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TEILDOKUMENT:

ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[6.]
Das Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei


Teil 1: STW Nr. 112 v. 16.5.1923;
Teil 2: STW Nr. 114 v. 18.5.1923;
Teil 3: STW Nr. 116 v. 22.5.1923;
Teil 4: STW Nr. 119 v. 25.5.1923;
Teil 5: STW Nr. 122 v. 29.5.1923;
Teil 6: STW Nr. 124 v. 31.5.1923

I.

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ist in der Form, in der sie auftritt, eine Erscheinung der Nachkriegszeit, bedingt durch die großen und schwerwiegenden Tatsachen des Zusammenbruchs, der Konstellation der äußeren Politik und der Wirtschaft. Ihr Ideengehalt aber ist älter und stammt aus der Vorkriegszeit, denn aus sich und ihrer Zeit heraus hat die NS. D. AP. keinen neuen Gedanken hervorzubringen vermocht.

Das Programm der Nationalsozialisten, oder besser die 25 Thesen Hitlers, von denen seine Anhänger versichern, daß sie „dem ganzen Volk eine neue Richtung" geben würden, sind kein Programm, wie es andere Parteien haben. Selbst die bürgerlichen Parteien Deutschlands, die im allgemeinen nicht an einer Überfülle von Prinzipienfestigkeit leiden und ihre Grundsatzlosigkeit und den Mangel an einer eigenen Anschauung in ihren Reihen gern in „realpolitisches Verständnis" umzufälschen pflegen, haben durchweg wenigstens den Versuch einer theoretischen Begründung ihrer Stellungnahme, ein geistig fundiertes Für oder Wider. Bei den Nationalsozialisten fehlt dies gänzlich. Alle großen Fragen werden offen gelassen, um überhaupt erst einmal eine Bewegung zusammenzubringen.

Das stellt die neue Partei von vornherein in den schärfsten Gegensatz zur Sozialdemokratie. Wohl ist es wahr, daß innerhalb des politischen Sozialismus in Deutschland manchmal die Logik der Systeme der Logik der Ereignisse Gewalt anzutun versucht hat. Aber das kommt aus den geschichtlichen Bedingungen, unter denen die Sozialdemokratie zu kämpfen hatte, aus ihrer künstlichen Zurückdrängung in eine isolierte Opposition. Die Nationalsozialisten verfallen in das andere Extrem. Sie stellen Forderungen auf, ohne ihre Voraussetzungen zu untersuchen. Sie betrachten nicht die Entwicklung, sondern sie wollen die Tat.

Doch jede Tat hat neben anderen ihre ideologischen Voraussetzungen. Das Herumdrücken der Nationalsozialisten um die Lösung der Probleme hat gar keinen Sinn. Ihre praktische Politik verrät ihre Gedankenwelt: Das Alldeutschtum der Vorkriegszeit. Seine Weiterbildung bis auf die heutige Zeit hat noch keinen geistigen Führer gereizt. Bis jetzt nimmt sich erst die Sekundogarnitur der deutschen Tagesschreiber der Sache an und stiehlt aus allen möglichen fremden Nestern die einzelnen Brocken zusammen, um sie als echt nationalsozialistische Geistesprodukte dem politisch unerzogensten und ungezogensten Teil des deutschen Volkes zu servieren.

Das Suchen nach großen Ahnherren hat allein für das letzte Jahrhundert deutschen Geisteslebens die merkwürdigste Blütenlese gezeitigt. Neben Fichte und Hegel marschieren Schopenhauer und Nietzsche, Eugen Dühring [Karl Eugen Dühring (1833-1921), Philosoph und Nationalökonom. Er bezeichnete sich auch als den eigentlichen „Begründer" des Antisemitismus.] und Paul de Lagarde, [Paul Anton de Lagarde (1827-1891), Orientalist und Kulturphilosoph. Er plädierte für eine nationale, die Konfessionen überwindende Kirche, daher rührte seine Abneigung gegen das Judentum.] Treitschke [Heinrich von Treitschke (1834-1896), Historiker („Die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", 5 Bde., 1879-94, und politischer Publizist.] und Bernhardi, Chamerblain [Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), Schriftsteller und Kulturphilosoph. Sein wissenschaftlich umstrittenes Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) entwickelt eine arische Rassenideologie.] und Oswald Spengler [Oswald Spengler (1880-1936), Geschichtsphilosoph. In seinem 1918-22 erschienenen Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes" entwickelt er ein Geschichtsverlauf, der durch das organologische Entwicklungsschema von Blüte, Reife und Verfall bestimmt ist und der sich mit deterministischer Notwendigkeit vollzieht.] auf. Wir möchten einmal die politische Bewegung in Deutschland sehen, die sich nicht ihrer Ahnherren in der klassischen deutschen Philosophie rühmte. Hegels entwicklungsgeschichtlicher Standpunkt und seine Auffassung vom Staate bringen ihn in schärfsten Gegensatz zur alldeutschen Theorie und Praxis. Vielleicht, daß irgend ein Schulmeister doch einmal in seine Werke hineingestiert und dort das Wort gefunden hat, daß „das Volk derjenige Teil des Staates ist, der nicht weiß, was er will", und den Hegelschen Staatsbegriff zu wenig kannte, um diese Formulierung richtig zu verstehen. Von Fichte kennen diese Leute ja auch sonst nur seine „Reden an die deutsche Nation", die sie in ihrem Sinne umbiegen. Sein Wort von dem „Vaterland des Europäers" und seinen Hohn für die „Erdgeborenen", seine Staatslehre von 1813 und seine Gegenüberstellung von „National und International" stört nicht, weil man sie nicht kennt. Eher lebt schon mißverstandener Schopenhauer und Nietzsche in der Sache, noch mehr Dühring, Lagarde und Treitschke, am meisten Chamberlain und Spengler. Die beiden gönnen wir ihnen. Im übrigen: Übertragung des naturwissenschaftlichen Denkens, Darwins [Charles Robert Darwin (1809-1882), Naturforscher. Er gilt als der Begründer der modernen Evolutionstheorie („Kampf ums Dasein").] Kampf aller gegen alle.

