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Diether Koch
Der Streit über westdeutsche Rüstung in der evangelischen Kirche


Über die Eingliederung in das westliche Militärbündnis wurde seit 1950 in verschiedenen Organisationen gestritten. Aus zwei Gründen wähle ich die Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche als Thema: erstens, weil dieser Streit besonders intensiv zwischen Protestanten geführt wurde, und zweitens, weil Gustav Heinemann daran an herausragender Stelle beteiligt war. Ich beginne mit einem chronologischen Überblick und versuche dann eine Analyse.

Die evangelische Kirche war, äußerlich betrachtet, nach 1945 in einer günstigen Lage: Sie hatte als eine von ganz wenigen Organisationen den Nationalsozialismus überstanden und wurde von allen Besatzungsmächten gefördert. Sie bildete schon im Sommer 1945 einen Rat, zu dessen elf Mitgliedern auch Gustav Heinemann gehörte, sie vollzog 1948 in Eisenach einen neuen organisatorischen Zusammenschluss über alle Zonen hinweg und hatte seitdem in der Synode eine Vertretung aller evangelischer Landeskirchen aus ganz Deutschland. Heinemann präsidierte der Eisenacher Kirchenversammlung von 1948 und wurde im Jahr darauf zum ersten Präses dieser Synode gewählt.

Diese äußerlich einheitliche Kirche war jedoch in sich in verschiedene Richtungen zerspalten. Zwar waren die sogenannten Deutschen Christen, die Christus und Hitler auf einer Linie sehen wollten, 1945 von der Bildfläche verschwunden. Aber es gab nach wie vor auf der einen Seite die große Zahl der unpolitischen Christen, die sich grundsätzlich aus der Politik heraushalten wollten, wie sie es schon in der NS-Zeit getan hatten, auf der anderen Seite aber eine Anzahl von Protestanten, die als „Bekennende Kirche„ den sog. Kirchenkampf gegen die Deutschen

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Christen geführt hatten und Konsequenzen für die Zukunft daraus ziehen wollten. Diese Richtung setzte sich aber seit dem Kirchenkampf aus zwei Flügeln zusammen, einem größeren, eher konservativen, von Luther bestimmten, und einem kleineren, der eher von den Theologen Calvin und Karl Barth herkam. Die Mehrheit neigte mehr zur Wiederherstellung des Gewesenen, nur die Minderheit öffnete sich bewusst neuen Wegen. Gemeinsam hatten die Mitglieder des Rats der EKD im Oktober 1945 in Stuttgart das „Stuttgarter Schuldbekenntnis„ gesprochen, aber nur drei von ihnen vertraten es auch in der Folgezeit, darunter Pastor Martin Niemöller und Gustav Heinemann.

Beide Flügel waren und blieben sich wenigstens darin einig, dass sie nicht mehr, wie die evangelische Kirche nach 1918, an einer an Nation und Militär orientierten Sicht der Vergangenheit festhalten wollten; vielmehr traten sie dafür ein, dass die Kirche Frieden, auch im politischen Bereich, zu predigen habe: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.„ [ Amsterdamer Dokumente, Bethel 1948, S. 64.]
So gaben Rat und Synode in den ersten Nachkriegsjahren mehrere Erklärungen ab, in denen sie zum Frieden mahnten und den Hass verurteilten – Aufrufe, die angesichts der schrecklichen Erlebnisse vieler Ostdeutscher bei Kriegsende nötig waren. Auf der Synode in Berlin-Weißensee im Frühjahr 1950 wurde sogar in einem Satz gefordert, dass sich die Kirche der Kriegsdienstverweigerer annehmen sollte – eine neue Forderung gegenüber früherer Zeit, als Militärdienst fast jedem Protestanten als selbstverständlich erschienen war.

Die Friedens-Erklärungen hatten jedoch darin ihre Grenze, dass sie die Deutschen nur auf individueller, emotionaler Ebene ansprachen, während sie ihre politischen Appelle zum Frieden ausschließlich an die Siegermächte richteten: Die sollten im Kalten Krieg eine Zerreißung Deutschlands vermeiden, das als ein

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unteilbarer Körper gedacht war. Es fehlte in der evangelischen Kirche weithin das Bewusstsein, dass die Westdeutschen durch ihre politischen Entscheidungen für die Gründung einer Bundesrepublik Deutschland längst selbst handelten – und dass deshalb auch eine Mahnung an die Westdeutschen angebracht gewesen wäre, ihre politischen Handlungen im Blick auf Krieg und Frieden kritisch zu bedenken.

Nur Martin Niemöller bildete eine Ausnahme. Dem Leiter des Kirchlichen Außenamts war bewusst, dass die westliche Staatgründung der Einheit Deutschlands abträglich war, und er schlug Ende 1949 eine Wiedervereinigung Deutschlands unter UN-Kontrolle vor, um damit Konfliktstoff aus der Welt zu schaffen. Zu diesem Zeitpunkt war sein Freund Heinemann zwar noch davon überzeugt, dass die westdeutsche Politik dem Frieden und der Wiedervereinigung Deutschlands diente; aber er hielt Niemöllers Vorschlag doch wenigstens für diskussionswürdig – fand jedoch mit dieser Meinung wenig Anklang.

