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Wilfried Loth
Der Ost-West-Gegensatz als Rahmenbedingung für die westdeutsche Staatsgründung und Außenpolitik


I.

Auf den ersten Blick lässt sich unser Thema [ Zum Forschungsstand zu Beginn der 90er Jahre vgl. Wilfried Loth, Die Historiker und die Deutsche Frage. Ein Rückblick nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), S. 366-382; Wiederabdruck in: Wilfried Loth (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit, Berlin 1994, S. 11-28; als Überblick über neuere Forschungsergebnisse Wilfried Loth, Deutschland im Kalten Krieg. Strategien und Entscheidungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B39/99, S. 3-12.] schnell abhandeln: Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches konnten sich die Westmächte auf der einen Seite, die Sowjetunion auf der anderen nicht auf eine gemeinsame Behandlung des besiegten Deutschland einigen; zu groß waren die Gegensätze zwischen westlichem liberalen System und der kommunistischen Sowjetmacht, zu scharf die Spannungen im beginnenden Kalten Krieg. Folglich kam es zur doppelten Staatsgründung auf deutschem Boden, errichteten der Westen einerseits, die Sowjetunion andererseits dort, wo sie dazu in der Lage waren, also in ihren jeweiligen Besatzungszonen, ein neues Deutschland nach ihrem jeweiligen Muster, die einen die Bundesrepublik Deutschland, die anderen die „Deutsche Demokratische Republik„.

Das ist richtig und doch nur die halbe Wahrheit. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass zunächst weder der Westen noch die Sowjetunion die Teilung Deutschlands wollten - und dass sie gute Gründe hatten, sie zu vermeiden. Auf amerikanischer Seite [ Vgl. zuletzt Carolyn Eisenberg, Drawing the Line: The American Decision to Divide Germany, 1944-1949, New York 1996; Melvyn P. Leffler, The Struggle for Germany and the Origins of the Cold War (= German Historical Institute, Occasional Paper No. 16), Washington, D.C. 1996.]

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war dies die allgemeine Philosophie der „Open door„, verbunden mit der Hoffnung, liberale Verhältnisse in Deutschland schaffen zu können, die einer erneuten aggressiven Politik der Deutschen die Grundlagen entzogen. Roosevelt, Truman und Byrnes waren sich auch bewusst, dass eine dauerhafte Friedensordnung eine Kooperation mit der Sowjetunion voraussetzte; hierfür stellte die Zusammenarbeit im besetzten Deutschland eine zentrale Bewährungsprobe dar. Hinzu kam die Scheu vor den Kosten einer Teilung: Ein dauerhaftes militärisches Engagement der USA in Europa, das daraus resultieren musste, glaubte man innenpolitisch nicht durchsetzen und finanzpolitisch nicht verantworten zu können.

Im westlichen Europa sah man ein solches Engagement mit gemischten Gefühlen: Dem Gewinn an Sicherheit vor Deutschland und vor der Sowjetunion standen der Verlust an Unabhängigkeit gegenüber, der mit der amerikanischen Präsenz drohte, und die Gefahr einer Eskalation des Ost-West-Gegensatzes bis hin zu einem neuen Weltkrieg; dass der Besitz von Atombomben hier eindämmend wirken würde, konnte man zunächst noch nicht wahrnehmen. Hinzu kam, wie in den USA, die Furcht vor dem deutschen Nationalismus: Dass die Deutschen die Teilung ihrer Nation auf Dauer akzeptieren würden, konnten sich die Zeitgenossen der nationalsozialistischen Expansion beim besten Willen nicht vorstellen. Statt dessen verbreitete sich mit dem Anwachsen der Spannungen zwischen Ost und West die Befürchtung, die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen könnten sich mit der Sowjetunion verbünden, um die Einheit der Nation zu retten; damit schien eine Allianz zwischen sowjetischem und deutschem Totalitarismus zu drohen.

Stalin war ebenfalls bestrebt, die „Einheit Deutschlands zu sichern„, wie er den Führern der KPD am 4. Juni 1945 erläuter-

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te. [ Gesprächsnotiz von Wilhelm Pieck, veröffentlicht bei Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hrsg.), Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994, S. 50-52. Zur sowjetischen Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit vgl. Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994; weitere Belege im Nachwort zur Taschenbuchausgabe, München 1996, S. 233-239.] Sicherheit vor Deutschland, vor einem neuen Angriff auf die Sowjetunion, war nicht zu gewinnen, wenn man sich auf eine Kontrolle der östlichen Besatzungszone beschränkte und den größeren Teil Deutschlands mit den industriellen Ressourcen des Ruhrgebiets imperialistischen Mächten überließ. Reparationen, die die kriegszerstörte Sowjetunion dringend zum Wiederaufbau brauchte, waren in ausreichendem Umfang ebenfalls nur in den Westzonen zu holen; volkswirtschaftlich stellte die Ostzone eher eine Belastung dar. Und es konnte auch nicht im Interesse der Sowjetunion liegen, die USA mit der Gründung eines Oststaates direkt als Schutzmacht für den Weststaat auf den Plan zu rufen und sie damit dauerhaft auf dem europäischen Kontinent zu etablieren - politisch, wirtschaftlich und militärisch.

