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TEILDOKUMENT:


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Karl-Ludwig Sommer
Adenauers Konzeption, Heinemanns Alternative und die Nachwirkungen der gefällten Entscheidungen bis zum heutigen Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen


Am Morgen des 20. Januar 1956 trat Bundeskanzler Konrad Adenauer zu einer kurzen Ansprache vor die zur ersten Vereidigung angetretenen Soldaten der Bundeswehr-Lehrkompanie in Andernach. Damit betonte er demonstrativ den Stellenwert der in seinem Sinne gefallenen Entscheidung über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, auf die er seit Ende der 40er Jahre ungeachtet wiederholter öffentlicher Dementis hartnäckig hingearbeitet hatte. Militärische Erwägungen waren dafür allerdings nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Motiv, sondern Adenauer hatte in der Aufstellung westdeutscher Truppen im Rahmen des westlichen Militärbündnisses von Anfang an ein Mittel gesehen, mit dem er mehrere außen- und innenpolitische Zielsetzungen gleichzeitig zu verwirklichen hoffte. Dies war zunächst einmal die Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik, die ihr von den drei Westmächten bislang vorenthalten worden war und die er im Gegenzug für die Wiederbewaffnung einzuhandeln suchte. Im Anschluss daran erwartete der Bundeskanzler, dass die Bundesrepublik im westlichen Bündnis zumindest als gleichrangig behandelt werde oder sogar als europäischer Hauptschauplatz des Kalten Krieges eine gewisse Sonderstellung im Vergleich zu den anderen kleineren Bündnispartnern beanspruchen könne.

Innenpolitisch sollte die Wiederbewaffnung als integraler Bestandteil der von Adenauer betriebenen Politik der unbedingten Westbindung der Bundesrepublik nicht zuletzt dazu dienen, die bundespolitische Führungsrolle, die die Unionsparteien nach der ersten Bundestagswahl im September 1949 erlangt hatten, auf

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lange Sicht zu festigen. Adenauer stimmte nämlich in der Beurteilung der parteipolitischen Konstellation im Nachkriegsdeutschland mit hochrangigen politischen Beratern der US-Militärregierung in Deutschland und den meisten Deutschlandexperten des State Department dahingehend überein, dass im Falle gesamtdeutscher Wahlen Anfang der fünfziger Jahre mit einem Sieg der SPD und der anschließenden Wahl ihres Vorsitzenden Kurt Schumacher zum Regierungschef zu rechnen wäre. Dagegen musste die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis zwar absehbar zu einer Verfestigung und Vertiefung der Spaltung Deutschlands führen, versprach aber eben deshalb unter parteistrategischen Gesichtspunkten durchaus Vorteile für die Unionsparteien und vor allem für Adenauer selbst. Da er dies gegenüber der westdeutschen Öffentlichkeit jedoch auf keinen Fall zugeben konnte, wählte Adenauer die Sprachregelung, dass die Westintegration der Bundesrepublik einschließlich der Aufstellung westdeutscher Militäreinheiten der schnellste und am ehesten Erfolg versprechende Weg zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland sei. Diese Behauptung war zwar mit der Alltagserfahrung der großen Mehrheit der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland schwerlich in Einklang zu bringen. Adenauer versuchte aber, sie mit folgender Argumentationskette plausibel zu machen: Die Sowjetunion betreibe zusammen mit den ihrem Führungsanspruch unterworfenen „Satellitenstaaten„ des Ostblocks eine aggressive, auf politischen Einflussgewinn und vielleicht sogar militärische Eroberungen in Westeuropa abzielende Politik. Sie habe nach Ende des Zweiten Weltkriegs jeden Versuch vereitelt, alle vier Besatzungszonen umfassende staatliche Strukturen in Deutschland zu schaffen, und könne nur durch politischen und militärischen Druck zu Zugeständnissen in der deutschen Frage veranlasst werden. Mit der Wiederbewaffnung Westdeutschlands werde nicht nur eine notwendige Vorkehrung zum Schutz der Bundesrepublik, der westeuropäischen Staaten und des gesamten abendländisch-christlichen Kulturkreises vor der Sowjetunion und dem Bol-

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schewismus getroffen, sondern auch ein so wesentlicher Beitrag zur Stärkung des westlichen Bündnisses geleistet, dass sich die Sowjetunion innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes bereit finden werde, über die „Herausgabe der Zone„ zu verhandeln.

In den ersten Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hatte demnach die Wiedervereinigung für Adenauer einen geringeren Stellenwert als das Sicherheitsproblem, das er wiederum zu einem guten Teil selbst zu verantworten hatte. Adenauer hatte nämlich wiederholt erklärt, das westliche Bündnis werde nach der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik stark genug sein, die Befreiung der Staaten des Ostblocks aus der „bolschewistischen Knechtschaft„ und eine „politische Neuordnung Osteuropas„ durchzusetzen; Staatssekretär Walter Hallstein, der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers, hatte präzisiert, das Ziel bestehe in der Schaffung eines Vereinten Europa, das sich vom Atlantik bis zum Ural erstrecke. Für die sowjetische Führung bedeuteten derartige Äußerungen nach dem Vernichtungskrieg, den Deutschland erst wenige Jahre zuvor gegen die Sowjetunion geführt hatte, ohne Frage eine Bedrohung, die Stalin für so schwerwiegend hielt, dass er im Frühjahr 1952 die Initiative ergriff: Unmittelbar vor dem Abschluss vertraglicher Vereinbarungen über die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis bot er den Westmächten in der sog. „März-„ oder „Stalin-Note„ Verhandlungen über die Wiederherstellung eines vereinigten Deutschland an, das außerhalb der beiden weltpolitisch konkurrierenden Blöcke bleiben müsste, ansonsten jedoch politische Handlungsfreiheit haben sollte.