So war die Evangelische Kirche Deutschlands nicht „gerüstet„, nicht kritisch vorbereitet, als im Sommer 1950 der Krieg in Korea begann und der schon laufenden Diskussion um die Aufstellung deutscher Soldaten neue Nahrung gab. Auch in der Kirche wurde zunächst die allgemein verbreitete Deutung hingenommen, der Koreakrieg sei von Stalin vom Zaune gebrochen worden und Ähnliches sei in Deutschland zu befürchten. Zwar erklärte der Rat im August 1950 während des Essener Kirchentages: „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir nicht das Wort reden, weder was den Westen noch was den Osten anlangt.„ [2. Rat der EKD 1950: Kirchliches Jahrbuch 1950, S. 166.]
Aber schon auf dem Kirchentag wurde deutlich, dass dieses Votum nicht als eine einheitliche Meinung der ganzen EKD gelten konnte: Eugen Gerstenmaier erklärte es für „christlich geboten„, zur Aufstellung westdeutscher Soldaten bereit zu

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sein, um die Freiheit zu verteidigen: „Es geht schließlich [...] um die Erhaltung oder den Untergang des christlichen Abendlandes.„ [ E. Gerstenmaier, Reden und Aufsätze, Stuttgart 1956, S. 173.]
Ihm folgten fast alle Protestanten seiner Partei, der Christlich-Demokratischen Union.

Dagegen nahm Niemöller vehement gegen westdeutsche Aufrüstung Stellung. Der frühere U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, der sich noch zu Beginn des Zweiten als KZ-Insasse freiwillig zu erneutem Dienst in der Marine gemeldet hatte, hatte inzwischen eine erstaunliche Wandlung durchgemacht Als Konsequenz aus den militaristischen Irrwegen der Protestanten war er nun aufs Äußerste darauf bedacht, im Sinne Jesu Christi friedliche Wege auch im politischen Raum zu suchen. Die geheimen wie die öffentlichen Bemühungen der Bundesregierung um Aufstellung westdeutscher Soldaten erfüllten ihn mit Sorge und Zorn, und darin folgte ihm eine Schar entschiedener Protestanten.

Für Gustav Heinemann, den Bundesinnenminister und Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD, bedeutete der Herbst 1950 die Zerreißprobe seines Lebens. Als er erfuhr, dass Kanzler Adenauer den Westmächten heimlich, ohne das Kabinett zu verständigen und ohne Parlament und Volk zu fragen, ein Kontingent deutscher Soldaten angeboten hatte, trat er von seinem Amte zurück. In einer Erklärung listete er am 13. Oktober – also vor 50 Jahren - die innen- und außenpolitischen Gründe auf, die ihn zu diesem Schritt bewogen: die Sorge um die demokratische Entwicklung, um soziale und sozialpsychologische Auswirkungen, aber auch die Befürchtung, dass der Kalte Krieg dadurch verschärft und ein friedlicher Ausgleich verhindert würde. In einem besonderen Abschnitt versuchte Heinemann deutlich zu machen, weshalb er als Christ so handelte. Er sei kein Pazifist, müsse aber angesichts der deutschen Schuld im Zweiten Welt-

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krieg fragen, ob zu dem derzeitigen Zeitpunkt eine deutsche Aufrüstung vor Gott verantwortet werden könnte oder nicht vielmehr zunächst Umkehr und ruhiges Nachdenken im Vertrauen auf Gottes Hilfe nötig wären. [ D. Koch, Christen in politischen Konflikten des 20. Jahrhunderts, Bremen/Göttingen 1985, S. 99-101, und in: G. Heinemann, Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten, hrsg. v. D. Koch, Bonn 1999, S. 21-23, 110-113.]

Weder Niemöllers heftiges Nein noch Heinemanns im Ton maßvolles, in der Sache ebenso entschiedenes Nein konnten die Mehrheit in Rat und Synode der EKD überzeugen. Im November 1950 erklärte der Rat, die Frage der Aufrüstung könne im Glauben verschieden beantwortet werden; Niemöller wurde wegen der Heftigkeit gerügt, Heinemann wegen des Ernstes seiner Argumente anerkannt – der Rat hatte auf individueller Ebene einen Ausweg gesucht und scheinbar auch gefunden, war jedoch dem Ernst der Sach-Argumente ausgewichen.

In der Folgezeit kristallisierten sich in der EKD in der Rüstungsfrage in etwa die gleichen Flügel heraus, die es schon vor 1945 in der Bekennenden Kirche (BK) gegeben hatte. Eine Mehrheit von Lutheranern wie Theophil Wurm und Hanns Lilje war zur Bejahung des Militärs bereit - eine Minderheit lehnte sie ab. Ihr theologisches Leitbild bildete Karl Barth, der von Basel aus mehrfach in den neuen deutschen Kirchenstreit eingriff. Fast gleichzeitig mit Heinemanns Rücktrittserklärung schrieb er einen Offenen Brief an einen Berliner Pastor und führte darin seine Gründe gegen die Aufrüstung auf, die sich weithin mit denen Heinemanns deckten.

In dem Streit der Folgejahre bedingten sich politisch-militärische Sicht und theologische Ausgangsposition weitgehend gegenseitig. Für die von Luther bestimmte Mehrheit wurde das besonders an der Erklärung „Wehrbeitrag und christliches

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Gewissen„ deutlich, die im Februar 1952 von den meisten Landesbischöfen und anderen bekannten Protestanten veröffentlicht wurde. [ Kirchliches Jahrbuch 1952, Gütersloh 1953, S. 14-17.]
Sie begann mit der These, die Kirche habe die politische Frage nicht zu beantworten, ob „ein deutscher Beitrag zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ratsam sei oder nicht„, aber die Unterzeichner versuchten eine Antwort in Bezug auf das „christliche Gewissen„ zu geben. Unter Ausklammerung der politischen Tatbestände das Gewissen zu schulen – auf diesen merkwürdigen Gedanken konnten nur Menschen kommen, die Luthers Zwei-Reiche-Lehre vertraten. Danach regierte Gott in einem inneren Bereich, zu dem eben das Gewissen gehörte, mit seiner biblischen Weisung, während er für einen anderen, weltlichen Bereich politisch-militärische Mittel vorsah; Überlegungen für diesen Bereich gingen die Kirche weniger an. Im Text wurde dann aber durchaus politisch-prinzipiell argumentiert, wenn es z.B. hieß, es sei legitim, zum Schutze von Recht und Frieden militärische Machtmittel einzusetzen. Am Ende blieb als Hauptaufgabe der Kirche übrig, in einer entstehenden Armee „den Versuchungen der Ruhmsucht, des Ranggeistes und der Soldatenspielerei„, einer inhumanen Ausbildung und „dem Geist des Hasses, der Rache und der hemmungslosen Vernichtungslust„ entgegenzutreten. Wieder hatten sich evangelische Kirchenvertreter auf das Feld individueller Ratschläge zurückgezogen. Die Erklärung wurde von der Regierung in Bonn als Zustimmung zu ihrer Politik gewertet und dementsprechend verbreitet.