Für das moderne Alldeutschtum gibt es keine Entwicklung und keine Ziele in der Geschichte. Es kennt nur die Sinnseligkeit und Zwecklosigkeit, in der man sich mit allen Mitteln zu behaupten suchen muß. Es lehnt darum auch jede Geschichtstheorie ab. „Weltgeschichte ist Staatengeschichte, Staatengeschichte ist Geschichte von Kriegen", meint Oswald Spengler. Daß die Geschichte von den einzelnen großen Persönlichkeiten gemacht wird, ist die ergänzende Anschauung Treitschkes. Auf die einzelnen kommt es an. Sie sind es, die sich im Kampfe aller gegen alle behaupten, die keine Moral zu kennen brauchen, die vielleicht für die Masse nötig ist, die man im stumpfen und dumpfen Abhängigkeitsverhältnisse halten muß.

Weil diese Gedankenwelt keine Entwicklung nach oben kennt, weil sie nur „Morphologie" und weil sie der schärfste Ausdruck des Individualismus ist, überträgt sie auch diese Auffassung auf das ganze Volk. So wie ein starkes Individuum bevorrechtigt ist, so auch ein starkes Volk. Das eigene Volk ist alles, es ist die Fleischwerdung des Göttlichen. Dazu stimmen der Pessimismus und die Menschenverachtung nicht ganz, denn für die sind nur die auserlesenen Führer und die aristokratische Schicht, aus der sich die Führer ergänzen, „Menschen" im eigentlichen Sinn des Wortes. Das Volk aber ist ein Mittel, ein totes Ding, eine Waffe in der Hand der wenigen Großen und der Herrenschicht. Die Waffe kann man schonen oder zerschlagen, je nachdem man es für notwendig hält. Um es gefügig zu machen, dazu gebraucht es den nationalen Glauben. Ein Glaube, der ebenso wie der religiöse in der Hand gewisser Fanatiker auch hier die fürchterlichsten und unheilvollsten Verzerrungen zeigt. Auch hier ist die Quelle die allzu geringe Wirksamkeit der Vernunft und das daraus resultierende einseitige Wollen der Fanatisierten. Aus der Heimatliebe, aus der Vaterlandsliebe, aus der Staatsbürgertreue, wird ein Instrument der Ehrsucht und Ruhmsucht, des Egoismus und der Eroberungssucht, wird das politische System der nationalen und wirtschaftlichen Expansion, wird Imperialismus, Endzweck der Natur, alles.

Die Leute, die das Ideal stets im Munde führen, kennen nur Taten des brutalsten Materialismus. Selbst ihre Auffassung von der Nation ist nur zynischer, höhnischer, kalter Naturalismus. Ihre Auffassung der Politik ist nicht anders. Sie setzen die Realpolitik gegen die Idealpolitik, d.h. sie wollen von irgend einer Weltanschauung und Moral in der Politik nichts wissen. Nun wissen gerade wir den Wert der Realpolitik zu schätzen. Überwiegend kann und muß in der Politik an das praktisch handelnde Leben gedacht werden, nicht aber ausschließlich. Es gibt kein System, das realpolitischer gedacht wäre als das von Karl Marx. Kant hat schon auf die Lächerlichkeit und Schiefheit der tief eingewurzelten Auffassung aufmerksam gemacht, daß Theorie und Praxis in einem ausschließenden Gegensatz zueinander ständen. „Man würde", sagt er, „den empirischen Maschinisten, welcher über die allgemeine Mechanik oder den Artilleristen, welcher über die mathematische Lehre vom Bombenwurf so absprechen wollte, daß die Theorie davon zwar fein gedacht, in der Praxis aber gar nicht gültig sei, weil bei der Ausübung die Erfahrung ganz andere Resultate ergäbe als die Theorie, nur belachen, aber im Rechts- und Staatsleben wie in der Moral soll dieser ausschließende Gegensatz gelten, obwohl der auch hier unmöglich ist und ein Widerstreit nur dort gegeben sein kann, wo eins von beiden oder beide irrig sind und die Wirklichkeit verfehlen." Jeder Politiker ist auch Theoretiker, und wenn er solche Gegensätze konstruiert, zeigt er nur, daß er einen zu engen geistigen Horizont hat. In Wirklichkeit zeigen weder Alldeutschtum noch Nationalsozialismus auch nur eine Spur von Realpolitik, sondern bedeuten eine groteske Verkennung der Tatsachen.

Ein Mann wie Heinrich v. Treitschke, der in der Politik ausdrücklich den Gegensatz gebilligt hat, daß der Zweck die Mittel heilige, und der nichts Höheres in der Welt kennt als den eigenen Staat, hat 1866 in der Beurteilung Bismarcks ihm „Mißachtung der Ideen" vorgeworfen und gemeint, „er besitzt, bei aller Kühnheit und Beweglichkeit seines Geistes, ein sehr geringes Verständnis für die sittlichen Kräfte des Völkerlebens." Es ist auch der politische Untergang des alten Preußentums geworden, daß es kein psychologisches Verständnis hatte. Die alldeutsche Gedankenwelt hatte sich bis tief in die offizielle deutsche Politik eingefressen, und selbst eine in jeder Beziehung so schwammige Erscheinung wie Fürst Bülow [Bernhard Fürst von Bülow (1849-1929). Nach einer Karriere im diplomatischen Dienst wurde Bülow im Oktober 1900 Reichskanzler und blieb es bis zum Juni 1909.] phantasierte vom „Hammer und Amboß", von der „kaltblütigen Interessenverfolgung", die über die Anhänger von Ideen siegen werde, und von der „reinigenden, klärenden, sittlichen Kraft des Krieges." Dabei hat selbst einer der geistigen Ahnherren des Alldeutschtums, Eugen Dühring, gesagt: „Als Roheit verschlechtert jeder Krieg die Sitten auch für die Friedenszeit; er vermehrt die Brutalität und Frivolität; er hegt und pflegt den grundsatzlosen Übermut und nährt die Neigungen zum Aberglauben, zu frecher Gewalttat und zur schamlosen Hinwegsetzung über die Gerechtigkeitsrücksichten." Realpolitik, getrieben mit den politischen und sittlichen Anschauungen des Alldeutschtums, führt immer zur abscheulichsten Verzerrung alles Realpolitischen, zur Gewaltpolitik in ihren brutalsten und politisch törichsten Formen.