Die Frage, ob dieses Angebot ernst gemeint war oder ob es sich nur um ein Propagandamanöver ohne substantiellen Gehalt handelte, ist bereits damals in Politik und Öffentlichkeit in Westdeutschland heftig diskutiert worden und hat bis heute unter dem Schlagwort von der „verpassten Gelegenheit„ wiederholt Historiker beschäftigt, die sie sehr unterschiedlich beant-

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wortet haben. Entscheidend war, dass die Westmächte das sowjetische Angebot auf Drängen Adenauers ablehnten, ohne auch nur zu erkunden, ob die sowjetische Führung wirklich zu Verhandlungen bereit war, und auch anschließend auf die modifizierten Angebote nicht eingingen, die die sowjetische Regierung jeweils in Reaktion auf ablehnende westliche Antwortnoten unterbreitete. Konrad Adenauer bewertete die sowjetischen Noten als einen ersten Erfolg seines Konzepts einer „Politik der Stärke„ und begründete seine strikte Ablehnung der sowjetischen Offerten damit, dass sie nur darauf abgezielt hätten, Westdeutschland zu isolieren und damit zugleich das westliche Bündnis insgesamt zu schwächen. Außerdem seien die von der Sowjetunion gestellten Bedingungen für die Wiedervereinigung nicht akzeptabel gewesen, die nach seiner Auffassung nur in Form eines Anschlusses der Ostzone an die Bundesrepublik erfolgen konnte - unter Übernahme ihres politischen Systems und ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, ohne Rücksicht auf die zum Teil sehr deutlich abweichenden Gegebenheiten, die in der sowjetischen Zone seit Kriegsende entstanden waren. Wenn die Bundesregierung und die Westmächte ihre Politik der festen Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis unbeirrt fortsetzten, würde sich die Sowjetunion über kurz oder lang auf die westlichen Vorstellungen zur Lösung der Deutschlandfrage einlassen müssen.

Adenauers Konzeption wurde von der sozialdemokratischen Opposition abgelehnt, obwohl deren Führer Kurt Schumacher sowohl die Gründung der Bundesrepublik als auch deren enge Bindung an den „freien Westen„ grundsätzlich für richtig hielt und nicht einmal prinzipielle Einwände gegen eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands erhob. Er war allerdings der Auffassung, dass die Anerkennung der vollen Gleichberechtigung der Bundesrepublik eine unabdingbare Voraussetzung für etwaige Vereinbarungen über deren Eingliederung in das westliche Bündnis sein müsse und nicht erst deren Ergebnis und warf

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Adenauer zudem vor, dass sich der Bundeskanzler zum Erfüllungsgehilfen der Westmächte in der Ost-West-Konfrontation mache und dabei gesamtdeutsche Interessen vernachlässige.

Auch in der CDU gab es Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre einige wenige führende Politiker, die Kritik an der außen- und deutschlandpolitischen Konzeption Adenauers übten. Einer von ihnen war Gustav Heinemann, Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Essen, Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags und vorübergehend auch Justizminister des Landes sowie seit Herbst 1949 Bundesinnenminister im ersten Kabinett Adenauer. Diese Position verdankte Heinemann, der Ende der 40er Jahre eigentlich nicht in die Bundespolitik hatte wechseln wollen, ganz wesentlich den konfessionellen Rivalitäten innerhalb der CDU. Auf der ersten Ministerliste, die der Katholik Adenauer nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen mit der FDP und der Deutschen Partei der Bundestagsfraktion seiner eigenen Partei vorgelegt hatte, waren nämlich für fast alle wichtigen Ressorts Katholiken vorgesehen. Dies löste in evangelischen Parteikreisen erheblichen Unmut aus, den Adenauer mit dem Zugeständnis zu dämpfen suchte, dass ein Protestant für das Amt des Innenministers nominiert werden könne. Daraufhin wurde Heinemann vorgeschlagen, der als Mitglied des Rats und Präses der Synode der EKD führende Laienämter in der evangelischen Amtskirche innehatte. Zugleich galt er im Unterschied zu den meisten anderen zukünftigen Kabinettsmitgliedern als unabhängiger und selbstbewusster Politiker, dem zugetraut wurde, dass er dem als autoritär bekannten und gefürchteten Adenauer wenn nötig auch widersprechen würde.

Tatsächlich gab es bereits zum Jahresende 1949 im Bundeskabinett erste Differenzen zwischen Heinemann und Adenauer, denen in den ersten Monaten des Jahres 1950 weitere folgten. Sie drehten sich zumeist darum, ob die Bundesregierung gemäß der Konzeption Adenauers auf den raschen Vollzug der West-

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integration der Bundesrepublik drängen dürfe, was nach Heinemanns Überzeugung die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland immens erschweren musste und sogar östliche Gegenmaßnahmen provozieren konnte. Darüber hinaus war Heinemann nicht bereit, die oft eigenmächtigen Entscheidungen Adenauers gerade in außen- und deutschlandpolitischen Fragen hinzunehmen, und beharrte statt dessen darauf, dass alle Mitglieder des Bundeskabinetts gleichberechtigt an Entscheidungen in grundlegenden Fragen beteiligt werden müssten. Unter diesen Vorzeichen kam es im Sommer 1950 zum offenen Bruch, als Adenauer dem amerikanischen Hochkommissar in Deutschland kurz nach Beginn des Korea-Krieges ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung im Kabinett ein lange Zeit geheim gehaltenes „Sicherheitsmemorandum„ übergab. Darin bot der Bundeskanzler die Aufstellung westdeutscher Einheiten im Rahmen gemeinsamer militärischer Maßnahmen des westlichen Bündnisses zur Abwehr der „Bedrohung aus dem Osten„ an, wie sie von Adenauer unterstellt und im Memorandum in stark übertriebener Form geschildert wurde. Parallel dazu übergab Adenauer ein zweites, bezeichnenderweise nicht geheim gehaltenes Memorandum, in dem er es - ohne direkt auf das Sicherheitsmemorandum Bezug zu nehmen, aber unverkennbar in Zusammenhang damit - für überfällig erklärte, das einseitig von den Westmächten erlassene Besatzungsstatut aufzuheben und durch eine mit der Bundesrepublik ausgehandelte Neuregelung ihrer rechtlichen Beziehungen zu den Westmächten zu ersetzen.