Eine Minderheit nahm die Argumente gegen Rüstung viel ernster. Bei ihr war Luthers Zwei-Reiche-Lehre schon seit längerem relativiert worden; seit dem Kirchenkampf war Barths Lehre von der „Königsherrschaft Jesu Christi„ an die erste Stelle gerückt. Sie besagte, dass Christen ihre Handlungen in allen Lebensbereichen vor Gott zu verantworten hätten. Barth führte in Band III/4 seiner Kirchlichen Dogmatik 1951 ausführlich aus,

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dass Christen dem Frieden zu dienen hätten. Die evangelischen Gegner westdeutscher Aufrüstung bemühten sich um kritische politische Analyse und nahmen schrittweise Tatsachen wahr, die ihr politisches Weltbild veränderten. Ich nenne einige: In Korea war nicht ein friedliebendes demokratisches Land im Süden von einem militaristischen im Norden überfallen worden, sondern es hatten sich zwei Diktaturen nach lange schwelendem Bürgerkrieg in einen offenen Krieg verwickelt, wobei dessen Beginn durchaus nicht klar war. Nach den deutschen Untaten im II. Weltkrieg konnten westdeutsche Soldaten im Osten nur als Provokation wirken. Die Politik der USA enthielt nicht nur defensive, sondern durchaus auch offensive Züge („Roll-back-Politik„). Kanzler Adenauer setzte im Frühjahr 1952 in mehreren dezidierten Erklärungen auf eben diese offensive Seite westlicher Politik („Neuordnung Osteuropas„) und erklärte 1953 sogar, dass „Deutschland jetzt tatsächlich im Mittelpunkt des Weltgeschehens steht„ [ Bulletin der Bundesregierung Nr. 75 vom 22.4.1953.] und nur die CDU Frieden, Freiheit und Wiedervereinigung garantiere, etc. Aus solchen Erkenntnissen wuchs bei diesen Protestanten die Tendenz, militärische Spannungen durch einen diplomatischen Ausgleich zwischen Ost und West abzubauen und auf diese Weise eine Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen – ein Versuch, an dem Heinemann an führender Stelle beteiligt war.

Die Bundestagswahl von 1953 zeigte jedoch, dass der Anteil jener kritischen Protestanten gering war, die eine politische Alternative suchten. Allerdings waren im Protestantismus noch gewisse Reserven gegen manche Begleiterscheinungen der geplanten Bewaffnung vorhanden, weil man negative Rückwirkungen auf die Glaubensbrüder in der DDR befürchtete. 1956 gab es sogar eine Mehrheit in der Synode der EKD für das Begehren, gleichzeitig Bedenken im Hinblick auf die Einführung der Wehrpflicht im Westen und auf die Rekrutierung von Solda-

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ten in der DDR vorzubringen. 1957 stimmte dann aber eine sehr große Mehrheit der Synode einem Vertrag mit der Bundesregierung über die Militärseelsorge zu, dessen Struktur militärischen Stellen ein indirektes Mitwirkungsrecht auf die Auswahl der Militärseelsorger einräumte. Heinemann gehörte zu der kleinen Minderheit, die eine solche Struktur ablehnte und auch daran Anstoß nahm, dass entgegen einem Synodalbeschluss der Vertragstext vor der Sitzung zwischen Adenauer und dem Ratsvorsitzenden Dibelius fertig ausformuliert worden war.

Ende der fünfziger Jahre führte die von der Regierung geplante Atombewaffnung in der evangelischen Kirche zu einer neuen, verschärften Auseinandersetzung. Ich kann sie kürzer darstellen, weil die Grundlinien der Argumentation auf beiden Seiten gleich blieben. Wie sie sich zuspitzten, will ich an einigen Beispielen schildern:

Martin Niemöller erkannte im Juni 1954 in einem Privatgespräch mit dem Atomphysiker Otto Hahn, dass Atombomben eine qualitativ neue Zerstörungskraft besaßen. Er las das Neue Testament daraufhin noch einmal und kam zu dem Schluss, dass ein Christ Atompazifist werden müsse. Diese Position hat er bis zu seinem Tode 1984 ohne Abstriche durchgehalten. Die „Kirchlichen Bruderschaften„ schlossen sich ihm an und wurden innerhalb des westdeutschen Protestantismus zum Widerpart gegen die Atomaufrüstung. Helmut Gollwitzers kritische Schrift „Die Christen und die Atomwaffen„ (1957) fand weite Verbreitung und Wirkung.

Von vielen Protestanten, besonders in der CDU, wurde hingegen die Atombombe als ein neues geeignetes Instrument zur Verteidigung westlicher Ordnung bejaht. Die CDU-Zeitschrift Evangelische Verantwortung machte sich sogar einen Text eines Schweizer Theologen, Peter Vogelsanger, zu eigen, der in der Waffe ein Mittel gegen den Antichrist erblickte, das den Chris-

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ten von Gott gegen „das Untier aus dem Osten„ gegeben sei; er meinte diese Behauptung auf eine Aussage von Paulus im 2. Thessalonicherbrief gründen zu können. [ P. Vogelsanger, Die Verantwortung der Kirche in der Atomfrage, in: Evangelische Verantwortung, August 1957.]