Das alles galt erst recht, wenn man die Politik der Westmächte durch die ideologische Brille betrachtete. Das war alsbald der Fall: Stalin argwöhnte und war sich dann bald sicher, dass die sogenannten „reaktionären Kreise„ des amerikanischen Imperialismus versuchen würden, die Beseitigung der gesellschaftlichen Wurzeln des Faschismus in Deutschland zu vereiteln und das deutsche Industriepotential in einen Militärblock einzubeziehen, der sich gegen die Sowjetunion richtete. Das war sozusagen der spiegelbildlich verkehrte Alptraum: eine Allianz des amerikanischen mit dem deutschen Imperialismus. Diese galt es, durch eine gesamtdeutsch ausgerichtete Politik zu verhindern. Die Verwirklichung der sozialistischen Revolution in Deutschland war demgegenüber eine spätere Sorge, die Revolution in einem halben Land, der Ostzone, war überhaupt kein Thema; das muss

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man gegenüber dem Gründungsmythos der DDR deutlich betonen.

Damit, mit dieser Parallelität gesamtdeutscher Zielsetzungen, wird die reale Teilung Deutschlands nun doch erklärungsbedürftig; man muss darlegen, was sich hinter der Chiffre „Scheitern im Kalten Krieg„ verbirgt. Die Antwort ist, wie immer bei grundlegenden weltpolitischen Vorgängen, einigermaßen komplex, wenn auch durchaus strukturierbar.

II.

Auf der westlichen Seite muss man zwischen zwei auslösenden und einem zentralen Faktor unterscheiden, die die Verwirklichung der gesamtdeutschen Pläne verhindert haben. Auslösend war zunächst einmal die Weigerung der französischen Regierung, der Errichtung der in Potsdam beschlossenen deutschen Zentralverwaltungen zuzustimmen, solange nicht über die Abtrennung von Rheinland und Ruhrgebiet vom deutschen Staatsverband entschieden war. [ Zur französischen Deutschlandpolitik zuletzt Jacques Bariéty, Die deutsche Frage in französischer Sicht, 1945-1955, in: Loth, Deutsche Frage, S. 172-194; sowie mit vielen Details, aber manchmal problematischen Wertungen Dietmar Hüser, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik„. Dynamik aus der Defensive - Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1940-1950, Berlin 1996.] Dieser verzweifelte Versuch, die französischen Vorstellungen von besonderen Sicherheitsregimen im Westen Deutschlands gegen den erkennbaren Widerstand der „großen„ Siegermächte doch noch durchzusetzen, hatte zur Folge, dass der Alliierte Kontrollrat ohne administrativen Unterbau blieb und jede Besatzungsmacht in ihrer Zone entsprechend den eigenen Vorstellungen und Erfahrungen waltete. Damit begannen schon 1945 Verwestlichung einerseits, Sowjetisierung andererseits in der Praxis - wohlgemerkt: ohne dass damit auf der

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einen oder der anderen Seite die Absicht zur Teilung verbunden gewesen wäre. [ Vgl. Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995; Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997.]

Der zweite auslösende Faktor waren die Haushaltsprobleme, die die Versorgung der bevölkerungsreichen Nordwestzone bei der britischen Besatzungsmacht auslöste. Sie führten den britischen Außenminister Bevin im Frühjahr 1946 in einen Verteilungskonflikt mit der Sowjetunion, die sich besonders dringend auf Reparationsleistungen aus dem westlichen Deutschland angewiesen sah, und daran anschließend zur Bildung der amerikanisch-britischen Bizone, in der man durchaus eine Vorform separierter westdeutscher Staatlichkeit sehen konnte. [ Rolf Steininger, Die Ruhrfrage 1945/46 und die Entstehung des Landes Nordrhein-Westfalen. Britische, französische und amerikanische Akten, Düsseldorf 1988; Anne Deighton, The Impossible Peace. Britain, the Division of Germany and the Origins of the Cold War, Oxford 1990.]

Zentral wurde dann aber die Befürchtung, ein geeintes Deutschland würde „außerordentlich anfällig für politische Durchdringung durch die Sowjets und sowjetischen Einfluss„ sein, wie George F. Kennan, damals noch amerikanischer Botschaftsrat in Moskau, am 6. März 1946 in einer Analyse für das State Department in Washington schrieb. [ Foreign Relations of the United States 1946, Bd. V, S. 516-520.] Diese Auffassung wurde zunächst nur von wenigen vertreten, sie fand dann aber im Laufe der Jahre 1946/47 immer mehr Gehör und sorgte dafür, dass die westlichen Regierungen nach und nach dazu übergingen, die Etablierung eines westdeutschen Staates auf ihre Fahnen zu heften. Bei der britischen Regierung war das schon im Sommer 1946 der Fall. Auf der amerikanischen Seite versuchte Militärgouverneur Lucius D. Clay im Winter 1946/47, noch einen Kompromiss in der Reparationsfrage zustande zu bringen;

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er musste sich dann aber der Entscheidung von Truman und Marshall beugen, die seit dem April 1947 ebenfalls auf einen westdeutschen Staat zusteuerten. Auch Frankreichs Außenminister Georges Bidault befand sich seit dem Frühjahr 1947 auf Weststaatskurs; er konnte sich damit aber gegenüber starken Kräften in der französischen Regierung wie in der Öffentlichkeit nicht eindeutig durchsetzen. [ Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, 9. Aufl., München 2000, S. 125-150 u. 156-174; John H. Backer, Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949, München 1983, S. 181 u. 206-208; Martina Kessel, Westeuropa und die deutsche Teilung. Englische und französische Deutschlandpolitik auf den Außenministerkonferenzen von 1945 bis 1947, München 1989. ]