Als Adenauer das Bundeskabinett Ende August 1950 ohne Nennung inhaltlicher Details davon unterrichtete, dass er die Memoranden übergeben hatte - was am selben Tage bereits in den Zeitungen gemeldet worden war -, erklärte Heinemann spontan, er werde von seinem Amt als Innenminister zurücktreten. Wenig später übermittelte er dem Bundeskanzler ein entsprechendes schriftliches Gesuch, das dieser allerdings mehrere Wochen lang unbeantwortet ließ, um öffentliches Aufsehen um

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Heinemann und die Gründe, die ihn zu seinem Schritt veranlasst hatten, zu vermeiden. Erst Anfang Oktober 1950 kam Adenauer der Bitte Heinemanns nach, ihn aus dem Bundeskabinett zu entlassen, und versuchte dabei noch einmal - wie bereits in den voraufgegangenen Wochen - Heinemann unter Hinweis auf die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit daran zu hindern, öffentlich zu seinem Rücktritt Stellung zu nehmen, dieses Mal allerdings vergeblich: In einer längeren Ausarbeitung, die als Flugblatt verbreitet und der Presse zur Veröffentlichung zugeleitet wurde, führte Heinemann Mitte Oktober 1950 eine ganze Reihe unterschiedlicher Gründe an, die ihn zu seinem jetzt auch öffentlich wahrgenommenen spektakulären Schritt veranlasst hatten.

Als erstes stellte Heinemann heraus, die Westdeutschen hätten keine Veranlassung, von sich aus eine aktive Beteiligung an westlichen Aufrüstungsmaßnahmen anzubieten, und sollten abwarten, ob die Westmächte mit einem derartigen Ansinnen an die Bundesrepublik herantreten würden. Die Konzeption Adenauers, dass die Bundesrepublik als Gegenleistung für die Wiederbewaffnung die volle Souveränität erhalten und im westlichen Bündnis als gleichberechtigt anerkannt werde, war in Heinemanns Augen reine Spekulation, weil „es ganz und gar freier Entschluss der Westmächte sein wird, ob sie Gleichberechtigung gewähren.„ Als weiteren Einwand gegen die Aufstellung westdeutscher Truppen führte Heinemann an, dass sie zu erheblichen Einschränkungen der „sozialen Gestaltungsmöglichkeiten„ führen werde, und wies dann darauf hin, dass die Möglichkeit einer westdeutschen Wiederbewaffnung in fast allen europäischen Nachbarländern Besorgnisse wecken müsse. Dies gelte z.B. für Frankreich, wo erhebliche Vorbehalte gegen eine Aufstellung deutscher Truppen nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bestünden, und treffe in noch stärkerem Maße für Russland zu, das „den furor teutonicus in besonderem Maße erlebt und ebenfalls nicht vergessen„ habe, so dass die Wieder-

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bewaffnung dort ohne Frage besonders provozierend wirken würde.

Als das gewichtigste seiner praktisch-politischen Argumente führte Heinemann schließlich an, dass es sich im Falle eines unter Beteiligung deutscher Soldaten geführten Krieges zwischen West und Ost in Europa für Deutschland nicht nur, wie für alle anderen europäischen Staaten, um einen nationalen Krieg, sondern um einen Bruderkrieg handeln würde. Er würde zudem in Anbetracht der geopolitischen Gegebenheiten, die als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs in Europa entstanden seien, auf deutschem Boden ausgetragen werden, wobei damit zu rechnen wäre, dass bestimmte deutsche Landschaften mehrfach zum Kriegsschauplatz würden. Angesichts dieser Sachlage hätten die Deutschen „wahrlich bis zum Äußersten ein Lebensinteresse daran„, dass es nicht zu einem Krieg in Europa komme. Ein solcher Krieg wäre für die beiden Supermächte in Ost und West und ihre jeweiligen Verbündeten „zwar ein todernstes Spiel um die Existenz„, würde für sie „aber immerhin noch eine Chance des Gewinnens oder doch des Überlebens„ beinhalten. Für die Deutschen würde er dagegen „mit höchster Wahrscheinlichkeit„ den Tod bedeuten, „weil wir das Schlachtfeld eines beiderseitigen totalen Vernichtungswillens sind. Natürlich kann Deutschland jederzeit von den anderen zum Schlachtfeld gemacht werden. Aber wir legitimieren unser Deutschland selbst als Schlachtfeld, wenn wir uns in die Aufrüstung einbeziehen.„ [ Gustav W. Heinemann, Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten, hrsg. v. Diether Koch, Bonn 1999, S. 110ff.]