Diese CDU-Theologie stieß auf scharfen Widerspruch Gustav Heinemanns. In der berühmt gewordenen Bundestagsrede vom 23.1.1958 beschwor er, inzwischen Abgeordneter der SPD, seine „früheren Freunde von der CDU„, auf solche Töne zu verzichten. „Jesus Christus ist nicht gegen Karl Marx gestorben...„ Zuruf aus der CDU: „sondern?„ „...sondern für uns alle!„ Heinemann gab verschiedene Erklärungen von Christen wieder, die sich entschieden gegen die geplante Atomrüstung wandten. Eindringlich wies er darauf hin, „dass die Massenvernichtungsmittel von heute keine Waffen mehr sind.„ [ Heinemann: Einspruch, S. 123-126.]
Wer im Westen unter christlicher Parole Kalten Krieg betreibe, der melde die Mitchristen im Osten zur politischen Ausrottung an.

In dieser Meinung wurde er von Barth unterstützt, der sich mit zehn Thesen in den deutschen Streit einschaltete. Er ließ sie über Hannelore Hansch den Bruderschaften zugehen und empfahl, sie anonym zu verwenden, damit nicht schon der Name Barth, wie seit dem Kirchenkampf, die deutschen Protestanten verschrecke. Die Thesen enthielten eine radikale Absage an die Herstellung und Verwendung von Atomwaffen und gipfelten in These 10: „Ein gegenteiliger Standpunkt oder Neutralität dieser Frage gegenüber ist christlich nicht vertretbar. Beides bedeutet die Verleugnung aller drei Artikel des christlichen Glaubens.„ [ Koch, Christen in politischen Konflikten, S. 121.]
Die Bruderschaften baten die Synode der EKD, sich diese zehn Thesen zu eigen zu machen.

Die Synode griff die Thesen jedoch nicht auf, sondern gab in einer Erklärung lediglich die Kontroverse wieder und schloss

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mit der Versicherung: „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze.„ [A.a.O., S. 122.]
Ähnlich endete auch eine Erklärung der Atomkommission der Evangelischen Studiengemeinschaft von 1959, die als „Heidelberger Thesen„ berühmt geworden ist. Darin hieß es immerhin einerseits, die Kirche müsse „Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise„ anerkennen, andererseits aber, sie müsse auch den Versuch, mit Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, „als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise„ anerkennen. [ A.a.O., S. 125.]

Über diese sog. „Ohnmachtsformel„ ist die Evangelische Kirche in Deutschland nicht hinausgekommen. Die offiziellen Stellen haben das „noch„ nicht als dauernden Stachel empfunden, unablässig um eine inhaltliche Einigung zu ringen, sondern sich vielmehr mit dieser Formel beruhigt. Dabei gab sie nicht einmal eine formale Basis ab, auf der sich alle Richtungen hätten finden können. Die Kirchlichen Bruderschaften jedenfalls hatten ein Jahr vorher in ihrer Frankfurter Erklärung im wesentlichen die Position ihrer 10 Thesen wiederholt, die mit der Heidelberger Formel des Sowohl-als-Auch nicht zu vereinbaren war. Sie wurden Mitträger der jährlichen „Ostermärsche der Atomwaffengegner„, die den Widerspruch gegen die Bonner Pläne wachhielten.

Heinemann hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er in Bezug auf Atomwaffen zu keinem Kompromiss bereit sein werde. Er nahm wie viele gleichgesinnte Protestanten an der Bewegung „Kampf dem Atomtod„ teil. In der SPD geriet er in Bedrängnis, als die Partei sich 1960 aus der Kampagne zurückzog. Er bestand darauf, seine ablehnende Position weiter in der Partei zu vertreten, und fand dafür auch Verständnis.

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Es ist erstaunlich, dass die Evangelische Kirche in Deutschland als Ganze in den Folgejahren doch noch einen wichtigen Beitrag gegen die Rüstungsspirale lieferte, wenn auch nur in indirekter Form. Ich meine die sog. „Ostdenkschrift„ aus dem Jahre 1965. In dieser offiziellen Schrift der EKD über die Lage der vertriebenen Deutschen wurde ein Verzicht auf die früher deutschen Ostgebiete und Anerkennung jener Oder-Neiße-Grenze nahegelegt, die Gerstenmaier 1950 noch als „Grenze des Unfriedens„ [Berlin-Weißensee 1950, Bericht über die zweite Tagung der ersten Synode der EKD, Hannover o.J., S. 176.] charakterisiert hatte. Die zunächst sehr umstrittene Denkschrift gab einen Anstoß zu kritischer Selbstbesinnung in Kirche und Gesellschaft der BRD.- Ähnlich wirkte es sich aus, dass die Evangelische Kirche indirekt der Ostpolitik Willy Brandts den Rücken stärkte, sich jedenfalls nicht zum Sprachrohr der widerstrebenden CDU und ihrer Klientel machen ließ.

So kam es, dass Heinemann als Bundespräsident Anfang der siebziger Jahre für die BRD Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen und der DDR unterzeichnen konnte, die der Entspannung in Europa dienten. Er wiederholte gegenüber allem Streben nach Hochrüstung seine alte These „Der Frieden ist der Ernstfall, hinter dem es keine Existenz mehr gibt!„ [Heinemann, Einspruch, S. 131-133.] – nun mit stärkerer Wirksamkeit als vordem, und er rief die Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung ins Leben, die Ursachen kriegerischer Spannungen ergründen sollte.

