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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[7.]
Die Bedeutung der Reichstagswahlen.
Rede am 11.4.1924 in Stuttgart auf einer Wahlveranstaltung der SPD


EV Nr. 88 v. 12.4.1924

Die Rechtsparteien hoffen auf einen großen Sieg. Der wird ein Resultat bringen, das man außenpolitisch zu werten vermag an der Hand der Erfolge, die bisher rein bürgerliche Regierungen mit ihren nationalen Phrasen gehabt haben. Man braucht sich nur der Politik zu erinnern, die uns nach Versailles führte, die uns das Londoner Ultimatum bescherte und die Ruhrbesetzung brachte. Diese außenpolitische Abenteurerpolitik hat die Entwicklung des Valutasturzes mächtig gefördert. Aus dem nationalen Unglück zog die Reaktion ihre Kraft, ebenso wie das Kapital die Inflation als Waffe gegen Republik und Arbeiterschaft rücksichtslos anwandte.

So lange wir keine feste Währung unter den Füßen hatten, mußte jeder Lohnkampf in seinem rechten Effekt eine Minderung der Existenzbedingungen der breiten Massen mit sich bringen. Diese Dinge wirkten sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und politisch aus. Die Unternehmer wurden auch auf diesen Gebieten immer stärker und die breiten Massen des Volkes immer schwächer. Die Nutznießer der Inflation aber haben in dem Deutschland rein bürgerlicher Regierungen immer den maßgebenden Einfluß gehabt. Sie haben als „wirtschaftliche Sachverständige" die Politik des Deutschen Reiches, besonders die Reparationspolitik, unheilvoll beeinflußt. Der verdammenswerte Rechtsbruch der Franzosen und Belgier ist nur möglich gewesen durch die mehr oder weniger versteckten Aufforderungen unserer Steuersaboteure und Katastrophenpolitiker. Hugenberg [Alfred Hugenberg (1865-1951), Wirtschaftsführer und Politiker (DNVP). 1920-45 MdR, 1928-33 Vors. der DNVP. Januar-Juni 1933 Reichsminister für Wirtschaft und Ernährung.] hat schon 1919 die Franzosen geradezu zur Besetzung angereizt. Stinnes hat in Spa und nach Genua die Dinge auf die Spitze zu treiben versucht und der Reichsvorstand der deutschen Industrie selbst den letzten Rettungsversuch im Dezember 1922 noch sabotiert. Dann kam die Ruhrbesetzung, die eine Quelle neuen Gewinns für den deutschen Besitz wurde, die Masse des Volkes aber in fürchterliches Elend und riesenhafte Arbeitslosigkeit stürzte und die Finanzen des Reiches völlig ruinierte. Die Politik der Industrie hat restlos bankrott gemacht.

Auf ihrem ureigensten Gebiete, dem der Wirtschaft, versagt ein großer Teil der Unternehmerschaft auch. Wenn sie die deutsche Wirtschaftskrise durch Zerschlagen der Sozialpolitik, Arbeitszeitverlängerung und Lohnabbau lösen will, so ist das nach einem Worte Henry Fords [Henry Ford (1863-1947), amerikanischer Industrieller. 1903 Gründer der Ford Motor Co., deren Präsident er von 1903-19 und 1943-45 war.] eine Abwälzung der völligen Unfähigkeit der Unternehmer auf die schuldlosen Massen. Mit dieser Politik würde das Kapital den Inlandsmarkt ruinieren und die deutsche Arbeitskraft zerstören. Volkswirtschaftlich sprechen alle Gründe gegen diese Unternehmerpolitik.

Wichtiger noch ist die seelische Seite. Man ruiniert die durchaus notwendige Staatsgesinnung, wenn man den Staat zu einem Büttel des Kapitals und seine rücksichtslosen Profitinteressen macht. Das ist aber der Reaktion, dem Kapital und den Kommunisten gerade recht. Man will den Massen des Volkes die Freude an der Republik und ihren sozialen Leistungen weiter verekeln, nachdem man sie schon durch die Inflation geschwächt hat. Als politisches Propagandamittel hat man die deutsch-völkisch-antisemitische Bewegung in Szene gesetzt. Man übersieht dabei, daß man die Welt von dem, was man fälschlicherweise „Judentum" nennt, nur erlösen kann, wenn man sie von dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen befreit. Schwerindustrie und Großgrundbesitz haben sich nicht weniger „wucherisch" betätigt als die „jüdischen" Kaufleute, in deren Reihen sich verhältnismäßig ebenso viel reinblütig arische Ausbeuter und Betrüger befinden wie jüdische. Man versucht mit Hilfe der „völkischen" Bewegung den „Marxismus" zu zerschlagen, weil man weiß, daß mit ihm auch die ganze deutsche Arbeiterbewegung erledigt ist. Man hat aber nicht die geringste Aussicht auf Erfolg mit diesem Beginnen, wofür auch die bayerischen Wahlen [Bei den bayerischen Landtagswahlen am 6. April 1924 erhielt die SPD 17,2%, 1920: 16,5%. Allerdings hatte die USPD 1920 12,9% erhalten. (KPD: 1920: 1,7%; 1924: 8,3%) Vgl. Falter, Wahlen und Abstimmungen, S. 91.] zeugen.

Eine Bürgerblocksregierung unter deutschnationaler Führung als Wahlresultat des 4. Mai würde uns sozial, wirtschaftlich, innen- und außenpolitisch ruinieren. Unser Dumping verschlösse uns dann die Tore der ganzen Welt, der Kreditmarkt bliebe uns versperrt. Innenpolitisch würde die finsterste Reaktion herrschen und außenpolitisch die Feinde Deutschlands triumphieren lassen. Poincaré [Raymond Poincaré (1860-1934). Präsident Frankreichs 1913-20. 1922-24 Ministerpräsident und Außenminister. 1926-29 Ministerpräsident und Finanzminister.] hat keine besseren Verbündete als Hergt [Oskar Hergt (1869-1967). 1918 Mitbegründer und bis 1924 Vors. der DNVP. 1920-33 MdR, 1927/28 Reichsjustizminister und Vizekanzler.] und Helfferich, [Karl Helfferich (1872-23.4.1924, Eisenbahnunglück). Nach 1918 führendes Mitglied der DNVP, seit 1920 MdR.] Hitler und Ludendorff, [Erich Ludendorff (1864-1937), preußischer General. Während des Ersten Weltkriegs Generalstabschef Paul von Hindenburgs, nach 1918 auf dem völkischen Flügel der dt. Rechten aktiv. Nov. 1923 Beteiligung am Hitlerputsch, 1924-28 MdR (Nationalsozialistische Freiheitspartei), 1925 Kandidat der NSDAP bei der Reichs präsidentenwahl.] deren Sieg ihm bei den französischen Wahlen am 11. Mai aufs neue eine Mehrheit sichern würde. Die Politik der englischen Arbeiterregierung müßte Bankerott machen, und damit wäre die letzte Hoffnung für Deutschland geschwunden. Dem deutschen Volk und dem Deutschen Reich kann nur geholfen werden durch eine Politik des sozialen Aufstiegs, der Demokratie und der Republik.


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