Dieser Geist aber ist der Geist des Alldeutschtums, den es leidenschaftlich bejaht und mit dem es dem deutschen Volke Hilfe und Rettung bringen will. Der Haß und der Vernichtungswillen der Nationen gegeneinander wird fein philosophisch präpariert als ewiges Lebensgesetz hingestellt. Und Männer, die so denken, werden von einem großen Teil des Bürgertums angehimmelt, z.B. in den „Münchener Neuesten Nachrichten" als der „Typ des neuen Staatsbürgers" hingestellt. Es ist der Typ Hitlers und seiner Freunde, der Typ der Nationalsozialisten, die geistesgeschichtlich und politisch nichts weiter sind als der Versuch, die vom Alldeutschtum für die Außenpolitik aufgestellten Lehren auf die innere Politik zu übertragen. Es ist der Nihilismus der Freibeuter und Abenteurer, erhoben zur Doktrin einer ganzen Richtung.

Was sich bis jetzt an „Theoretikern" im nationalsozialistischen Lager gezeigt hat, wie R. Jung und A. Rosenberg, [Alfred Rosenberg (1893-1946), Politiker und Publizist. Seit 1923 Hauptschriftleiter des NS-Parteiorgans „Völkischer Beobachter". Rosenberg galt als führender Parteiideologe; in seinem 1930 erschienenen Hauptwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts" ist seine rassistische Geschichtsdeutung niedergelegt.] bejaht diese zerstörenden Tendenzen aus vollem Herzen. Das Programm der Nationalsozialisten schweigt darüber, ihre Taten aber reden. Die NS. D. AP. versucht diese Ideenwelt zuerst mit dem Sozialismus oder doch wenigstens mit gewissen sozialen Gedanken zusammenzubringen, weil man glaubt, daß dem Sozialismus die Zukunft gehört. Das Resultat ist ein wertloses Gerede, ein Widerspruch von allem gegen alles: geistiges Chaos.

II.

Der Alldeutsche, der sich als „Realpolitiker" fühlte, stand und steht dem Sozialismus mit dem skeptischen Lächeln gegenüber, das er der Moral und dem Geistigen gegenüber so gerne aufsetzt. Der Nationalsozialismus bedeutet den ersten Versuch, Alldeutschtum und „Sozialismus" miteinander zu verschmelzen.

Die besonderen Verhältnisse im heutigen Deutschland bringen es mit sich, daß durchaus nicht alle Mitglieder und Anhänger dieser Partei diesen Versuch ernst nehmen. Vielen ist sogar dieser „Sozialismus" etwas ungemein Peinliches und Widerwärtiges, das man aber aus taktisch-agitatorischen Gründen nicht direkt bekämpfen darf. Haben sich doch in dieser Partei die verschiedenartigsten Weltanschauungen zusammengefunden. Neben den monarchistisch-aristokratischen Phantomen nachjagenden Offizieren gibt es dort kleine Händler und Gewerbetreibende, die eine Erlösung vom Großbetrieb und vom Warenhaus erhoffen, gibt es vor allen Dingen auch das, was Rathenau [Walther Rathenau (1867-1922), Industrieller, Politiker, Schriftsteller. Ab 1.2.1922 Reichsaußenminister, unterzeichnete er den Rapallo-Vertrag und wurde als heftig angegriffener „Erfüllungspolitiker" am 24.6.1922 von zwei rechtsextremen Offizieren der „Organisation Consul" ermordet.] den gefährlichsten Feind der deutschen Republik genannt hat, die sozial Deklassierten, einen aus Kapitalrentnern, Intellektuellen und ähnlichen Schichten des gebildeten Bürgertums zusammengesetzten Mittelstand, der die Gründe seines Versinkens nicht im Gange der kapitalistischen Entwicklung, sondern in der Änderung der äußeren Staatsform sieht. Diese Kreise geben der Bewegung das äußere Gepräge. Der innere Kampf aber spielt sich ab zwischen einem grob materialistischen Unternehmertum, das die NS. D. AP. als Waffe gegen die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zum Schutze seiner Portemonnaieinteressen mißbrauchen möchte, und idealistisch enttäuschten Proletariern, die an den Aussichten der sozialistischen Arbeiterbewegung verzweifeln, weil sie den Gang der Entwicklung nicht verstehen können.

Sie alle eint erst das rein negative Band des Judenhasses, der aus den verschiedensten Motiven bei ihnen entstanden und bei vielen von ihnen nur recht äußerlich ist. Etwas Positives haben sie noch nicht. Weil aber neben dem Haß gegen den äußeren Feind, vor allem die Franzosen, deren Chauvinismus sich hier als bester Verbündeter des Alldeutschtums erweist, in einer Zeit des wildesten Kampfes aller gegen alle (der doch eigentlich den Alldeutschen ihrer ganzen Gedankenrichtung nach sympathisch sein müßte), vor allem die Bekämpfung des Wucherer- und Schiebertums populär ist, liegen hier die hauptsächlichen Tummelplätze der nationalsozialistischen Forderungen. Der ganze „sozialistische" Einschlag ist lediglich eine agitatorische Ausnützung der politischen Konjunktur. Selbst die wenigen inhaltslosen Floskeln dieser Art, die das Nürnberger Programm der Nationalsozialisten zeigt, liegen den Geldgebern schwer im Magen und veranlassen sie zu dem Verlangen nach Revision des Programms.