Nach Brandts Rücktritt und Heinemanns Amtsende 1974 begannen jedoch bald wieder ungünstigere Jahre für Rüstungsgegner in der evangelischen Kirche. Ich beschränke mich im folgenden bei der Darstellung der Jahrzehnte nach Heinemanns Tode 1976 auf einen groben Überblick und skizziere vornehmlich einige Veränderungen gegenüber der Zeit davor. Nach wie vor war unter den Protestanten ein großer Teil, wenn auch viel-

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leicht nicht mehr immer die Mehrheit, geneigt, sich immer von neuem bedroht zu fühlen und deshalb immer weitere Rüstung für gerechtfertigt und nötig zu erachten.

Als Ende der siebziger Jahre die Einführung der Neutronenwaffe und Anfang der achtziger die sog. „Nachrüstung„ drohten, kam es zu neuem intensiven Streit um die Rüstungsfrage in der evangelischen Kirche, die sich auch in vielen Texten, in Aufrufen, Denkschriften und Büchern niederschlug. Es entstanden mehrere kritische Initiativen wie „Ohne Rüstung leben„ und „Christen für die Abrüstung„. Seit 1980 wurden vielerorts unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen„ Friedenswochen organisiert; der evangelische Kirchentag in Hamburg bildete 1981 für diese Christen ein Forum, und die engagierten Protestanten wurden ein Teil der Friedensbewegung. Sie bezogen in ihre kritische Analyse nun wirtschaftliche Fakten ein und deckten Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Militärpolitik, zwischen sozialpsychologischen Gegebenheiten und politischen Zielsetzungen, zwischen Rüstung im Norden und Armut im Süden der Erde auf.

Allerdings hatte diese zahlenmäßige Verbreiterung des Engagements den Nachteil, dass manche Protestanten nun ihre Mitstreiter weniger kritisch als zwanzig Jahre früher ansahen. Das betraf vornehmlich Kommunisten, deren ehrliches Engagement gegen westliches Militär nun leichter als vordem anerkannt wurde, während sachliche Unterschiede in der Zielsetzung überdeckt wurden. Manchen Protestanten erschien es nun im Rückblick sogar so, als ob sich allmählich ein „Bündnis von Pazifisten, Christen und Kommunisten„ gegen Rüstung gebildet hätte. Dagegen habe ich damals, 1982, eingewandt: „In Wahrheit hielt und hält jedoch nur ein kleiner Teil der Rüstungsgegner ein solches Bündnis für sachlich möglich und richtig... Es gilt heute, die Erkenntnis der Unterschiede zwischen Rüstungsgegnern

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ebensowenig aufzugeben wie das entschiedene Nein zur Rüstung im Westen wie im Osten.„ [D. Koch: Entgegnung auf Hannelis Schulte, in: Christen für Abrüstung 1982, H. 2, S. 70f.]

Mit den Jahren 1989/90 veränderte sich die Situation dann grundlegend. Die Supermacht im Osten löste sich in ihre Bestandteile auf, Russland nahm gegenüber dem Westen eine freundliche Haltung ein, das Deutschlandproblem wurde durch Anschluss der früheren DDR an die alte BRD gelöst. Es wäre an der Zeit gewesen, das Engagement für Rüstung ganz neu zu überdenken, in der Politik wie in der Kirche.

Leider geschah das innerhalb der evangelischen Kirche so wenig wie in der Gesellschaft der nun vergrößerten Bundesrepublik Deutschland. Rüstung wurde vielmehr, auch unter bewussten Protestanten, nach wie vor weithin für nötig erachtet. Dazu diente bei manchen als Begründung, dass sie die Wiedervereinigung Deutschlands als späte Frucht der von Adenauer betriebenen Aufrüstungspolitik ansahen, wobei sie die weltpolitischen Veränderungen in den seitdem vergangenen Jahrzehnten geflissentlich übersahen. Immer noch erschien Rüstung zur Sicherung als unumgänglich, nun allerdings gegenüber örtlich ferner liegenden Gefahren. Nach wie vor wurde grundsätzlich der Wille zum Frieden für die Kirche proklamiert und für die deutsche Politik als gegeben vorausgesetzt. So sah man weithin keinen Grund zur Revision eingenommener Positionen. Nicht einmal der Militärseelsorgevertrag wurde revidiert; die Landeskirchen aus dem Gebiet der früheren DDR, die ihn ablehnten, erhielten einen Sonderstatus auf Zeit zugebilligt. Bezeichnend für die Lage der EKD ist es, dass nach wie vor der Militärbischof in Personalunion auch die Vertretung der EKD gegenüber der Bundesregierung wahrnimmt.

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Diesem Trend gegenüber sahen sich die kritischen Gruppen in der EKD zur Weiterarbeit aufgerufen: Sie untersuchten kritisch die bestehenden Strukturen und konkrete Schritte von Politikern, Wirtschaftlern und Militärs. Als Beispiel nenne ich die „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer„, die unter der Leitung von Pastor Ulrich Finckh nicht müde wird, Meldungen des Verteidigungsministeriums, vornehmlich Zahlenangaben, kritisch zu überprüfen und immer wieder in der Öffentlichkeit Verzerrungen und Falschmeldungen aufzudecken.