Damit ist schon gesagt, dass der Westen im Prozess der doppelten Staatsgründung den aktiveren Part spielte. Er war es, der als erster die Suche nach Kompromissen aufgab und in der Etablierung eines separaten Staates eine nicht nur akzeptable, sondern letztlich notwendige Alternative sah. Während der sowjetische Außenminister Molotow weiterhin versuchte, im Außenministerrat einen Beschluss über die baldige Errichtung einer deutschen Zentralregierung herbeizuführen - „geradezu verzweifelt„, wie sein amerikanischer Kollege Marshall im Dezember 1947 nach Washington berichtete [ Marshall an Lovett, 11.12.1947, Foreign Relations of the United States 1947, Bd. II, S. 764. Vgl. Kessel, Westeuropa, S. 288-294, und Eisenberg, Drawing the Line, S. 289-309.] - , traten bei den westlichen Politikern die Bedenken gegen eine Politik der Teilung gegenüber der Furcht vor einem geeinten Deutschland unter sowjetischem Einfluss in den Hintergrund. Bei manchen der Beteiligten, so Bevin, verschwanden sie nicht ganz; sie wurden aber dadurch neutralisiert, dass man sich einredete, mit einer kraftvollen Politik werde man die Sowjets schon zum Einlenken zu westlichen Bedingungen zwingen können.

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Man muss aber gleich hinzufügen, dass Stalin an dieser Entwicklung nicht unschuldig war. Die Regime, die er den Polen, den Rumänen und den Bulgaren aufzwang, der Umgang mit den politischen Gegnern, den die Kommunisten in diesen Ländern, in Ungarn und in der Tschechoslowakei an den Tag legten, all das untergrub die Glaubwürdigkeit der sowjetischen Beteuerungen, man wolle die Kooperation mit dem Westen und man strebe für Deutschland eine Demokratie an. Das Gleiche gilt für die Manipulationen und Repressionen, die sich sowjetische Besatzer und deutsche Kommunisten in der östlichen Besatzungszone erlaubten, immer im Dienst des „Klassenkampfes„, wie sie ihn verstanden. Insbesondere die Erzwingung der Vereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten im Frühjahr 1946 hinterließ im Westen einen verheerenden Eindruck.

Sodann hat Stalin mit einer fatalen Grundsatzentscheidung selbst dazu beigetragen, den Weststaatsplänen zum Durchbruch zu verhelfen - ich meine die Entscheidung gegen eine Beteiligung der Sowjetunion am Marshall-Plan im Juli 1947. Die amerikanische Regierung hatte dies mit Rücksicht auf die Stimmung im westlichen Europa angeboten; auch wenn sie insgeheim auf eine Absage hoffte, hätte sie sich gegen eine sowjetische Beteiligung letztlich nicht wehren können. Stalin wollte, wie wir heute wissen [ Vgl. die Auswertung sowjetischer Quellen in der erweiterten Neuausgabe von Loth, Teilung der Welt, S. 352-389.] , eine Beteiligung zu seinen Bedingungen, das heißt: mit Garantien, dass die amerikanischen Dollars nicht zur Etablierung einer amerikanischen Hegemonie über Europa führen würden. Er setzte dabei auf die Unterstützung durch die westlichen Europäer, die doch, wie er meinte, die amerikanische Hegemonie auch nicht wollen konnten - und verspekulierte sich damit gründlich: Weder schlossen sich die westlichen Regierungsvertreter auf der Pariser Konferenz Ende Juni/Anfang Juli 1947 seinen Forderungen an, noch war die westliche Öffentlich-

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keit danach gegen eine Beteiligung an dem angeblich so „ausbeuterischen„ Marshall-Plan zu mobilisieren.

III.

Schließlich erwies sich auch das stärkste Geschütz, das Stalin gegen die drohende Gründung eines westdeutschen Staates auffuhr, als kontraproduktiv: die Berliner Blockade vom Sommer 1948. Dass die Blockierung der Zufahrtswege von den Westzonen nach Berlin diesem Ziel dienen sollte, wird nicht nur durch die zeitlichen Umstände nahegelegt: nach den ersten Schritten zur Durchführung der Londoner Beschlüsse zur Gründung eines westdeutschen Staates. Es ergibt sich unterdessen auch eindeutig aus den internen Papieren und Verhandlungsaufzeichnungen der sowjetischen Seite. „Wir müssen Maßnahmen ergreifen,„ hieß es in einer internen Vorlage des Moskauer Außenministeriums vom 12. März 1948, „die die Pläne zur Schaffung eines Westblocks, der Deutschland einschließt, aktiv zerschlagen.„ [ Zitiert bei Mikhail M. Narinskij, The Soviet Union and the Berlin Crisis, 1948-9, in: Francesca Gori/Silvio Pons (Hrsg.), The Soviet Union and Europe in the Cold War, 1943-53, London/New York 1996, S. 57-75, hier S. 63.] Als die Westmächte über die Aufhebung der Blockade verhandeln wollten, wurde ihnen gesagt, dass Gespräche „nur dann effektiv„ sein würden, wenn sie nicht auf die Verwaltung von Berlin beschränkt blieben; notwendig sei eine Verhandlung über „die allgemeine Frage der Viermächte-Kontrolle Deutschlands.„ [ Note vom 14.7.1948, Foreign Relations of the United States 1948, Bd. II, S. 964.] Im Gespräch mit den Botschaftern der Westmächte präzisierte Stalin am 2. August, es „müsse die Versicherung gegeben werden, dass die Erfüllung der Beschlüsse der Londoner Konferenz so lange verschoben wird, bis sich Repräsentanten der vier Mächte getroffen und über die wichtigsten Fragen, die sich auf Deutsch-