Außerdem machte Heinemann deutlich, dass eine Wiederbewaffnung Deutschlands zum damaligen Zeitpunkt nicht mit seinem Verständnis von politischem Handeln aus christlicher Verantwortung zu vereinbaren war, und schloss seine Rücktrittsbegründung mit grundsätzlicher Kritik an Adenauers Politikver-

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ständnis und Führungsstil, die ihm eine weitere Zugehörigkeit zum Bundeskabinett unmöglich machten: „Mein Rücktritt aus der Bundesregierung ist erfolgt, weil ich die Verantwortung nicht tragen kann, die einem Bundesminister zugemutet wird. Wo die dem Kanzler obliegende Bestimmung der politischen Richtlinien so verstanden wird, dass eine gemeinsame Willensbildung nicht stattfindet, und wo jeder nur mit Vorwürfen zu rechnen hat, der sich den Richtlinien nicht willig fügt, möchte und kann ich keine Mitverantwortung tragen. Mein Ausscheiden aus der Bundesregierung möge das deutsche Volk vor die Frage führen, wie es sich Demokratie denkt und was es von seinen Ministern erwartet. Es möge die deutschen Männer und Frauen insbesondere in der vor uns stehenden sachlichen Frage der Wiederaufrüstung veranlassen, selber nachzudenken und ihren Willen deutlich zum Ausdruck zu bringen.„ [ Ebda., S. 22ff.]

Heinemann hoffte, mit seinem Rücktritt ein Zeichen für alle diejenigen gerade auch in der eigenen Partei zu setzen, die ihm zuvor mündlich oder schriftlich ihre Zustimmung zu seiner Kritik an Adenauers Konzeption mitgeteilt hatten, und eine breite öffentliche Diskussion darüber in Gang zu bringen, dass eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands die Wiedervereinigung auf unabsehbare Zeit unmöglich machen musste. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Im Gegenteil, gleichsam über Nacht wurde Heinemann in der CDU zur Unperson und in der Bundesrepublik zum politischen Außenseiter. Denn die öffentliche Äußerung von Zweifeln, dass die Wiederbewaffnung den Westdeutschen keineswegs ein höheres Maß an Sicherheit gegenüber dem Osten bieten und schon gar keine Vorteile für die Menschen in der sowjetischen Zone mit sich bringen werde, wurde Anfang der 50er Jahre unter dem Eindruck der antikommunistischen Grundstimmung, die in Westdeutschland vorherrschte und zunehmend militante Züge annahm, als zumindest

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einfältig, wenn nicht subversiv oder eindeutig pro-kommunistisch abqualifiziert. Adenauer begnügte sich damit, die Sachverhalte, an denen Heinemanns Kritik ansetzte, schlicht als frei erfunden oder nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend in Abrede zu stellen; die westdeutschen Zeitungen widmeten dem Zerwürfnis zwischen dem Bundeskanzler und seinem Innenminister zwar zunächst eine gewisse Aufmerksamkeit, verloren aber - wie Adenauer gehofft hatte - in den Wochen bis zur endgültigen Entlassung Heinemanns zusehends das Interesse, zumal sich andere für die Situation im geteilten Deutschland wichtige Ereignisse in den Vordergrund drängten, wie etwa die Wahlen in der DDR oder der erste Bundesparteitag der CDU.

Anfang 1951 entwickelte Gustav Heinemann auf der Grundlage der Argumente, die er in seiner Rücktrittsbegründung angeführt hatte, eine eigene, positive Konzeption, die darauf abzielte, die Diskussion um Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung aus der Sackgasse herauszuführen, in die sie als Folge der Behauptung Adenauers geraten war, dass die Wiederbewaffnung den Weg zur Wiedervereinigung bereiten werde. Heinemann ging von der Überlegung aus, dass die Zukunft des geteilten Deutschland eine der zwischen Ost und West am heftigsten umstrittenen Fragen sei. Deshalb müssten nicht nur die Deutschen selbst, sondern auch ihre europäischen Nachbarn ein besonderes Interesse an einer Überwindung der Spaltung Deutschlands haben, um auf diese Weise das Risiko eines Krieges in Europa deutlich zu vermindern. Dies sei allerdings nur möglich, wenn den wechselseitigen Bedrohungsängsten und Sicherheitsbedürfnissen in Ost und West gleichermaßen Rechnung getragen werde, woraus sich für Heinemann die zwingende Schlussfolgerung ergab, dass ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der Militärblöcke bleiben müsse und dann die Funktion einer Brücke zwischen West und Ost übernehmen könne.

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Diese Vorstellungen versuchte Heinemann zunächst vor allem mit Vorträgen vor kirchlichen Foren und in Beiträgen für die evangelische Wochenzeitschrift „Stimme der Gemeinde„ publik zu machen, die sich als Sprachrohr der kirchlichen Bruderschaften in der Tradition der Bekennenden Kirche verstand. Heinemann erkannte jedoch bald, dass seine Erwartung, aus dem Milieu des kritischen Protestantismus politische Denkanstöße geben zu können, unrealistisch war, weil Adenauer und die Unionsparteien ihren außen- und deutschlandpolitischen Kurs ja ausdrücklich als „christliche Politik„ bezeichneten und damit nicht nur bei einer großen Mehrheit der Katholiken, sondern auch bei vielen westdeutschen Protestanten Zustimmung fanden. Deshalb gründete Heinemann im November 1951 zusammen mit der Katholikin Helene Wessel, der damaligen Vorsitzenden der Zentrumspartei, und einigen weiteren Gleichgesinnten die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas„. Sie war bewusst als überparteiliche und nicht konfessionell gebundene Organisation konzipiert und wollte mit außerparlamentarischen Aktivitäten, u. a. einer Unterschriftensammlung für eine Petition an den Bundestag, das Konzept eines „dritten Weges„ zwischen Ost und West in Westdeutschland publik machen. Aber auch dieser Versuch, ein breiteres Publikum für eine Alternative zu Adenauers außen- und deutschlandpolitischem Kurs zu gewinnen, verlief letztendlich enttäuschend. Denn einerseits verweigerten die Sozialdemokraten, die aus Sicht der Notgemeinschaft sozusagen der „natürliche„ Koalitionspartner gewesen wären, jede Zusammenarbeit. Andererseits war Heinemann in der CDU zu diesem Zeitpunkt bereits derart isoliert, dass er innerparteilich nicht mit Unterstützung für seine Kritik an Adenauer und für sein alternatives deutschlandpolitisches Konzept rechnen konnte, so dass er im Herbst 1952 die Konsequenz zog und aus der CDU austrat.