Als Unterschied zu früheren Jahrzehnten wäre festzuhalten, dass sich die rüstungs-freundlichen und rüstungs-feindlichen Kräfte in der evangelischen Kirche heute nebeneinander dulden. Soldaten wie Zivildienstleistende sind in der evangelischen Kirche heute gleichermaßen anerkannt. Insofern hat sie sich inzwischen weit von der Weimarer Zeit entfernt, als ihr nur Militärdienst Pflicht zu sein schien. Das ist als ein Akt gegenseitiger Toleranz zu begrüßen, nimmt aber auch der Rüstungsfrage die Schärfe, die zu fortlaufender Kontroverse mit dem Fernziel, die Gegensätze zu überwinden, nötigt. Nach wie vor beunruhigt es nur einen Teil der protestantischen Christenheit in Deutschland, dass in der Rüstung Gefahren lauern - nicht nur in Russland, wo Waffensysteme verrotten, auch in den USA, das „Schurkenstaaten„ kennt und entsprechend behandelt, sondern auch bei uns. Deshalb gehen von leitenden Gremien der EKD nach wie vor wohl allgemeine Mahnungen zum Frieden aus, aber keine konkreten Proteste gegen Manipulationen von Zahlen durch die Regierung, Mißachtung von Grundgesetzartikeln, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Verteufelung von Staaten und Personen in den Medien usw. Dass „der Friede der Ernstfall ist„, in dem wir alle uns zu bewähren haben - in Gegenwart und Zukunft -, erscheint längst nicht allen Protestanten als eine vor uns liegende drängende Aufgabe – viele meinen, wir hätten uns schon bewährt und sollten auf bewährtem Wege bleiben.

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So endet mein chronologischer Überblick zwar nicht in Resignation, aber doch mit ungelösten Fragen. Ich will nun versuchen, die Rolle, die die evangelische Kirche in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gegenüber der Rüstungsfrage eingenommen hat, in einigen Grundzügen zu analysieren. Es wird dabei nötig sein, neben politischen verstärkt auch theologische Überlegungen, die ich bisher nur eingeflochten habe, heranzuziehen.

Die evangelische Kirche in Deutschland als Ganze hat nach 1945 niemals den Krieg verherrlicht. Sie hat durch ihre berufenen Sprecher und Organe aber auch nur wenig wegweisende Worte zur Problematik von Rüstung gesprochen. Sie hat jedoch unterschiedlichen Meinungen Raum gegeben und diesen Raum auch erhalten, so dass in ihr immer wieder Kontroversen ausgefochten werden konnten. So sind aus dem Bereich der EKD heraus immer wieder einzelne kritische Stimmen laut geworden, die auf übersehene Tatsachen hingewiesen und eine Umkehr von gefährlichen Wegen gefordert haben. Diese Stimmen haben vielen einzelnen Menschen, Christen wie Nichtchristen, geholfen, sich politisch zu orientieren, und damit auch indirekt zu einer Klärung der politischen Lage und zu einer Blickwendung der Öffentlichkeit beigetragen. Für diese Stimmen ist, unter anderen, Gustav Heinemann ein Beispiel.

Aber eine mal größere, mal kleinere Zahl von Protestanten war aus politischen wie theologischen Gründen zu solch kritischen Erkenntnissen nicht in der Lage, sondern ist bis heute immer wieder bereit, die Steigerung von Rüstung zu befürworten. Der gesellschaftlich-politische Grund dafür ist, dass die evangelische Kirche in der Bundesrepublik, bis vor kurzem noch weithin Volkskirche, damit auch die Ängste und Hoffnungen widerspiegelte, die sowieso in der Bevölkerung verbreitet waren; und weil die evangelische Kirche sich seit Generationen in ihrer Mehrheit vornehmlich aus dem Bürgertum rekrutiert, waren und

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sind es also auch vornehmlich Befürchtungen und Hoffnungen der politischen Rechten, die in der EKD zum Zuge kamen und kommen. Ihnen erschien Rüstung als geeignetes Mittel, ihre Freiheiten wie ihre Besitztümer zu schützen. Diese Grundhaltung wurde auch nicht im Blick auf das Schicksal der Protestanten in der DDR in Frage gestellt, die im Osten lebten; diese blieben, während sich die Glaubensbrüder im Westen absicherten, dem - Sowjetsystem ausgeliefert.

Diese politische Grundhaltung wurde durch drei tradierte theologische Lehren verstärkt, die besonders unter den Lutheranern, der übergroßen Mehrheit deutscher Protestanten, eine Rolle spielten.

Die erste evangelische Lehre habe ich schon erwähnt: die „Zwei-Reiche-Lehre„ Luthers, wonach Gott in einem eher geistlichen Bereich durch sein Wort auf die Christen wirkt, während er angeordnet hat, dass in einem eher weltlichen Bereich die nötige Ordnung unter Anwendung von Gewalt unter allen Menschen durchgesetzt wird. Polizei und Militär sind danach für jeden Christen unmittelbar einleuchtend positive Größen, und wer darüber auch nur kritisch denkt, gerät seit der Reformationszeit in den Verdacht eines unbiblischen Schwärmertums; diesen Verdacht mussten sich denn auch nach 1945 die Gegner westdeutscher Aufrüstung immer wieder gefallen lassen (ob sie nun prinzipiell oder konkret argumentierten).

Die zweite problematische Lehre der Lutheraner war die von den„Schöpfungsordnungen„, in die der Christ gestellt sei, um in ihnen zu wirken und sie als Notordnungen zu bewahren. Diese Lehre hatte seit Generationen die Tendenz unterstützt, bevorzugte politisch-gesellschaftliche Ordnungen religiös zu überhöhen: vorgestern die Monarchie und insbesondere Preußen, gestern Deutschland als Staat und das deutsche Volk, dann sogar das Deutschland Adolf Hitlers und die arische Rasse und nun,

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nach 1945, Europa, das Abendland und die „freie Welt„. Als Gegenbild zu Gottes Schöpfungsordnung erschien dann fortwährend der kommunistische Osten als Bereich von Unordnung und drohender Gefahr, als ein Gegenreich, gegen das man sich mit christlichem „Fug und Recht„ zu bewaffnen hatte, zur Not bis an die Zähne.