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land beziehen, geeinigt haben.„ [ Sowjetisches Protokoll, veröffentlicht in: Neues Deutschland, 20.5.1988.] Die in London beschlossene Bildung einer deutschen Regierung in den Westzonen sei „die einzige wirkliche Streitfrage.„ [ Amerikanisches Protokoll, Foreign Relations of the United States 1948, Bd. II, S. 1006. Vgl. Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 117-124.]

Stalin ging also davon aus, dass die Westmächte in West-Berlin in einer unhaltbaren Position waren: Wollten sie einen schmählichen Rückzug aus Berlin vermeiden, der insbesondere das amerikanische Ansehen schwer zu beschädigen drohte, mussten sie notgedrungen ihre Weststaatspläne zurückstellen und an den Verhandlungstisch zurückkehren. Darüber hinaus setzte er auf den Demonstrationseffekt der Blockade: Sie sollte die Völker der westlichen Hemisphäre endlich wachrütteln, der westlichen Öffentlichkeit vor Augen führen, wohin die Spaltungspolitik ihrer Regierungen zu führen drohte: zur Teilung Deutschlands und der Welt und zur Gefahr eines neuen Krieges.

Das war keine so abenteuerliche Kalkulation, wie es im Nachhinein erscheinen mag. Als die westdeutschen Ministerpräsidenten den Auftrag zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung erhielten, zögerten sie tatsächlich, Verantwortung für die deutsche Teilung mit zu übernehmen. Mehr als eine gemeinsame Verwaltungsorganisation für die drei Westzonen wollten sie auf ihrer ersten Zusammenkunft vom 8. bis 10. Juli 1948 in Koblenz nicht zugestehen; diese Zonenverwaltung sollte selbstverständlich nur provisorischen Charakter haben. In Frankreich waren die Londoner Beschlüsse nur ganz knapp vom Parlament gebilligt worden; im Kabinett und in den Ministerien herrschten große Zweifel, ob die Weststaatsgründung nicht geradewegs zum Krieg mit der Sowjetunion führen würde. Der französische Militärgouverneur in Deutschland, General Pierre Koenig, plädierte in einem Schreiben an seine britischen und

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amerikanischen Kollegen für eine Verschiebung des Auftrags an die westdeutschen Ministerpräsidenten. [ Hierzu und zum folgenden ebda. S. 125-127.]

Am 12. Juli griff der britische Militärgouverneur, Sir Brian Robertson, diese Anregung auf und schlug der Regierung in London vor, den Sowjets den Rückzug aller Besatzungstruppen in Deutschland auf bestimmte Grenzregionen anzubieten, dazu eine Beteiligung an der Kontrolle der Ruhr und die Bildung einer Zentralregierung. Genau einen Monat und ohne von den Initiativen Koenigs und Robertsons zu wissen plädierte auch George F. Kennan für den Abzug aller Besatzungstruppen und die Rückkehr zu Verhandlungen über einen gesamtdeutschen Staat - mit anderen Worten: Ausgerechnet der Vater der Eindämmungspolitik distanzierte sich jetzt von dem Projekt, für das er wie kein anderer geworben hatte.

Ohne dass dies die Öffentlichkeit mitbekommen hätte, war die Gründung der Bundesrepublik also in dem Moment aufs Höchste gefährdet, als sich die westdeutschen Ministerpräsidenten daran machten, den Auftrag der westlichen Militärgouverneure in die Tat umzusetzen. Außenminister Marshall ließ sich zwar nicht sogleich dazu bestimmen, in der Weise tätig zu werden, die ihm sein Planungschef Kennan geraten hatte; er war aber durchaus auch davon überzeugt, dass Berlin auf Dauer nicht zu halten sein würde und die Zeit daher für die sowjetische Seite arbeitete. Er fürchtete, entweder Berlin aufgeben zu müssen oder die Londoner Beschlüsse suspendieren zu müssen; er war sich nur noch nicht schlüssig, welches von beiden das größere Übel sein würde.

In dieser Situation hatten die Berliner in den Westsektoren der Stadt mit einem Mal eine welthistorische Rolle zu spielen. Votierten die Westberliner für die sowjetische Besatzungsmacht

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(die sich ja immerhin als Anwalt der deutschen Einheit präsentierte und die Versorgung der Westberliner aus Lebensmittelgeschäften des Ostsektors anbot), dann war die Präsenz der Westmächte in Berlin politisch nicht mehr zu halten und das Projekt des Weststaats in höchster Gefahr. Es ist daher keineswegs bizarr, wenn Ernst Reuter, der Berliner Oberbürgermeister, in diesem Moment General Clay als Chef der amerikanischen Militärregierung Mut zusprach, der Repräsentant der wehrlosen, von Hunger und demnächst auch von Kälte bedrohten Berliner dem Repräsentanten der größten Militärmacht der Welt und nicht umgekehrt: Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sagte Reuter, „wir stehen an Eurer Seite.„ [ Vgl. Wilfried Loth, „...diesen Kampf, den werden wir gewinnen„, in: Damals 11/98, S. 8-11.]