In dieser sozialen Konjunktur liegt auch der Grund des Eindringens des Österreichertums in die nationalsozialistische Bewegung Deutschlands. Hitler und Jung, der praktische und der „theoretische" Führer, sind Österreicher. In Österreich nämlich ist die nationalsozialistische Bewegung bereits älter. Geboren ist sie in den nationalen Kämpfen der Sudetenländer. Die einzelnen zusammenhanglosen Vereine segelten unter der Führung der unter Schönerer [Georg Ritter von Schönerer (1842-1921), österr. Politiker. Seit 1879 einer der Führer der deutschnationalen Bewegung in Österreich, vertrat er einen radikalen Antisemitismus. Nach einer Gewaltaktion gegen den politischen Gegner 1888 wurde er mit Kerkerhaft belegt und mußte die Führung der Deutschnationalen Partei abgeben.] stehenden Alldeutschen Partei. Parteizwistigkeiten machten bald dem Zusammenarbeiten ein Ende, und 1904 wurde die „Deutsche Arbeiterpartei" gegründet. Sie stand im schärfsten Gegensatz zu dem Bürgertum und seinen politischen und sozialen Auffassungen. Ihr „Trautenauer Programm" forderte sogar „teilweise Vergesellschaftung." Vom eigentlichen Sozialismus war aber noch nichts zu sprüren. Die Hauptaufgabe der Partei bestand im Kampf um die nationalen Minderheitsrechte der Deutschen in Böhmen, Schlesien und Mähren. Allmählich wurden die Gedanken der Boden- und Geldreform populärer und fanden nach dem Zusammenbruch auch mehr Beachtung in der Öffentlichkeit. Am 7. und 8. August 1920 kam es in Salzburg zur Vereinigung aller Nationalsozialisten Deutschösterreichs, des Deutschen Reiches und der Tschechoslowakei, zur Gründung der Nationalsozialistischen Partei des deutschen Volkes. Man glaubte besonders in den Nationalsozialisten Bayerns eine entsprechende Bruderpartei gefunden zu haben.

Es ist ein eigen Ding um den Sozialismus der „Nationalsozialisten Groß-Deutschlands." Letzten Endes beschränkt er sich auf die Formel „Gemeinnutz vor Eigennutz." Aber die alldeutsch-liberalistische Auffassung von der Freiheit der „großen" Persönlichkeit macht dieses Wort zu einem leeren Wahn. Alldeutschtum und Sozialismus sind diametral entgegengesetzte Prinzipien. Denn das Alldeutschtum ist nationalistisch und liberal in einer Weise, die überfirnißter Nihilismus ist. Darum hat die Nationalsozialistische Partei weder sozialistische Lehren, noch sozialistische Prinzipien, noch ein sozialistisches Programm. Sie steht der Sozialisierung ablehnend gegenüber, will die Aufrechterhaltung des Privateigentums, kennt nicht einmal die Wirtschaftshoheit des Staates und kämpft nicht für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Sie doktert lediglich an äußeren Auswüchsen des Kapitalismus herum, ohne das System als solches umwandeln zu wollen. Sie beschäftigt sich mit dem Zins und übersieht den Mehrwert. Sie hat nicht einmal ein Verhältnis zu den Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens, auch nicht zum Staate an sich. Gerade die Hitlersche Politik zeigt, daß ihr der Kampf um die Form wichtiger ist als um das Bestehen der Sache selbst.

Aus der Bekämpfung der bloßen Symptome und dem Bestehenlassen des kapitalistischen Systems entspringt auch die Unterscheidung von raffendem und schaffendem Kapital. Das schaffende Kapital (Industrie und Landwirtschaft) wird anerkannt, und nur die nisse aus dem raffenden Kapital (Banken und Handel) werden als arbeitsloses Einkommen bezeichnet, das aufgehoben werden muß. Daß eine Trennung von raffendem und schaffendem Kapital gar nicht möglich ist, sondern eine solche Methode letzten Endes nur eine Desertierung von dem Ziel einer kollektivistischen Wirtschaft zur individuell-kapitalistischen bedeutet, geht diesen „Sozialisten" ebensowenig ab wie die Tatsache, daß die neueste Phase des modernen Kapitalismus die reine Herrschaft des Finanzkapitals bereits als etwas Überwundenes erscheinen läßt und Finanz- und Industriekapital in einer Weise zusammengeschmolzen sind, in der das Industriekapital den materiellen Inhalt, das Finanzkapital die Form und die Methode des kapitalistischen Kampfes bestimmt.

Es ist ein Agitationsschwindel, wenn von seiten der Nationalsozialisten behauptet wird, daß der „Marxist" das „Leihkapital" schone, während er das „ehrlich schaffende Kapital" bekämpfe. Die Sozialdemokratie betrachtet das „Leihkapital" genau so wie jede andere Form des Kapitals als Gegner. Auf dieser wissenschaftlich völlig falschen Unterscheidung beruht auch die Stellung der Nationalsozialisten zum Klassenkampf. Der Klassenkampf wird als eine jüdisch-marxistische Erfindung abgetan. Unter den reichsdeutschen Intellektuellen der NS. D. AP. ist die Spenglersche Phantasie von dem auf ethischer Grundlage beruhenden „Stand", der die lediglich wirtschaftliche „Klasse" an Wichtigkeit und Wert übertreffen soll, das Grundlegende. Der Marxismus soll der Kapitalismus der Arbeiter sein, der sie zu ödem Materialismus verführt. Das klingt so ähnlich, als wenn die „Deutsche Arbeitgeberzeitung" auf den bloßen Materialismus der Arbeiter hinweist und ihm den Idealismus der Unternehmer entgegenstellt.

Nach Spengler ist der Gegensatz nicht arm und reich, sondern - befehlen und gehorchen. Das gilt wenigstens nach seiner Ansicht für den deutschen realpolitischen Menschen, den er dem materialistisch-klassenmäßig denkenden Engländer gegenüberstellt. Daß der Klassenkampf eine Tatsache oder vielmehr eine mannigfache Fülle der verschiedenartigsten Tatsachen darstellt, dem alle ihren Tribut zu zollen haben, auch diejenigen, die ihn mit dem Munde leugnen, geht diesen sonderbaren Schwärmern nicht auf. Trotzdem sie doch einer Klasse wie dem deutschen Bürgertum entstammen, das seine Klasseninteressen immer vor die nationalen Interessen gesetzt hat.