Womöglich spielte als dritte Ursache lutherischen Fehldenkens über Rüstung und Frieden auch die Tatsache eine Rolle, dass Martin Luther aus den zehn Geboten, die im zweiten Mosebuch aufgezeichnet worden sind, eins nicht übernommen hat, das Bilderverbot. Es heißt hier (Ex. 20,4): „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das [im Wasser] unter der Erde ist.„ Wer darauf verzichtet, sich das sagen zu lassen, liefert sich der allgemein-menschlichen Neigung aus, sich Gesamtbilder vom politisch Guten oder Bösen zu machen.

Die drei Lehren stützen sich insofern noch gegenseitig, als keine von ihnen kritische politische Analyse und kritische historisch-politische Forschung für wichtig erachtet, sondern alle auf quasi deduktivem Wege Handlungsanweisungen geben. Deshalb wurde nicht kritisch aufgearbeitet, dass sich die angeblichen „Schöpfungsordnungen„ Gottes – positive Gesamtbilder, die man sich machte! - im Laufe der Generationen je nach Lage als recht veränderlich erwiesen und durchaus problematische Größen umfasst hatten. Und so wurde auch nicht kritisch erkannt, dass die Lage Westdeutschlands nach 1945 mit früheren nationalstaatlichen Kategorien gar nicht erfasst werden konnte, geschweige denn das komplizierte Verhältnis der Kontrahenten im Kalten Kriege und die Rolle der West- und Ostdeutschen zwischen ihnen.

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Zu einer kritischeren Betrachtung von westdeutscher Rüstung im Kalten Krieg war nur eine mal kleinere, mal größere Minderheit innerhalb der evangelischen Kirche in der Lage - auch diese sowohl aus politischen als auch aus theologischen Gründen. Die politische Ausgangsbasis dieser Gruppe war die Einsicht, dass vor 1945 sehr viele evangelische Christen politisch in die Irre gegangen und Schuld auf sich geladen hatten, nicht erst in der NS-Zeit, sondern schon viel früher. Diese Erkenntnis wurde zuerst im Darmstädter Wort des Bruderrats zum politischen Weg unseres Volkes 1947 formuliert und blieb für viele lebenslang die politische Richtungsangabe. Aus ihr ergab sich als zwingende Folge, dass man sich als Christ kritisch sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Gegenwart befassen musste.

Theologisch fußten viele Anhänger dieser Richtung – ich deutete es schon an - auf Barths Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi, die in der Barmer Theologen Erklärung von 1934 kirchenpolitische Gestalt gewonnen hatte. In These II wird betont, dass Jesus Christus „Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden„ und zugleich „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben„ ist. Die Meinung wird verworfen, als gäbe es „Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.„ [Koch: Christen in politischen Konflikten, S. 72-74.]
Damit wurde die politische, auch die militärpolitische Ebene zu einem Bereich erklärt, der unmittelbar vor Gott zu verantworten war, und zwar wie der private Bereich jeweils konkret.

Politische und theologische Erkenntnisse verstärkten sich also auch bei diesen Protestanten gegenseitig. Die Frage nach politischer Schuld und Umkehr war und ist für diese Christen eine Frage ihrer evangelischen Existenz.

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Ich kann nun aber nicht schließen, ohne in einem letzten Teil kritische Korrekturen an dem Bilde anzubringen, das ich bisher zu leichterem Verständnis etwas holzschnittartig gezeichnet habe. (Dabei verzichte ich noch auf eine genauere Betrachtung der genannten theologischen Lehren, obwohl das an sich auch nötig wäre.)

Ich stelle zunächst fest, dass die von mir als „Mehrheit„ und „Minderheit„ klassifizierten Richtungen in der evangelischen Kirche keine festen Größen waren, die jahrzehntelang als Formationen erkennbar gewesen wären; gerade in den letzten Jahrzehnten bietet der Protestantismus ein vielfältigeres Bild. Auch für die ersten Nachkriegsjahrzehnte wäre zu ergänzen, dass es unter der konservativen Mehrheit durchaus auch Protestanten gab, die eine Umkehr von früheren Irrwegen wollten: Sie setzten an die Stelle früherer Überschätzung des Militärs seine Bejahung als eine bloße bittere Notwendigkeit; sie setzten an die Stelle der Überschätzung von Volk und Staat eine Bejahung der Völkergemeinschaft und Europas als politischer Räume, in denen man menschenwürdig existieren konnte. - Aber – bei dieser Kritik bleibe ich: im Grunde verfielen sie auf den neuen Ebenen alten problematischen Denkgewohnheiten.

Doch auch auf den neuen Wegen der Minderheit drohten mehrere Gefahren; ich nenne zunächst die politischen: Als Reaktion darauf, dass die Kirche früher Militär prinzipiell hoch geschätzt und zu deutschen militärischen Untaten geschwiegen hatte, lag nun eine Hinwendung zu prinzipiellem Pazifismus nahe, der die jeweilige Lage unberücksichtigt ließ; als Reaktion auf heftige Propaganda für westdeutsche Aufrüstung lag nicht minder heftige und manchmal grobe Abwehr nahe, der einer Wirkung abträglich war; als Reaktion auf prinzipielles antikommunistisches Denken lag für manche eine Verteidigung östlichen Staatssystems und als Reaktion auf unkritisches Vertrau-

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en auf die USA zugespitzte Kritik an der USA nahe - beides von der Sache her problematisch...

Theologische Gefahren deute ich nur an: Mit der Anerkennung der politischen Schuld und der unmittelbaren Verantwortung der Rüstungsfrage vor Gott konnte sich die Tendenz verbinden, ein Nein zur Rüstung für theologisch unmittelbar evident zu halten und die politische Argumentation zu vernachlässigen; an die Stelle der Furcht vor dem Osten konnte eine doppelte Furcht vor Ost und West und vor einen Krieg treten, der die Erde unbewohnbar machen würde...