Das war auch tatsächlich so, freilich nur, weil sich im Laufe des Herbstes 1948 immer deutlich abzeichnete, dass die Amerikaner tatsächlich in Berlin bleiben würden. Ohne Aussicht auf dauerhafte Präsenz der Westmächte wäre der Widerstand der politischen Organe der Stadt gegen die Anordnungen des sowjetischen Kommandanten auf lange Sicht auch nicht aufrecht zu erhalten gewesen. Insofern wurde das Weststaatsprojekt in letzter Instanz von der Kombination von zwei Faktoren gerettet: dem Widerstandswillen der von Reuter mobilisierten Berliner und dem technischen Erfolg der Luftbrücke, der für die Eingeweihten im September deutlich wurde. 5.000 Tonnen Transportkapazität brauchte man pro Tag, um die Stadt auch über den Winter aus der Luft zu versorgen. Diese Zahl wurde Anfang September erreicht; damit war klar, dass man die Kraftprobe um Berlin bestehen würde.

Entsprechend verloren die Argumente der Bedenkenträger jetzt ihre Grundlage, und statt dessen kam ein Gegenargument ins Spiel, das die Sorgen wegen der langfristigen Konsequenzen

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der Teilung erneut übertönte: Wenn man jetzt die Arbeit des Parlamentarischen Rats stoppte, dann war das ein Nachgeben unter Druck, verbunden mit einem Verlust an Prestige und Vertrauen bei den potentiellen Verbündeten in Europa. Das konnte man sich nicht gut leisten, wenn man nicht musste; folglich ließ man es bleiben. Ende September war die doppelte Staatsgründung de facto entschieden; Kennans Konzept, jetzt unter dem Titel „Plan A„ ausgearbeitet, blieb in der Schublade; und Stalin hatte, auch wenn er das lange noch nicht wahrhaben wollte, das Nachsehen.

IV.

Definitiv war die Festlegung der Westmächte auf den westdeutschen Staat freilich auch jetzt noch nicht. Als Stalin im Frühjahr 1952 seine bekannte Noteninitiative startete, reagierte der Planungsstab des State Department, jetzt unter der Leitung des „hardliners„ Paul Nitze, erneut mit einem Neutralisierungsplan: Die Planer schlugen vor, sich auf die Bildung eines gemeinsamen Kontrollgremiums für gesamtdeutsche Wahlen durch die vier Alliierten einzulassen und einen Termin für diese Wahlen vorzugeben - spätestens im November 1952. [ Reinhard Neebe, Wahlen als Test. Eine gescheiterte Initiative des Politischen Planungsstabs im State Department zur Stalin-Note vom 10. März 1952, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 45/1989, S. 139-162.] Nach dem Tode Stalins im März 1953 glaubte schließlich auch Winston Churchill, unterdessen wieder britischer Premierminister, den Zeitpunkt für gekommen, um sich mit der sowjetischen Führung über eine Neutralisierung Deutschlands zu verständigen - im Interesse der Entspannung und um dem gefährlichen Einheitsstreben des deutschen Volkes zuvorzukommen. [ Josef Foschepoth, Churchill, Adenauer und die Neutralisierung Deutschlands, in: Deutschland-Archiv 17 (1984), S. 1286-1301; Klaus Larres, Politik der Illusionen. Churchill, Eisenhower und die deutsche Frage 1945-1955, Göttingen 1995.]

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Diese Initiativen waren um so bemerkenswerter, als das sowjetische Interesse an einer gesamtdeutschen Regelung unvermindert anhielt. Gewiss war die sowjetische Besatzungsherrschaft in der Ostzone im Laufe des Jahres 1948 in der Härte der Ausein-andersetzung des Kalten Krieges mehr und mehr in eine Diktatur des Walter Ulbricht übergegangen. Ende August 1949 gab Stalin sein Einverständnis, einen provisorischen Staat auch auf dem Boden der östlichen Besatzungszone zu errichten, dem Weststaat also einen Oststaat entgegenzusetzen. [ Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 135-142, 158-160.] Doch tat er dies eben nicht freiwillig, sondern notgedrungen, weil er die Kraftprobe der Blockade verloren hatte. An den Zielen seiner Politik änderte sich damit nichts: Nach wie vor galt es, den amerikanischen Imperialismus im Zaum zu halten und Deutschland zu kontrollieren; dafür bot sich eine Verständigung der Siegermächte über eine gemeinsame Deutschlandregelung nach wie vor als das einzig taugliche Mittel an. Im Kontext des Kalten Krieges hieß das jetzt: die Neutralisierung Deutschlands.