Da wissen die Österreicher Nationalsozialisten als alte Praktiker besser mit der Tatsache des Klassenkampfes zu rechten. Sie können ihn natürlich nicht zur Grundlage ihrer ganzen Politik machen, denn dann entfiele die Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital, und die Partei müßte schlechthin antikapitalistisch werden. Doch haben sie auf dem am 13. und 14. August 1921 zu Linz stattgefundenen Vertretertag der Nationalsozialisten Groß-Deutschlands ein Formulierung durchgesetzt, in der „die Deutsche Nationalsozialistische Partei erklärt, daß sie sich zum Klassenstandpunkt der schaffenden Arbeit bekennt." Sie ist also eine Klassenpartei, möchte aber gern das schaffende Kapital für ihre Klasse in Anspruch nehmen.

Die ganze merkwürdige soziologische und ökonomische Konstruktion scheint nur zu einem gewissen politischen Zweck unternommen worden zu sein. Man stellt das „Leihkapital" als den einzigen Feind dar, weil man es mit dem Juden gleichstellen zu können glaubt. Die Folgen des hemmunglos gewordenen kapitalistischen Systems wird einer bestimmten, nach der Rasse abgesonderten Kategorie von Menschen in die Schuhe geschoben. Das ist möglich, weil die Juden aus geschichtlichen Gründen fast ausschließlich im Kaufmannsstand und in Berufen der Geldwirtschaft untergebracht sind, während die Deutschen nur zu einem kleinen Bruchteil sich mit diesen Geschäften abgeben. Auf Grund dieser Tatsache sind natürlich die Juden an Delikten wie Bankrott und Wucher um das Vielfache stärker beteiligt. Aber das kommt doch nur daher, weil die Deutschen nicht in demselben Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl an diesen Berufen teilhaben. Man muß die gleiche Zahl jüdischer Kaufleute der gleichen Zahl christlicher Kaufleute gegenüberstellen. Dann wird man sehen, daß in dieser Zeit der schamlosesten Ausbeutung aller durch alle beide Teile annähernd die gleiche Anzahl von Ausbeutern, Wucherern und Gaunern hervorbringen und in jeder Beziehung einander würdig sind. Wenn hier Leute des „schaffenden" Kapitals auf einmal ihr volksfreundliches Herz entdecken, so liegt dies daran, daß sie eine Waffe gegen die gewandte Konkurrenz haben wollen. Und wenn die Vertreter des alten Systems dabei begeistert mitmachen, dann darum, weil sie einen Sündenbock brauchen, der die Blicke von ihrer eigenen wenig einwandfreien Handlungsweise ablenkt. Gäbe es in Deutschland keinen Antisemitismus, diese Kreise müßten ihn aus Selbsterhaltungstrieb erfinden.

Gerade aber weil Industrie, Landwirtschaft und Monarchismus so stark an der Bewegung beteiligt sind, ist nicht damit zu rechnen, daß die Nationalsozialistische Partei so, wie sie heute ist, bestehen bleibt. Man darf nicht übersehen, daß die Nationalsozialisten Österreichs ihre proletarische Färbung nur durch eine Abspaltung von der gesamten alldeutschen Bewegung haben erringen und bewahren können. Diese Spaltungskämpfe, die dort bereits der Geschichte angehören, werden auch die deutsche Partei erschüttern und zerreißen und haben teilweise schon heute begonnen.

Die Nationalsozialisten sind weder für den Sozialismus, noch für den Staat. Sie sind nur für Herrschaft, Imperialismus und Rasse.

III.

„Ehe also der wirtschaftliche Kampf beginnen kann, muß der völkisch-politische ausgetragen sein... Der Machtkampf wird sich zunächst innerhalb der deutschen Grenzpfähle abspielen", meint Alfred Rosenberg in seinem parteioffiziösen Kommentar zum Nürnberger Programm der NS. D. AP. Das bedeutet, daß der soziale Kampf gänzlich zurückzutreten hat hinter dem völkischen. Das heißt aber auch, daß der Kampf geführt wird in den Formen des reinen Machtkampfes, ungehindert durch moralische Hemmungen und unbeirrt durch Anschauungen des Rechts. Nicht Klassenkampf, sondern Rassenkampf. An dessen Ende soll dann stehen die Diktatur der „Rasse", ähnlich wie im analogen kommunistischen Klassenkampf die Diktatur der „Klasse". Ebensowenig wie dies irgendwo bei den Kommunisten der Fall gewesen ist, sondern die „Diktatur über das Proletariat" das Ende war, hat die nationalsozialistische Diktatur der Rasse irgendeine andere praktische Möglichkeit als die der Diktatur über die Rassegenossen.

Dieses Streben nach der Diktatur auch über die „gleichblütigen Volksgenossen" ist ein immanenter Bestandteil der alldeutschen Gedankenwelt und des nationalsozialistischen Programms. Irgendwie zu einem festen Ausdruck im Programm oder zu einer theoretisch sicheren Begründung ist er nicht gelangt. Hier fehlt noch alles, selbst die festumrissenen „Forderungen", in denen die Nationalsozialisten doch sonst so stark sind. Das ganze nationalsozialistische Programm beantwortet keine einzige politische Frage. Man weiß noch nicht, was man will. Ob Monarchie oder Republik, Demokratie oder Diktatur, Parlamentarismus oder Räteverfassung. Alles bleibt offen. Nur in der Kritik ist man sicher, kann es auch sein, weil man alles Bestehende als „verjudet" ansieht. Ganz am Schluß des Nürnberger Programms ist von Standes- und Berufskammern und - einem politischen Zentralparlament die Rede. Das ist etwas wenig und etwas unsicher von einer Partei gefordert, die doch mit einigen festen Griffen die ganze Welt nach ihrem Bilde formen will.