Heinemann und mehrere andere führende Mitglieder der Notgemeinschaft waren damals bereits zu dem Schluss gekommen, dass sie nur mit einer eigenen Partei wirklich Einfluss auf die

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politische Diskussion um die Zukunft des geteilten Deutschland nehmen könnten. Mit Blick auf die im Herbst 1953 anstehende Bundestagswahl gründeten sie daher Ende November 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei, in deren Programmatik eine aktualisierte Version von Heinemanns Konzept, Deutschland aus den militärischen Blöcken auszuklammern, breiten Raum einnahm, während die Aussagen zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen recht kurz und eher vage ausfielen. Ausschlaggebend dafür war, dass nach Meinung Heinemanns und seiner Mitstreiter zum damaligen Zeitpunkt eine endgültige Entscheidung über die Wiederbewaffnung - und damit eben auch eine gewichtige Vorentscheidung in Sachen „Wiedervereinigung„ - unmittelbar bevorstand. Adenauer hatte sich nämlich parallel zu seinem Drängen auf ungeprüfte Ablehnung der sowjetischen Noten vom Frühjahr 1952 mit Erfolg darum bemüht, die seit Herbst 1951 laufenden Gespräche über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu beschleunigen, die Ende Mai 1952 mit der Unterzeichnung der sog. „Westverträge„ abgeschlossen wurden. Darin war zum einen die Aufstellung westdeutscher Militäreinheiten für eine supranationale Europa-Armee vorgesehen, die unter Beteiligung Frankreichs, Italiens und der drei Benelux-Staaten gebildet werden und der NATO unterstellt sein sollte. Zum anderen war in einem „Generalvertrag„ geregelt, dass das Besatzungsstatut aufgehoben werden sollte, welche besonderen Rechtsbeziehungen zwischen den drei Westmächten und der Bundesrepublik fortan gelten sollten und dass die Bundesrepublik mit dem Inkrafttreten der Westverträge souverän werden sollte.

Das Ergebnis der Bundestagswahl 1953 bedeutete einen herben Rückschlag für Gustav Heinemanns politische Zielsetzungen. Die GVP scheiterte klar an der 5 %-Hürde und musste sich schon deshalb von ihren Plänen verabschieden, eine Koalition mit der SPD zu bilden und die Regierung Adenauer abzulösen, zumal es den Sozialdemokraten nicht gelungen war, ihr nach

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eigener Einschätzung ohnehin bescheidenes Wahlergebnis von 1949 zu verbessern. Demgegenüber hatten die Unionsparteien ihren Stimmenanteil auf mehr als 45 % steigern können und verfügten zusammen mit ihren Koalitionspartnern im neuen Bundestag über die 2/3-Mehrheit der Mandate. Von entscheidender Bedeutung für dieses Ergebnis war, dass viele westdeutsche Wähler unter dem Eindruck des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 und dessen gewaltsamer Niederschlagung nur allzu bereit gewesen waren, Adenauers beständigen Erklärungen Glauben zu schenken, dass die Bundesrepublik akut aus dem Osten bedroht und es deshalb besonders dringlich sei, Truppen zu ihrem Schutz aufzustellen.

Gustav Heinemann konzentrierte sich unter diesen Vorzeichen darauf, die Ungereimtheiten der Argumentation Adenauers und deren schwerwiegende Konsequenzen für das geteilte Deutschland aufzuzeigen. Dies schien nicht zuletzt deshalb mehr Erfolg zu versprechen als die Propagierung eigener alternativer Konzepte, weil die geplante Aufstellung westdeutscher Kontingente für eine übernationale Europa-Armee hinfällig wurde, als die französische Nationalversammlung im August 1954 die Ratifizierung der Verträge über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ablehnte. Die Frage der Wiederbewaffnung und ihrer Konsequenzen für das geteilte Deutschland blieb aber dennoch akut, weil bereits im Oktober 1954 mit den „Pariser Verträgen„ eine Ersatzlösung ausgehandelt wurde, die Adenauers Zielsetzungen weit mehr entsprach als die geplante EVG: Die Bundesrepublik sollte jetzt der NATO als formal gleichberechtigter Mitgliedstaat beitreten und eigenständige, der NATO unterstellte Streitkräfte aufbauen, musste sich allerdings mit Rücksicht auf die in den westlichen Nachbarländern gegen eine westdeutsche Wiederbewaffnung bestehenden Vorbehalte verpflichten, bestimmte Rüstungsbeschränkungen wie z.B. den Verzicht auf Atomwaffen und große Kriegsschiffe einzuhalten.