Daß dies das Ziel der Deutschlandpolitik Stalins und seiner unmittelbaren Nachfolger gewesen sei, ist immer wieder heftig bestritten worden; es wird auch heute noch von vielen bezweifelt. [ Vgl. zuletzt Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955, München 1999; zur Auseinandersetzung mit dieser Kritik Wilfried Loth, Stalin, die deutsche Frage und die DDR. Eine Antwort an meine Kritiker, in: Deutschland-Archiv 28 (1995), S. 290-298.] Indessen war ein Festhalten an dem Ziel der Neutralisierung nicht nur absolut logisch, erst recht wenn man wie Stalin für ideologisches Wunschdenken anfällig war. Es geht auch, wie bei der Blockade, aus den Quellen eindeutig hervor, dass er weiter auf das nationale Einheitsstreben der Deutschen setzte, von einer sozialistischen Revolution allein in dem künstlichen Teilstaat DDR nichts hielt und der Herbeiführung eines Friedensvertrages, der die Bundesrepublik aus dem westlichen Zusammen-

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hang löste und die DDR aufhob, jederzeit Priorität einräumte. „Die Hauptaufgabe [besteht] in der Entwicklung einer gesamtdeutschen Politik„, musste das Politbüro der SED nach einem Treffen mit Stalin im Mai 1950 „selbstkritisch„ zugeben. [ Interner Beschluß des Politbüros der SED, 2.6.1950, zitiert nach Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 169.]

Die berühmte und immer wieder kontrovers diskutierte „Stalin-Note„ vom 10. März 1952 zielte, wie es in einem Beschluss des ZK der KPdSU vom 8. Februar 1952 hieß, auf die „Beschleunigung des Abschlusses des Friedensvertrages mit Deutschland und Schaffung eines vereinigten, demokratischen, friedliebenden deutschen Staates.„ [ Resolution Nr. 425 in RTsKhIDNI [Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und zum Studium zeitgeschichtlicher Dokumente; jetzt: Russisches Staats archiv für sozialpolitische Geschichte], Bestand 17, 3, 1092.] Eine Kommission des sowjetischen Außenministeriums arbeitete im zweiten Halbjahr 1951 an den Details des Friedensvertragsentwurfs, der in die Verhandlungen mit den Westmächten eingebracht werden sollte. Bei der Vorbereitung der Note vom 10. März 1952 wurde sehr darauf geachtet, das sowjetische Angebot so zu formulieren, dass man den Gegnern einer Friedensregelung im Westen keinen Vorwand für die Ablehnung lieferte. [ Vgl. mit neuen Details aus dem bürokratischen Prozeß Stein Bjornstad, The Soviet Union and German unification during Stalin's last years, Oslo 1998, S. 56-74 u. 78-91.] In einer Vorlage für Stalin bezeichnete das Außenministerium die Note als „indirekten Vorschlag, den Rat der Außenminister der vier Mächte einzuberufen.„ „Die Frage der Formulierung des Vorschlags hinsichtlich der Einberufung des Ministerrats„, fügten die Beamten hinzu, könne „später gelöst werden, in Abhängigkeit von der Reaktion der drei Mächte auf unsere Note.„ [ Entwurf vom 21.1.1952 in AVPRF [Auswärtiges Archiv der Russischen Föderation] , Bestand 07, 25, 13, 144, Bl. 26-29. Wie Gerhard Wettig in Kenntnis dieser Dokumente behaupten kann, die „in diplomatischer Form unterbreiteten Vorschläge„ seien „ nicht dazu bestimmt„ gewesen, „bei den offiziellen westlichen Adressaten auf Gegenliebe zu stoßen„, ist nicht nachzuvollziehen: Gerhard Wettig, Die Deutschland-Note vom 10. März 1952 auf der Basis diplomatischer Akten des russischen Außenministeriums, in: Deutschland-Archiv 26 (1993), S. 786-805, hier S. 799.]

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Die Dokumente aus dem Moskauer Außenministerium bestätigen auch, dass die sowjetische Wiedervereinigungsinitiative nach Stalins Tod nicht allein auf Berija zurückzuführen ist, wie dessen Gegner später behauptet haben, und dass Berija mit seiner Initiative auch nicht in eine Minderheitenposition geriet. Für die Sitzung des Präsidiums des Ministerrats am 27. Mai 1953 legte Außenminister Molotow ein Memorandum vor, das das Angebot freier gesamtdeutscher Wahlen „nach Abzug der Besatzungstruppen aller fremden Staaten aus Deutschland„ vorsah und empfahl, sich bei der Präsentation dieses Vorschlags „nicht dem Vorschlag der drei (West-)Mächte über die Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen entgegenzustellen.„ [ Ermittelt von Elke Scherstjanoi, Die sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod 1953. Neue Dokumente aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 497-549, hier S. 539-543..]

Adenauer hatte also Recht, als er in einem Interview mit Ernst Friedlaender am 12. Juni 1953, kurz nach Churchills Initiative, über den „cauchemar des coalitions„ klagte, der der jungen Bundesrepublik drohte: „Bismarck hat von seinem Alpdruck der Koalitionen gegen Deutschland gesprochen. Ich habe auch meinen Alpdruck: Er heißt Potsdam. Die Gefahr einer gemeinsamen Politik der Großmächte zu Lasten Deutschlands besteht seit 1945 und hat auch nach der Gründung der Bundesrepublik weiter bestanden.„ [ Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn 1953, Nr. 109, S. 926.] Man kann lange darüber streiten, ob eine gemeinsame Politik der Großmächte wirklich eine Politik zu Lasten Deutschlands gewesen wäre. Dass es die Möglichkeit einer solchen gemeinsamen Politik gab, kann jedoch nach den Ergebnissen der jüngsten Forschung weniger denn je bestritten werden.