Man ist also für die Beurteilung der politischen Forderungen der NS. D. AP. vorwiegend auf die nationalsozialistische Literatur und die ihr zugrundeliegenden Autoren angewiesen. Im ganzen Wesen des Alldeutschtums liegt der schrankenlose Individualismus, auch der nationale. Das Programm der NS. D. AP. fordert dementsprechend das „nationale Selbstbestimmungsrecht." Von den anderen Nationen und ihren „Rechten" schweigt es, muß es schweigen, wenn es sich nicht selbst den Boden unter den Füßen wegziehen will. Das Alldeutschtum kann niemals irgend welche „Rechte", sondern nur die Gewalt und die auf dieser beruhenden Tatsachen - sogar in der inneren Politik - anerkennen, denen gegenüber alle Rechte für diese „Rechtspolitiker" von vornherein imaginärer Natur sind. Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen widerspricht ihrer ganzen Anschauung von Politik und Geschichte. Wenn es keine Freiheit, keine Versöhnung, keine Menschheit, keine Internationalität, kurz keine auf Recht und Moral gegründeten zwischenstaatlichen Beziehungen gibt, dann ist das Selbstbestimmungsrecht für das eigene Volk eine Farce, die um so grotesker ist, als überall sonst in der Welt die großen Völker die Macht zur Registrierung dieses „Rechtes" haben, nur das deutsche nicht.

Für die Wertschätzung der Staatsform ist geistig vor allem Oswald Spengler für das Alldeutschtum der Nachkriegszeit maßgebend. Dieser dilettantische Modephilosoph, der um so sicherer über Dinge, Menschen und Ideen urteilt, je weniger er von ihnen weiß, hat ein höchst einfaches Wertschema. Der Gegensatz des Deutschlands vor und nach dem Kriege ist ihm der Gegensatz von „General" und „Bankier", von Rang und Geld, von Geist und Materie. Das alte Preußentum hält er für idealistisch-sozialistisch, das neue Deutschland für eine liberalistisch-materialistische Angelegenheit im englischen Sinne. Republik ist danach die Käuflichkeit der Verwaltung, gegen die es nur den einzigen Schutz der Despotie gibt. Bei dieser naiven Schwarz-Weiß-Malerei übersieht er, daß an sich die Staatsform gleichgültig ist für den Grad der „Käuflichkeit" der Verwaltung und daß dafür in erster Linie die ökonomische und soziale Struktur des Landes maßgebend ist. Übersehen wird auch, daß die Existenz eines Monarchen von völlig untergeordneter Bedeutung sein kann, und übersehen wird schließlich, daß auch der General wie der Verwaltungsmann und die Justiz in dem Effekt ihrer Tätigkeit „käuflich" sind, weil sie diese ausüben in den Anschauungen ihrer Klasse und dem Willen, sich in dieser Klasse zu erhalten. Der republikanische Staat hat besser als der monarchische die Möglichkeit, sich eine reine „Staatsdienerschaft" heranzuziehen, weil er in der Auswahl nicht durch dieselbe Fülle gesellschaftlicher Vorurteile behindert ist.

Die Verkörperung des bösen Prinzips ist dieser ganzen Ideenwelt der Parlamentarismus. Korruption aber ist nicht nur unter anderen staatsrechtlichen Verhältnissen auch möglich, sondern stets vorhanden gewesen. Daß die Mißerfolge des Parlamentarismus und der demokratischen Republik in Deutschland nur Konsequenzen einer außenpolitischen Situation sind, die noch von den Kräften des alten Regimes geschaffen ist, wird völlig übersehen. Man verwirft den Parlamentarismus als System, trotzdem er in anderen Ländern die bedeutendsten nationalen Erfolge gezeitigt hat aus prinzipiell „völkischen" Auffassungen heraus. Dabei hilft man sich mit einer völkerpsychologischen Klitterung. „Parlament kommt von parlare, reden. Wir Deutschen aber sind jederzeit Tatmenschen gewesen", meint Rudolf Jung von dem Volk, das sich selbst „das Volk der Dichter und Denker" nennt. Immerhin ist doch der Einfluß des schon über eine gewisse politische Erfahrung verfügenden Österreichertums im Nationalsozialismus so stark, daß man die karikaturistischen Auffassungen Spenglers, der keine Berufspolitiker und keine periodischen Wahlen kennen mag, sich in seinen praktischen Erwägungen nicht zu eigen macht.

Man spricht den großen Bannfluch über Demokratie, Parlamentarismus und Parteiwesen aus, um - sie wieder einzuführen durch ein Zweikammersystem, in dem die „zweite Kammer auf Grundlage der Berufsvertretung" zustande kommen soll. Auch hier soll der Rätegedanken das Heil bringen, ohne daß er die politisch-parlamentarische Volksvertretung aus der Welt zu schaffen vermöchte. Alle spielerischen Konstruktionen des Herrn Dr. Tafel [Dr. Paul Tafel war eines der führenden Mitglieder des Alldeutschen Verbandes in der 1897 gegründeten Ortsgruppe München. Vgl. München - „Hauptstadt der Bewegung". Hg. vom Münchener Stadtmuseum. München 1993, S. 54.] von der „Urwählergemeinde" ändern daran nichts, daß auch der Nationalsozialismus praktisch über den Parlamentarismus nicht hinaus kann, weil er nicht über seine Zeit hinaus kann. Das Nürnberger Programm deutet dieses Zweikammersystem in bewußt unklarer Weise an. Man will wohl unter allen Umständen das Alte stürzen. Wie wenig man aber weiß, was man an seine Stelle setzen soll, beweist der Satz der Jungschen Programmschrift: „Die Entscheidung darüber, welche der beiden Kammern der Volksvertretung im Staatsleben künftig die größere Rolle spielen soll, überlassen wir ruhig der Entwicklung." Die Entwicklung hat aber in Deutschland auch noch nicht das letzte Wort in Sachen der Machtverteilung zwischen politischem und Wirtschaftsparlament gesprochen, die ja beide bei uns vorhanden sind. Das ganze verkrampfte Geschrei der Nationalsozialisten gegen den Parlamentarismus wäre also nach ihrem eigenen Eingeständnis unnötig. Nur berührt es merkwürdig, wenn eine Partei, die „den Materialismus durch den Idealismus überwinden" will, durchaus der brutal materialistischen Berufsvertretung das Übergewicht über das doch viel mehr ideologisch orientierte politische Parlament sichern will und die Verkörperung des ganzen vielgerühmten Idealismus in der berufsständischen Interessenvertretung sieht. Das steht doch im Widerspruch zu der Auffassung, daß die geeignete Staatsform diejenige sei, die es „der Geldmacht unmöglich mache, zu herrschen." Gerade als ob „Agrar- und Industriekapital" keine „Geldmacht" im politischen Sinne wären und auf purem Idealismus Mehrwert akkumulierten.