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Auch als der Aufbau der Bundeswehr im Frühjahr 1956 begonnen hatte, hielt Konrad Adenauer daran fest, dass damit ein wesentlicher Schritt in Richtung auf eine baldige Wiedervereinigung des geteilten Deutschland getan werde. Er bediente sich dieser Sprachfigur allerdings nicht mehr so ausgiebig wie zu Beginn der Diskussion um die Wiederbewaffnung, sondern stellte jetzt immer häufiger das Argument in den Mittelpunkt seiner einschlägigen Ausführungen, dass sich die Bundesrepublik gegen einen Angriff aus dem Osten verteidigen können müsse. Auch in diesem Zusammenhang wurde im Regierungslager mit den Ausdrücken „Wehrbeitrag„ oder „Verteidigungsbeitrag„ und der Benennung des neu eingerichteten Ressorts in „Bundesverteidigungsministerium„ eine besondere Sprachregelung gewählt, die die Argumentation Adenauers, dass die Aufstellung westdeutscher Militäreinheiten eine Reaktion auf die Bedrohung aus dem Osten darstelle und rein defensiven Charakter habe, verbal unterstreichen sollte. Ohne dass Adenauer dies offen zugegeben hätte, hatte die Politik der Stärke die Sowjetunion also keineswegs zu Verhandlungen über die Herausgabe der Zone, sondern im Gegenteil dazu veranlasst, auf die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte mit Gegenmaßnahmen zu reagieren, wie sie von Heinemann und anderen Opponenten der Adenauerschen Aufrüstungspolitik immer wieder als absehbar bezeichnet worden waren: Nur wenige Tage nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO am 9. Mai 1955 wurde am 14. Mai 1955 mit dem Warschauer Pakt das östliche Militärbündnis formell besiegelt, dem neben den anderen von der Sowjetunion kontrollierten Staaten Osteuropas auch die DDR angehörte. Ende Juli 1955 benutzte Nikita Chruschtschow, der Nachfolger Stalins an der Spitze der KPdSU und spätere Regierungschef der Sowjetunion, während eines Besuchs in Ostberlin erstmals die Formulierung, es gebe zwei deutsche Staaten, und im September des Jahres erklärte die Sowjetunion die DDR für souverän. In Zusammenhang damit konnte das SED-Regime seine Herrschaft nachhaltig stabilisieren und die Maßnahmen zur Abschottung der DDR

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gegenüber der Bundesrepublik, die im Juni 1953 zum Teil zurückgenommen worden waren, erneut in Kraft setzen und sogar verschärfen. Zugleich entledigte sich Walter Ulbricht einer starken oppositionellen Gruppierung innerhalb der SED-Führung, die dafür plädierte, dass die unter Ulbricht eingeleitete Umgestaltung der DDR in einen sozialistischen Staat nicht zu energisch betrieben werden dürfe, weil ansonsten eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten über Gebühr erschwert werde.

Angesichts dieser Entwicklung kam der Bundestagswahl im Herbst 1957 nach Auffassung Gustav Heinemanns und anderer führender Mitglieder der GVP überragende Bedeutung zu, weil sie die letzte Chance bedeutete, die Regierung Adenauer abzulösen und mit einer neuen Regierung den längst überfälligen außen- und deutschlandpolitischen Kurswechsel vorzunehmen. Dies erforderte eine Bündelung der oppositionellen Kräfte in der Bundesrepublik, weshalb sich die GVP im Mai 1957 auflöste und ihren Mitgliedern und Anhängern empfahl, die SPD zu wählen oder in die Partei einzutreten, wie es Heinemann, Helene Wessel und einige weitere führende GVP-Mitglieder taten. Dennoch schnitten die Sozialdemokraten bei der Wahl am 15. September 1957 nur geringfügig besser ab als vier Jahre zuvor, während Adenauer und die Unionsparteien ihre ohnehin dominierende Position im Bundestag noch ausbauen konnten und sogar die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielten. Für Heinemann persönlich markierte diese Wahl dennoch einen wichtigen Meilenstein seiner politischen Laufbahn. Er nahm erstmalig einen Sitz im Bundestag ein und wurde als Mitglied der SPD-Fraktion zu deren Kronzeugen gegen Adenauers Aufrüstungspolitik. Dies machte er in der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 23. Januar 1958 eindrucksvoll deutlich, als Heinemann eine „Generalabrechnung„ mit Adenauers Sicherheits- und Deutschlandpolitik vornahm und den Kanzler mit der Begründung zum Rücktritt aufforderte, dass seine Politik

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Deutschland eben nicht der Wiedervereinigung näher gebracht, sondern im Gegenteil zur fortschreitenden Verfestigung und Vertiefung der Teilung beigetragen habe. Außerdem übte Heinemann unter Berufung auf einschlägige kirchliche Verlautbarungen scharfe Kritik daran, dass Adenauer das Attribut „christlich„ für seine Politik in Anspruch nahm, und brachte diesen Vorwurf mit der Formulierung auf den Punkt, dass der Ost-West-Konflikt eben keine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Marxismus sei, sondern dass es um die Erkenntnis gehe, „dass Christus nicht gegen Karl Marx gestorben ist, sondern für uns alle.„ [ Ebda., S. 123.]

Heinemanns alternatives deutschlandpolitisches Konzept, auf der Grundlage eines Ausgleichs der wechselseitigen Sicherheitsinteressen in Ost und West zur Wiedervereinigung zu gelangen, fand jetzt endlich breitere öffentliche Aufmerksamkeit und schlug sich auch im „Deutschlandplan„ der SPD nieder, der unter Mitwirkung Heinemanns erarbeitet wurde. Er sah eine Föderation der beiden deutschen Staaten als ersten Schritt zu deren Vereinigung vor, die unter wechselseitiger Respektierung der beiderseits der innerdeutschen Grenze seit Kriegsende entstandenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen erfolgen sollte. In Anbetracht der eindeutigen parlamentarischen Kräfteverhältnisse sahen der Bundeskanzler und die Regierungsparteien allerdings keine Veranlassung, sich auf eine Diskussion über diesen Plan einzulassen, den die SPD im Frühjahr 1959 veröffentlichte. Statt dessen hielten sie zumindest verbal an der Vorgabe fest, die eigene Konzeption mittels politischen und militärischen Drucks durchsetzen zu können, obwohl es der Sowjetunion im Laufe der 50er Jahre gelungen war, in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit dem „freien Westen„ um die Zukunft des geteilten Deutschland nicht nur mitzuhalten, sondern sogar Boden gut zu machen. Dies hatte sich be-

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reits bei der Konferenz der Außenminister der Vier Mächte im Februar 1954 in Berlin sowie anlässlich der Genfer Gipfelkonferenz im Sommer 1955 abgezeichnet und wurde endgültig klar, als die sowjetische Führung im November 1958 versuchte, mit dem „Berlin-Ultimatum„ eine grundlegende Veränderung des status quo in Deutschland zu ihren Gunsten zu erzwingen. Als dies nicht gelang, gab sie im Sommer 1961 dem Drängen der SED-Führung nach und stimmte dem Bau der Mauer in Berlin und dem Ausbau der Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze zu.

