jedenfalls zwischen 1917 und 1945 und sogar dann bis 1990.

Von der Peripherie ausgehend, wies die Entwicklung der europäischen Sozialdemokratien in der Nachkriegszeit eine geradezu erstaunliche Konvergenz auf. Während in kleinen Staaten ungebrochen fortreformiert wurde, beschritt Westdeutschland unter den größeren Staaten vielleicht den raschesten Reformweg. Von Schumacher eher vorübergehend national gestimmt, fand man zum Godesberger Programm, während die nicht längst, nein, immer schon so handelnde Labour Party eben noch ein paar Jahrzehnte mehr benötigte, um ihre berühmte Sozialisierungsklausel abzuschaffen. Dort, wo kommunistische Parteien stark waren, blieb die programmatische Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien gehemmt, zumal der neue Euro-Kommunismus reformistischen Wind aus den Segeln nahm. Die Sonderfälle schliffen sich allesamt ab, Spanien etwa und Portugal; der westliche Weg war erst ein skandinavischer, dann ein zentraleuropäischer, Österreich muss man gerade wegen anhaltender Verbalakrobatik einbeziehen, schließlich ein gesamteuropäischer, in dem es nur noch wenige Sonderfälle gibt, darunter aber der ganze Osten.

Was waren die Ursachen? Es gibt eine Reihe von Faktoren, die diesen Weg ermöglicht und gebahnt haben. Ich nenne die vermutlich drei wichtigsten dieser Faktoren. Da war,

erstens, die erstmalige Herstellung der Rahmenbedingungen von Integration in stabilen Demokratien, und das selbstverständlich nicht nur in Westdeutschland. Endlich klang, nach der desaströsen Diktaturerfahrung, die feudale Erbschaft im Sinne der Experimente über mögliche Staats- und Gesellschaftsformen bis

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hin zum Faschismus und Nationalsozialismus aus; man möge nicht übersehen, dass solche Gefahren in der Zeit nach 1918 nicht nur in denjenigen Ländern gedroht haben, die ihnen erlegen sind. Nicht zufällig ist der - Bismarck nicht gelingende - innere Verfassungskonsens in Westdeutschland friedlich, im Abstand jedoch von einer Generation nach dem Diktaturgeschehen, Ende der 60er Jahre erlangt worden. Das hing, zweitens, aufs engste mit dem langwährenden Besatzungsregime und dem Kalten Krieg, und zwar in mehrerlei Hinsicht, zusammen. Es gelang, zwei Generationen von Staatsbürgern unter äußerlich friedlichen, wenn auch bedrohten Umständen an Grundwerte und Verhaltensformen demokratischer Gesellschaften heranzuführen. Die Systemkonfrontation und notwendig antikommunistische Frontbildung erleichterte diese demokratische Sozialisation insofern, als Gegensätze und Folgen ihres Ausbleibens zu jeder Zeit eklatant erfahrbar waren, gerade im Herzen Europas und im deutsch-deutschen Gegensatz. Die Leistungsfähigkeit der demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung wurde auch Zweiflern erwiesen, zumal die Systemkonkurrenz den Ausbau des Sozialstaats förderte.

Drittens klangen die Bürden der klassen- und konfessionsspezifischen Sozialisationen auch in Westdeutschland aus, während sie in der DDR im Sinne der Orientierung am Arbeiterklassenstaat gegen den Willen der Menschen hypostasiert wurden. Die erblich gewordene Sozialisation in den Milieus wich offenen Formen der Vergesellschaftung, und zwar vor allem, weil klassenbezogene gesellschaftliche Grenzlinien durchlässig wurden. Das galt seit den 60er Jahren zumal im Bildungsbereich, im Militär, für die berüchtigte A-13-Schwelle der Beamten, im stark expandierenden öffentlichen Dienst überhaupt. Hier liegt eines der neben aller Ostpolitik überhaupt noch nicht hinreichend gewürdigten Verdienste der SPD-Regierungen. Es war auch die SPD, im Verein mit den Gewerkschaften, gewesen, die sehr bewusst nach 1945 auf den Wiederaufbau klassenbezogener Kulturformen verzichtete, sie auf dem Altar der Demokratie

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opferte; Stimmen dieser Richtung kamen von Waldemar von Knoeringen, Hans Böckler und auch Willy Brandt. Sicher, die nationalsozialistische Erfahrung half darin durch bittere Kosten im Zuge der Gleichschaltung - und sicher, das klang dann noch nostalgischer in den 70er Jahren, als frische Jungsozialisten aus Überzeugung an alte, aber verbrauchte und überlebte Partei- und Bewegungstraditionen anzuknüpfen versuchten. Aber der Prozess der Milieu-Erosion schritt unaufhaltsam voran, nicht nur in der Arbeiterbewegung, sondern besonders auch im deutschen Katholizismus. Damit wurde ein ganz anderer Boden einer unparteilichen, aber keineswegs unpolitischen Sozialisation bereitet.