Eine ebenso jammerwürdige Unsicherheit zeigt der Nationalsozialismus in der Frage, ob Monarchie oder Republik. „Der Führer mag ruhig König heißen, das ist unwesentlich, wesentlich dagegen ist, daß er von Volkes Gnaden seine Stelle einnimmt", schreibt Rudolf Jung. „Von Volkes Gnaden" ist ein Bekenntnis zur Demokratie, mag man diese auch praktisch noch so sehr durch alle möglichen historischen Schnörkel und Konstruktionen zu verbiegen suchen. Damit stellt sich der politisch erfahrene Österreicher in Gegensatz zu der überspannt monarchisch-aristokratischen Auffassung des Herrn Spengler, der die reichsdeutschen Intellektuellen doch zum mindesten gefühlsmäßig unendlich viel stärker beeinflußt. Jung sieht ein, daß die Erbmonarchie erledigt ist, weil er aber, nachdem er die heutigen Mittel zur Lösung des Problems „grundsätzlich" ablehnt, ganz hilflos dasteht, sucht er als rückwärtsschauender Prophet nach geschichtlichen Vorbildern und findet sie im Wahlkönigtum des alten Deutschland, das „seinem Wesen nach eher Republik als Monarchie" war.

Die praktische Konsequenz wäre - Wahlkönig Hitler „von Volkes Gnaden". Auch hier „Volk" gleich „völkisch". Maßgebend für das Zustandekommen dieser verzerrten Ideologie ist die überspannte Auffassung vom Wesen des politischen Genies, der großen führenden Persönlichkeit. Der altgermanische „Herzog" spukt in den Köpfen dieser historischen und politischen Dilettanten. Die nationalsozialistische Auffassung sieht auch in der Staatsform den Ausdruck eines ganz bestimmten völkischen Charakters. Weil sie aber mit den großen Tatsachen nicht fertig werden kann, ja sie sogar anerkennen muß, wenn sie sich mit ihnen praktisch beschäftigt, holt diese „Realpolitik" ihre „völkischen" Auffassungen aus der historischen Rumpelkammer und versucht, mit Anachronismen neue Wege zu schaffen.

Alle diese historischen Spielereien vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, daß das nationalsozialistische Programm keine einzigen der großen politischen Fragen beantwortet. Das liegt in der Zusammensetzung der Bewegung. Proletarier und Offiziere, Großindustrielle und Mittelständler haben eben verschiedene Auffassungen von Staat und Staatsform. Die dichten Schleier der völkischen Vorurteile, die heute noch über dem ganzen Fragenkomplex liegen, zeigen allmählich, wie wir ja auch in Württemberg zu spüren bekommen, immer größere Risse. Man kann die politischen Grundfragen nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man sie totschweigt und ein bißchen antisemitischen Dunst macht. Um die „Bewegung" zu halten, hat man sich auf ein Programm der Programmlosigkeit geeinigt. Die Politik aber fordert Bekenntnisse und Taten. Dieselben Leute, denen die mutige Tat alles ist, haben in ihrem Programm nicht den Mut, die nötige Klarheit, die Voraussetzung jeder erfolgreichen Tat, zu schaffen.

IV.

Leider schweigt das Programm darüber, mit welchen Mitteln man die politische Macht erobern will. Die militärische Organisation der Partei und ihr Auftreten im Tageskampf lassen allerdings keinen Zweifel darüber zu, daß man an das allein seligmachende Maschinengewehr glaubt. Trotzdem verübeln sie den „Marxisten" ihre Kampfesweise, nennen die Diktatur die Herrschaftsform des Judentums und verdammen es, daß Klassenbewußtsein und Klassenkampf „letzten Endes militärischen Gedankengängen entliehen" sind. Hinter das Geheimnis dieser Zwiespältigkeit führen die Salzburger Leitsätze vom 7. und 8. August 1920. Dort heißt es: „Nicht Umsturz, sondern zielbewußte, schaffende Reformarbeit allein kann die heutigen unhaltbaren Verhältnisse in der Gesellschaft überwinden." Rudolf Jung polemisiert in dem „Wirtschaftliche Reform oder Umsturz?" betitelten Kapitel seiner Programmschrift heftig gegen den „umstürzlerischen Marxismus", von dem er alle möglichen Vorstellungen hat, nur nicht die richtigen, ohne aber das, was er „Revisionismus" nennt, mehr Gnade vor seinen Augen finden zu lassen. Von Interesse ist lediglich die politische Konsequenz: „Wir ... haben von jeher den Standpunkt der Wirtschaftsreform verfochten. In völkischer Hinsicht sind und bleiben wir revolutionär; in wirtschaftlicher waren wir stets Reformer und sehen keinen Anlaß, diesen Standpunkt zu ändern." Das bedeutet bei der ganzen Gedankenrichtung dieser Kreise, daß ihr „Sozialismus" hinter das „Nationale", d.h. die Wirtschaftsreform hinter das antisemitische Moment zurückzutreten habe.

Der Kernpunkt ihrer Wirtschaftsforderungen ist die „Abschaffung des arbeitslosen Einkommens." Die Mittel dazu sind Bodenrechts- und Geldreform sowie die Vergesellschaftung der Privatmonopole. Sie beschäftigen sich also mit den drei Formen der Rente: Kapitalzins, Grundrente und Kartellrente und wollen sich angeblich bemühen, diese drei Erscheinungen aus der Welt zu schaffen und so die soziale Frage zu lösen. Die Kampfesmethoden bedeuten eine bewußte grundsätzliche Abgrenzung der sozialistischen Ideenwelt. Den Gedanken der Vergesellschaftung der Produktionsmittel lehnen sie ab. „Wir Nationalsozialisten sind keine Kommunisten, denn wir wollen die Privatwirtschaft nicht ganz beseitigen." Jung hätte auch gleich hinzufügen können, daß sie auch keine Sozialisten seien, wenn sie etwas ablehnen, ohne das Sozialismus überhaupt nicht möglich ist. Sie lehnen den Sozialisierungsgedanken ab. „Die Hingabe an die Doktrin der „Vollsozialisierung" ist abzulehnen, deren auch nur versuchte Durchführung den Tod jedes schöpferischen Unternehmertums, jeder persönlichen Existenz bedeutet", meint Alfred Rosenberg. Sie wollen an den Grundlagen der individualistischen Wirtschaftsweise nicht rütteln und trotzdem ihre notwendigen Erscheinungen aus der Welt schaffen.