Die Berliner Mauer markierte den endgültigen Fehlschlag der „Politik der Stärke„; an eine Wiedervereinigung war in absehbarer Zeit nicht mehr zu denken. Dennoch hatte dies für den Bundeskanzler keine nennenswerten Konsequenzen, sondern er konnte sogar die zentralen Elemente seiner außenpolitischen Konzeption unverändert beibehalten, dass die DDR kein eigenständiger deutscher Staat sei und dass Fortschritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung nicht durch Zugeständnisse der Bundesregierung und der Westmächte gegenüber dem SED-Regime und der Sowjetunion erkauft werden dürften. Denn in den Unionsparteien gab es zum damaligen Zeitpunkt keinen hochrangigen Politiker mehr, der es gewagt hätte, Adenauers Kurs grundsätzlich in Frage zu stellen. Und die SPD-Führung hatte es inzwischen aufgegeben, Alternativen zur Konzeption Adenauers zu entwickeln und offensiv zu vertreten, weil sich dies an den Wahlurnen offenbar nicht auszahlte. Statt dessen war sie auf den Kurs einer „gemeinsamen Außenpolitik„ von Regierung und Opposition eingeschwenkt, die ideologisch auf dem Grundmuster des „Kalten Krieges„ zwischen Ost und West aufbaute und die Anerkennung der in den zurückliegenden Jahren als Folge der Adenauerschen Aufrüstungspolitik entstandenen Realitäten in Deutschland bedeutete.

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Gustav Heinemann war mit diesem Kurswechsel nicht einverstanden, arrangierte sich damit aber unter der Prämisse, dass es der SPD vorrangig darum gehen müsse, bei der nächsten Bundestagswahl ein so gutes Ergebnis zu erzielen, dass es unmöglich würde, eine Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten zu bilden, die dann für eine Neubestimmung des außen- und deutschlandpolitischen Kurses Sorge tragen könnten. Für ihn persönlich bedeutete der Kurswechsel seiner Partei allerdings, dass sie für einen Kronzeugen gegen Adenauers Politik keine Verwendung mehr hatte. Dies machte es ihm leichter, sein deutschlandpolitisches Engagement weitgehend aufzugeben und sich in der Rechtspolitik ein neues Aufgabengebiet zu erschließen, zumal es ihm nach seinen eigenen Worten nicht lag, „verlorene Schlachten ewig fortzuführen und nachträglich noch gewinnen zu wollen.„

Mit einer Auswahl eigener Reden und Zeitungsartikel aus den 50er und frühen 60er Jahren, die unter dem Titel „Verfehlte Deutschlandpolitik - Irreführung und Selbsttäuschung„ veröffentlicht wurde, zog Heinemann Mitte der sechziger Jahre schließlich eine persönliche Bilanz seiner Auseinandersetzungen mit dem Bundeskanzler. Darin lieferte er in kompakter Form den in den Jahren zuvor jeweils aus gegebenem Anlass geführten Nachweis, dass es sich bei Adenauers deutschlandpolitischer Konzeption um eine verhängnisvolle Kombination von Irreführung und Selbsttäuschung gehandelt hatte. Der Bundeskanzler habe die Menschen in Deutschland ganz bewusst über die wahren Motive seines Handelns im Unklaren gelassen und sie mit der Behauptung in die Irre geführt, dass die Westintegration der Bundesrepublik und deren Wiederbewaffnung der schnellste und am ehesten Erfolg versprechende Weg zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland wären. Die große Mehrheit der Westdeutschen wiederum habe sich nur zu gerne der Selbsttäuschung hingegeben, dass es Adenauer gelingen könne, die Sowjetunion durch politischen und militärischen Druck zur „Herausgabe der

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Zone„ zu zwingen, weil sie nicht bereit waren, die kontinuierliche Verbesserung der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zugunsten gesamtdeutscher „Experimente„ aufs Spiel zu setzen und sich in Zusammenhang damit eine Einstellung als vorherrschend durchgesetzt hatte, die Heinemann zufolge mit den Worten charakterisiert werden konnte: „Viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen, und Kirchen, die beides segnen.„

Ein Rückblick auf die deutschlandpolitische Diskussion der 50er Jahre führt zwangsläufig zu der Frage, welche Motive hinter Adenauers Konzeption und seiner Politik der unbedingten Westintegration der Bundesrepublik standen. Mit Rücksicht darauf, dass der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands in der ersten Nachkriegszeit für die große Mehrheit der Deutschen beiderseits des „Eisernen Vorhangs„ einen außerordentlich hohen emotionalen Stellenwert hatte, bezeichnete Adenauer die Wiedervereinigung zwar in entsprechenden öffentlichen Stellungnahmen als das absolut vorrangige Ziel seiner Politik. Tatsächlich setzte er aber ganz andere Prioritäten. Ihm ging es zuerst und vor allem darum, die volle Souveränität für die von ihm regierte Bundesrepublik zu erlangen, die er nicht als westdeutschen Teilstaat begriff, sondern als das eigentliche, staatsrechtlich in die Nachfolge des im Zweiten Weltkrieg untergegangenen Deutschen Reiches eingetretene Deutschland.