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V.

Dass diese Möglichkeit nicht genutzt wurde, ist den Deutschen zu verdanken oder zuzuschreiben, je nachdem, wie man es bewerten will. Will man den Gesamtprozess der doppelten Staatsgründung verstehen, muss zuletzt auch die Rolle der Deutschen in den Blick genommen werden. Hier spielen drei unterschiedliche Ebenen von Verantwortlichkeit ineinander.

Erstens: Stalin setzte, wie wir gesehen haben, auf den Einheitswillen der Deutschen, und die westlichen Politiker fürchteten ihn; das erklärt Stalins Hartnäckigkeit bei der Verfolgung seiner Einheitspläne ebenso wie die wiederholten westlichen Initiativen, zu einer gesamtdeutschen Lösung zurückzukehren. Beide Seiten übersahen dabei, dass der Nationalismus der Deutschen, mit dem sie auf so gewaltsame Weise konfrontiert worden waren, unterdessen gleich zweimal gebrochen war. [ Vgl. Wilfried Loth, Die Deutschen und die deutsche Frage. Überlegungen zur Dekomposition der deutschen Nation, in: Loth, Deutsche Frage, S. 214-228.] Durch die weitgehende Identifikation mit dem Nationalsozialismus, der die Welt in eine unvorstellbare Katastrophe geführt hatte, war er mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches grundsätzlich fragwürdig geworden. Es war für die Deutschen unter dem Besatzungsregime nicht nur opportun, Zurückhaltung in der nationalen Frage zu zeigen. Viele waren auch unsicher geworden oder suchten ehrlich nach einem neuen Anfang jenseits der Vergötterung des Nationalstaats.

Gleichzeitig wurde das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit von der Furcht vor dem Sowjetkommunismus überlagert. Uralte Zivilisationsängste und die latente Furcht vor einer sozialen Revolution führten zu einer höchst selektiven Wahrnehmung der Realitäten in der sowjetischen Besatzungszone und der sowjetischen Deutschlandpolitik. Dabei wirkte die nationalsozialis-

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tische Propaganda gegen die „bolschewistische Gefahr„ nach. Ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die die Realität des Raub- und Vernichtungskriegs der Deutschen im Osten kannten, fürchteten zudem oft, jetzt werde den Deutschen mit gleicher oder noch schlimmerer Münze heimgezahlt werden.

Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Furcht vor dem Kommunismus hatten zur Folge, dass sich die Deutschen im Westen pragmatisch auf das Naheliegende konzentrierten: auf den Wiederaufbau des politischen Lebens in ihrer Region und ihrer Besatzungszone. Das Schicksal der Deutschen im Osten musste demgegenüber zurückstehen. Als Otto Grotewohl, damals noch Repräsentant des Berliner Zentralausschusses der SPD, im Herbst 1945 für eine gemeinsame Organisation der Sozialdemokraten in allen vier Besatzungszonen warb, die dem Vereinigungsbegehren der Kommunisten die Grundlagen entziehen sollte, schrieb der Vorstand des SPD-Bezirks Westliches Westfalen an Kurt Schumacher, die Herstellung einer gesamtdeutschen SPD sei ein Problem der Zukunft und nicht der Gegenwart. „Jetzt sitzt uns das Hemd näher als der Rock.„ [ Schreiben vom 21.9.1945, zitiert nach Klaus Sühl, Schumacher und die Westzonen-SPD im Vereinigungsprozess, in: Dietrich Staritz/Hermann Weber (Hrsg.), Einheitsfront - Einheitspartei. Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944-1948, Köln 1989, S. 108-128, hier S. 118.] Eine gesamtdeutsche Politik, die aktiv gegen die Tendenzen zur Spaltung zwischen Ost und West ankämpfte, war bei einer solchen Haltung nicht mehr mehrheitsfähig.

Zweitens: Allerdings ließ der Solidaritätsbruch, der in der Konzentration auf den Westen steckte, viele Deutsche auch zögern, aktiv an der Verfestigung der Ost-West-Spaltung mitzuwirken. Wir haben das am Beispiel der Reaktion der westdeutschen Ministerpräsidenten auf die Aufforderung zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung gesehen, und es wird auch bei der weitgehenden Ablehnung eines westdeutschen Ver-

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teidigungsbeitrags im Rahmen des westlichen Bündnisses zu Beginn der 50er Jahre deutlich. Auch nach dem Beginn des Koreakrieges blieben die Gegner einer Wiederbewaffnung in der Mehrheit: Nur knapp 40 Prozent der Westdeutschen erklärten sich mit einer „Europa-Armee mit deutschem Beitrag„ einverstanden; 45 Prozent lehnten sie weiterhin ab. [ Meinungsumfragen vom November 1950, zit. n. Wilfried Loth, The Korean War and the Reorganization of the European Security System 1948-1955, in: Rolf Ahmann/Adolf M. Birke/Michael Howard (Hrsg.), The Quest for Stability. Problems of West European Security 1918-1957, Oxford 1993, S. 465-486, hier S. 480.]