Aus der Rückschau scheint es mir heute, als ob wir evangelischen Rüstungsgegner nicht frei davon gewesen seien, an die Stelle des einen Schreckensbildes (das „Untier aus dem Osten„) mehrere kleinere Schreckensbilder zu setzen... Es wäre an einzelnen Gestalten der evangelischen Kirche zu untersuchen, ob und wieweit sie diesen Gefahren nachgegeben haben. Für mich war Gustav Heinemann deshalb ein Vorbild, weil er sich bemühte, diese Gefahren zu vermeiden.

Zwei evangelische Einsichten habe ich von ihm und seinen Mitstreitern wie Niemöller und Iwand zu lernen versucht. Einmal das Vertrauen auf Gott, der die Weltgeschichte in Händen hält, so dass man als Mensch gelassen jede Situation kritisch bedenken kann und nicht zu fliehen braucht; Heinemann nannte das etwas altmodisch das „Weltregiment Gottes„. Sodann: das Vertrauen darauf, dass Jesus Christus Schuld vergibt, wie groß sie auch sei, so dass man als Christ außer der persönlichen auch politische Schuld ins Auge fassen kann und nicht vor ihr zu fliehen braucht. Beides ist schwer zu begreifen, und es ist nötig, dass man sich immer neu der biblischen Botschaft öffnet. Mir geht nicht aus dem Gedächtnis, dass mir vor dreißig Jahren ein Abiturient sagte, ich spräche zwar anerkennend von Heinemanns

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Gelassenheit in jeder Situation, ließe aber selbst diese Gelassenheit vermissen...

Im Rückblick finde ich, dass ich mit dieser Schwäche nicht allein stehe. Manche Argumente gegen westdeutsche Aufrüstung waren auch in der evangelischen Kirche zu grob, manche Töne zu schrill, als dass sie hätten gehört werden können. Und manche Tatsachen wurden nicht früh und deutlich genug erkannt. Ich wundere mich heute vor allem darüber, dass wir evangelischen Rüstungsgegner den deutschen Vernichtungsfeldzug im Osten seit 1941 und seine Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis der Sieger im Osten und Westen nicht nüchterner und intensiver zur Kenntnis genommen haben. Gewiss, das geschah in Ansätzen, besonders bei Hans Joachim Iwand. Hätten aber wir alle wahrgenommen, was im Osten vernichtet worden war, dann wäre uns das wahre Kräfteverhältnis zwischen Ost und West nach dem Kriege, und das heißt: die große militärische wie wirtschaftliche Überlegenheit des Westens früher deutlich geworden; dann hätte unsere Ablehnung westdeutscher Rüstung besser untermauert, in der Sache bestimmter und auch im Ton gelassener sein können.

Dass wir dann eher gehört worden wären, wage ich allerdings nicht zu behaupten; ich fürchte eher das Gegenteil. Aber infolge dieser Überlegungen kann ich doch am Ende die Rolle evangelischer Christen zur Rüstungsfrage nicht in einem Satz beurteilen. Ich fasse so zusammen: Politisch gesehen, hat die lutherisch bestimmte Mehrheit nach 1945 in jeder Phase zu unkritischer Bejahung von Rüstung, eine Minderheit jedoch zu kritischer Sicht beigetragen – theologisch gesehen, haben fragwürdige theologische Lehren die Haltung der Mehrheit entscheidend mitbestimmt, fußte die Minderheit auf einer tragfähigeren theologischen Grundlage; aber auch ihr Vertrauen auf Gott und auch ihr kritisches politisches Denken über die Lage genügte nicht immer für ein klares Urteil. Immerhin: wir können für das dank-

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bar sein, was innerhalb der evangelischen Kirche während des jahrzehntelangen Streits um die Rüstung erkannt worden ist. Ich bin dafür dankbar: in der Hoffnung, dass diese Quelle kritischer Erkenntnis auch heute und morgen nicht versiegt.

Literaturauswahl

Dietrich Goldschmidt (Hrsg.): Frieden mit der Sowjetunion – eine unerledigte Aufgabe, Gütersloh 1989

Helmut Gollwitzer: ... dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik, Bd. 1 und 2, München 1988

Gustav W. Heinemann: Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze zu Kirche – Staat – Gesellschaft 1945-1975, hrsg. v. D. Koch, Frankfurt/Main 19761, München 19902; ders.: Es gibt schwierige Vaterländer. Aufsätze und Reden 1919-1969, hrsg. v. H. Lindemann, Frankfurt 19771, München 19882; ders.: Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten, hrsg. v. D. Koch, Bonn 1999.

Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Frieden wahren, fördern und erneuern. Eine Denkschrift, Gütersloh 1981

Bertold Klappert/Ulrich Weidner: Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrüstung, Wuppertal 1983

Diether Koch: Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972; ders.: Christen in politischen Konflikten des 20. Jahrhunderts, Bremen/Göttingen 1985

Ulrich Möller: Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957-1962, Neukirchen 1999

Wolf Werner Rausch/Christian Walther (Hrsg.): Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, Gütersloh 1978

Dietmar Schmidt: Martin Niemöller, Hamburg 19591, Stuttgart 19832

Uwe Schütz: Gustav Heinemann und das Problem des Friedens im Nachkriegsdeutschland, Münster 1993

Friedhelm Solms u.a. (Hrsg.): Friedensgutachten 1997, Münster 1997

Jörg Thierfelder/Matthias Riemenschneider: Gustav Heinemann. Christ und Politiker, Karlsruhe 1999

Johanna Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung, Göttingen 1978

Rolf Wischnath (Hrsg.): Frieden als Bekenntnisfrage, Gütersloh 19853.


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