Die Souveränität der Bundesrepublik sollte zum einen ihre Gleichberechtigung mit den anderen Nationen einschließlich der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gewährleisten. Zum anderen war sie unbedingt erforderlich, um den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch aufrecht erhalten zu können: Demnach waren nur die politischen Instanzen der Bundesrepublik politisch, rechtlich und moralisch legitimiert, für das ganze deutsche Volk, also auch die Bewohner der sowjetischen Zone und sogar diejenigen Deutschen zu sprechen, die noch in den unter sowje-

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tische und polnische Verwaltung gestellten Gebieten östlich von Oder und Neiße lebten. Dies entsprach Adenauers Verständnis, dass die Bundesrepublik das eigentliche Deutschland sei, und gab ihm nach eigenem Verständnis das Recht, sich allen Versuchen entschieden zu widersetzen, zwischen der Sowjetunion auf der einen und den Westmächten auf der anderen Seite zu einem Interessenausgleich über Deutschland zu kommen.

Unter dieser Prämisse hatte die Wiederbewaffnung ganz besonderen Stellenwert, weil sich die Bundesrepublik damit nach Meinung Adenauers in eine Position brachte, in der sie nicht übergangen werden konnte und von den Partnern im westlichen Bündnis sogar besonderes Verständnis für die Probleme erwarten durfte, die sich aus der deutschen Teilung ergaben. Außerdem gab es noch einen zweiten Gesichtspunkt, aufgrund dessen der Wiederbewaffnung aus Adenauers Sicht besondere Bedeutung zukam: Die Bundesrepublik dokumentierte damit, dass sie sich als integraler Bestandteil des „freien Westens„ und insbesondere des christlich-abendländischen Westeuropa verstand, dessen Existenz durch das „Vordringen Asiens bis an die Elbe„ aufs höchste bedroht sei. Der Zusammenschluss der westeuropäischen Staaten unter Führung Frankreichs und Deutschlands zu einem Vereinten Europa, das in Bezug auf die flächenmäßige Ausdehnung fast dem karolingischen Reich zur Zeit Karls des Großen entsprach, eine ähnlich enge, wenngleich völlig anders strukturierte Wechselbeziehung von Politik und Religion aufwies und zudem überwiegend katholisch geprägt war, war Adenauer weit wichtiger als die Wiederherstellung eines mehrheitlich evangelischen, „preußischen„ Gesamtdeutschland nach dem Vorbild des Bismarck-Reiches. Die Gebiete östlich der Elbe waren kein integraler Bestandteil dieses Vereinten Europa und bedurften demnach keiner besonderen politischen Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, solange die Sicherheit Westeuropas vor einem weiteren Vordringen des Bolschewismus gewährleistet war.

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Im Einklang mit seinen politischen Bestrebungen, das Vereinte Europa zu schaffen, war Adenauer bemüht, es zugleich zum Bezugspunkt eines europäischen Ersatznationalismus zu stilisieren, der in der Bundesrepublik an die Stelle des in Deutschland durch zwei Kriege und die nationalsozialistische Herrschaft so gründlich diskreditierten Nationalstolzes treten sollte. Dieser Gedanke fand in der westdeutschen Bevölkerung in den 50er Jahren verbreitet Anklang, weil er vielen Deutschen, die die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Besetzung durch die Siegermächte als Makel empfanden, in Verbindung mit dem „Wirtschaftswunder„ der 50er Jahre die Möglichkeit eröffnete, sowohl gegenüber den eigenen Mitbürgern als auch im Ausland mit einem nicht selten überheblichen „Wir sind wieder wer„ aufzutreten.

Die Kehrseite dieser westdeutschen „Wirtschaftswundermentalität„ war, dass die Bewohner der DDR als „nicht zugehörig„ galten oder sogar auf der Grundlage der ebenso plakativen wie falschen Behauptung „Rot gleich Braun„, die in der Bundesrepublik durch Politik und Medien weite Verbreitung fand, zu Verbrechern gestempelt wurden, sofern es sich um führende Mitglieder der SED, ranghohe Funktionsträger des Staatsapparates und der Verwaltung oder auch nur um öffentlich Bedienstete aus den Bereichen Polizei, Militär und „Grenztruppen„ handelte. Mit dem bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch wurde den Menschen in der „Zone„ das Recht auf Mitsprache über die Zukunft des geteilten Deutschland abgesprochen, solange es in der DDR keine politischen Instanzen gab, die über eine nach westdeutscher Lesart ausreichende demokratische Legitimation verfügten. Erst die „neue Ostpolitik„ der Regierung Brandt/Scheel machte diesem unwürdigen Zustand zumindest auf politisch-diplomatischer Ebene ein Ende. Das westdeutsche Überlegenheitsgefühl blieb davon jedoch weitgehend unberührt und kam nach dem Fall der Mauer in den wechselseitigen Verständnis-

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und Verständigungsproblemen zum Ausdruck, die das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen bis heute belasten.

Literatur

Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945 - 1963, 4 Bde., Frankfurt/M. 1963ff.

Arnulf Baring: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München 1969

Knud Dittmann: Adenauer und die deutsche Wiedervereinigung. Die politische Diskussion des Jahres 1952, Düsseldorf 1981

Josef Foschepoth (Hrsg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988

Klaus Gotto u.a. (Hrsg.): Konrad Adenauer. Seine Deutschland- und Außenpolitik 1945 - 1963, München 1975

Diether Koch: Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972

Manfred Overesch: Gesamtdeutsche Illusion und westdeutsche Realität, Düsseldorf 1978

Karl-Ludwig Sommer: Gustav Heinemann und die SPD in den sechziger Jahren, München 1980


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