Angesichts der unentschiedenen und widersprüchlichen Haltung der westdeutschen Bevölkerung konnten entschlossene und geschickt agierende politische Führer eine große Rolle spielen. Hier ist zunächst Kurt Schumacher zu nennen, der bei der Verhinderung gesamtdeutscher Parteistrukturen in den ersten Nachkriegsjahren die zentrale Rolle spielte; dann Ernst Reuter mit seinem Auftreten während der Krise der Berlin-Blockade; und schließlich natürlich Konrad Adenauer mit der Durchsetzung der Westintegration.

Es ist bemerkenswert, dass Adenauer die sowjetische Initiative vom Frühjahr 1952 exakt so einschätzte, wie sie im Licht der neuesten Forschung erscheint: als konsequente Fortsetzung einer seit 1945 durchgehaltenen Linie. „Im Grunde genommen„, führte er am 16. März 1952 auf der Gründungsversammlung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU in Siegen zur Stalin-Note aus, „bringt sie wenig Neues. Abgesehen von einem stark nationalistischen Einschlag, will sie die Neutralisierung Deutschlands, und sie will den Fortschritt in der Schaffung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft und in der Integration Europas verhindern.„ [ Siegener Zeitung, 17.3.1952.] Im Unterschied zu vielen damaligen An-

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hängern und späteren Verehrern hat Adenauer Stalins Angebot durchaus ernst genommen.

Er hielt es nur nicht für attraktiv. Neutralisierung hieß für ihn nicht nur Rückzug der sowjetischen Truppen aus der östlichen Besatzungszone (diesen Aspekt hat er kaum thematisiert), sondern auch Rückzug der Amerikaner aus Europa. Damit entstand für ihn eine Situation, in der das westliche Europa permanentem Druck durch die einzig verbliebene militärische Großmacht ausgesetzt war und naive oder opportunistische Nationalisten den Kommunisten helfen würden, in ganz Deutschland die Macht zu ergreifen. Insofern stellte eine gemeinsame Deutschlandpolitik der Siegermächte für ihn tatsächlich eine Gefahr dar, und er sorgte sich, diese Gefahr zu bannen. „Die Außenpolitik der Bundesrepublik war von jeher darauf gerichtet, aus dieser Gefahrenzone herauszukommen„, erklärte er in dem schon zitierten Interview mit Friedlaender. Er war damit, wie man weiß, erfolgreich. Freilich dauerte es lange, bis dieser Erfolg einigermaßen sicher war - im Grunde bis in den Spätsommer 1953. [ Im Detail hierzu Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 1: Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 671-774, 825-956; Bd. 2: Der Staatsmann 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 9-105; Josef Foschepoth (Hrsg.), Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988.]

Hier kommt nun noch ein dritter deutscher Faktor ins Spiel: die Rolle Ulbrichts und der Kommunisten seines Schlages bei der Etablierung des „Sozialismus in den Farben der DDR„. Natürlich dachten sie nicht daran, Stalin zu widersprechen oder seinen Weisungen zuwiderzuhandeln. Aber die Revolution voranzutreiben, dort wo es ihnen möglich war, das wollten sie schon; und von der Macht, die ihnen mit der Abschottung der östlichen Besatzungszone zuwuchs, wollten sie auch nicht wieder Abschied nehmen. Das ließ sie öfters mit der sowjetischen Besatzungsmacht zusammenstoßen und führte sie dazu, jede Möglichkeit zur Befestigung ihrer Herrschaft zu nutzen, die sich

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aus den Defiziten und Fehlschlägen der sowjetischen Politik ergab. [ Loth, Stalins ungeliebtes Kind, S. 129-148, 162-170, 187-191.]

Ulbrichts Stellung geriet ernsthaft in Gefahr, als Berija daran ging, die gesamtdeutsche Politik auch im Hinblick auf die Verhältnisse in der DDR konsequenter umzusetzen, als Stalin dies getan hatte. Gerettet wurde sie nicht so sehr durch die Ereignisse des 17. Juni 1953, auch nicht durch den Sturz Berijas Ende Juni, sondern erst durch sein selbstbewusstes Auftreten gegenüber SED-Führern und Repräsentanten der Sowjetmacht in der allgemeinen Unsicherheit, die dieser Sturz auslöste. Nachdem er den Machtkampf mit Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser am 18. Juli für sich entschieden hatte, kam die Moskauer Führung nicht mehr darum herum, auf ihn Rücksicht zu nehmen. [ Ebda. S. 204-222.] Damit waren die Chancen für eine Koordinierung der sowjetischen Neutralisierungspläne mit der Initiative Churchills rapide gesunken. Als Adenauer dann in den Wahlen vom 6. September bestätigt wurde, tendierten sie gegen Null.

Wir haben es also, so ließe sich als Fazit formulieren, bei der doppelten Staatsgründung mit einem Prozess zu tun, der mit einer gewissen inneren Logik ablief, ohne deswegen unausweichlich zu sein. Mögliche Alternativen scheiterten an einer Mischung aus Kurzsichtigkeiten, Zufällen und ideologischer Verblendung. Die Ost-West-Blockstruktur war nicht schon unverrückbar etabliert, als sich amerikanische und sowjetische Soldaten am 25. April 1945 bei Torgau an der Elbe trafen; die Durchsetzung der Nachkriegsordnung Europas erfolgte vielmehr in einem komplexen, keineswegs geradlinig verlaufenden Prozess, der erst Mitte der 50er Jahre abgeschlossen war.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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