VII.

Es soll hier nicht übersehen werden, dass es im sozialen und politischen Prozess, der in Europa die Sozialdemokratien teilweise vor den Gewerkschaften konstituierte, sehr wesentliche Ähnlichkeiten gegeben hat, die sich ganz überwiegend aus der vereinheitlichenden Erfahrung der kapitalistischen Märkte herleiteten. Indessen ist das hier vorgetragene Argument zweifach. Ich betone zum einen, dass es einen „europäischen Typus„ von Arbeiterbewegung gegeben hat und gibt, der auf der Erfindung der Sozialdemokratie beruhte und der durch die sozialdemokratische Parteibildung gekennzeichnet ist, eine Parteibildung, die in der Evolution moderner Demokratien offenbar keineswegs zwingend war. Zweitens betone ich, dass sich drei europäische Haupttypen von politischer Arbeiterbewegung unterscheiden lassen; diese Sichtweise schließt den methodischen Appell ein, den nationalen Verfassungsbedingungen und politischen Deutungskulturen in der Historiographie der Arbeiterbewegungen, nachdem diese Historiographie jetzt ein breites sozialgeschichtliches Feld durchschritten hat, wieder größere Aufmerksamkeit als bisher zu widmen.

[Seite der Druckausg.:38]

Dass es die europäischen Sozialdemokratien weiterhin gibt, beruhte einerseits auf der Trägheit der politischen Institutionen, aber entscheidend auf deren innerer Reformkraft unter dem Zwang der Wahlergebnisse. Auf diese Weise haben sie im demokratischen Spektrum je nach Wahlrechten teilweise durchgehend, teilweise überwiegend die Funktion der Whigs in England übernommen, während die Democrats in den USA die Entstehung einer Sozialdemokratie strukturell verhindern konnten. Die Zukunft der neuen osteuropäischen Sozialdemokratien hat sich noch keineswegs erfüllt, und die Schwäche der SPD in den östlichen Ländern der Bundesrepublik ist lehrreich. Man sollte sich eingestehen, dass die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme die Existenz starker Sozialdemokratien mehr begründet als die Dignität einer langen, opferreichen Geschichte, oder gar die Geschichte der Klassenkämpfe.

Darin aber, in einer auf Grundwerte bezogenen Orientierung in der Demokratie, wirkt Sozialdemokratie fort. Ihre Geschichte birgt eine Ideenfülle sonder gleichen, sie birgt neben der Möglichkeit der Irrtümer, den Fehlorientierungen und programmatischen Fehlwegen vor allem das an unveräußerlicher Menschenwürde gebundene Engagement für die Minderprivilegierten in den Positionskämpfen der freien Gesellschaften. Minderprivilegierte produziert die gesellschaftliche Entwicklung reichlich und stets aufs Neue; heute sind es weniger die vom Kapitalismus Unterdrückten, diese immer auch, als vielmehr die sonstwie Gescholtenen und Stigmatisierten, das untere Drittel sowieso, bestimmte Altersgruppen, weiterhin auch Frauen, vor allem Ausländer. Die Kunst der programmatischen Orientierung und Führung läge darin, diese Minderprivilegierten unter überzeugenden Werten, in Solidarität, mit der gesellschaftlichen Mitte mehrheitsfähig zu verbinden. Man kann das „demokratischen Sozialismus„ nennen. Systemkritik, einst das von den politischen Verhältnissen, durch Isolation und Unterdrückung, erzwungene und in jener älteren Zeit sehr wohl richtige Instrument sozialdemokratischer Politik, ist systemintern, aber nirgends mehr in der

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Brutalität eines anderen Systems unter der Vision der klassenlosen Gesellschaft gefragt. Da die radikale Variante von Systemkritik anderwärts, in anderen Ländern, weiterhin dringend ist und niemand der Zukunft sicher sein kann, empfiehlt es sich, auch die radikalen Traditionen der Arbeiterbewegung nicht verschütten zu lassen, sind sie doch die Wächter anderer Wege gewesen. Es ist letztlich das Format der bürgerlichen Gesellschaft in einer sozialdemokratischen Prägung, das in der Zukunft Bestand haben und Mehrheitsfähigkeit erlauben wird.

[Seite der Druckausg.:40 = Leerseite]


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