Diese Anschauung ist bedingt durch ihre Auffassung von der Verschiedenartigkeit des Wertes der einzelnen Kapitalsgruppen. Sie teilen in Raffer und Schaffer und sehen in den Schaffern die geistig oder körperlich „produktiv" Arbeitenden, worunter sie auch die Unternehmer in Industrie, Landwirtschaft und Gewerbe verstehen. Man will also aus der Gesamtheit das Leih- und Finanzkapital eliminieren. Nur dieses soll durch seine Ausbeutung, die es mittels seiner Rentenbezüge an der Allgemeinheit begeht, unproduktiv und schädlich sein. Seine Ausschaltung wird dann den „gerechten Lohn" für alle Arbeitenden bringen. Das Suchen nach dem „justum pretium" ist etwas älter als die NS. D. AP. und hat im Lehrlingsgesetz der Königin Elisabeth von 1562 in England schon einmal einen großartigen Ausdruck gefunden. Der Frühkapitalismus ist über die Trümmer dieser Versuche hinweggegangen, trotzdem es damals noch keinen modernen „Finanzkapitalismus" gab und dementsprechend die Juden die Rolle, die ihnen heute von den Alldeutschen zugeschrieben wird, gar nicht haben spielen können. Das Gewerbe-, das Industrie- und das Agrarkapital haben die Lohnpolitik getrieben, die zu den pessimistischen Anschauungen führte, wie sie sich auf Arbeiterseite im „ehernen Lohngesetz" und bei den Unternehmern in der „Lohnfondstheorie" ausdrückt. Wenn sich die Arbeiter in den Jahrzehnten vor dem Kriege einen größeren Anteil am Volkseinkommen eroberten, dann nur durch eigene Kraft, sei es im wirtschaftlichen Kampfe der Gewerkschaften oder durch politischen Druck auf den Staat.

Das Handels- und Leihkapital ist von dem sich verzweifelt wehrenden Kleinbürgertum seinerzeit als „mobiles Großkapital" bezeichnet und bekämpft worden. Der Fehler der nationalsozialistischen Anschauung liegt nun darin, daß sie die Erscheinung des arbeitslosen Kapitaleinkommens auf die Funktionen nur dieser beiden Kapitalgruppen zurückführen wollen, und sie als Wucher und Schacher bezeichnen. Danach entstände also der Profit durch Überteuerung der Kundschaft, an der vor allem die Zinslast Anteil hat. Es ist nicht die Tatsache, daß Waren über ihren richtigen Wert hinaus verkauft werden, die zur Entstehung des Profits führt. Auch wenn die Waren zu ihrem richtigen Wert verkauft werden, wird Profit gemacht. Der Kapitalist kauft vom Arbeiter die Arbeitskraft. Zur täglichen Erzeugung seiner Arbeitskraft verbraucht der Arbeiter keineswegs einen ebenso großen Wert, wie er durch seine Arbeit täglich schaffen muß, um die kapitalistische Produktion zu erhalten. Die von ihm geleistete Arbeit ist größer als der Anteil der Produktionskosten, den man Arbeitslohn nennt. In dem Unterschied der für die Herstellung einer Ware geleisteten und der dafür bezahlten Arbeit liegt der Ursprung des Profits. Die Ausbeutung der Arbeiter innerhalb des Produktionsprozesses ist die Grundlage des Mehrwerts. Teile davon müssen als Renten, Zinsen, Dividenden usw. an andere Kapitalisten abgegeben werden. Eine Ausschaltung der Zinsen würde also nur bedeuten, daß der den Produktionsprozeß leitende Kapitalist seinen Mehrwert zugunsten anderer Kapitalisten nicht zu verringern braucht. Der Grund dafür aber ist nicht einzusehen. Es kann moralisch und sozial wohltätig sein, Darlehen, die für Zwecke des Konsums gegeben sind, zinslos zu halten. Volkswirtschaftlich aber kommen nur Darlehen zu Produktionszwecken in Betracht. Die Erklärung des Zinses für Kapital, das zu produktiven Zwecken entliehen wird, liegt darin, daß Kapital ja nichts anderes bedeutet als die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und dadurch die Möglichkeit gibt, die eigene Arbeit produktiver zu gestalten. Die Notwendigkeit, produktive und konsumtive Verwendung des Darlehens auseinanderzuhalten, hat schon im Mittelalter das kantonische Recht begriffen, als es das Zinsnehmen für Konsumdarlehen verbot, für Darlehen an Unternehmer aber gestattete.

Eine ganz oberflächliche Betrachtung ist es, wenn der industrielle und landwirtschaftliche Unternehmer als produktiv im Gegensatz zum Finanzkapitalisten betrachtet und ihm der Profit gewissermaßen als „Arbeitslohn" zugebilligt wird. Wenn er zum Teil deswegen, weil er seine Kapitalien riskiert, ein größeres Einkommen haben soll, so muß auch beim Zins des Anleihekapitals eine notwendige Risikoprämie zugebilligt werden. Vor allem aber richtet sich die Größe des Profits nicht danach, wieviel der Kapitalist in Industrie und Landwirtschaft selbst arbeitet, sondern mit welchen Kapitalmitteln (Produktionsmitteln aller Art) er sein Geschäft betreibt. Es ist sein Eigentum, das die Nationalsozialisten ja unangetastet lassen wollen, das ihm die Möglichkeit zu neuer Kapitalsbildung und gesteigertem Einkommen gibt und nicht seine Arbeit. Und selbst das Unternehmereinkommen entspringt durchaus nicht nur „eigenem ehrlichen Schaffen." Einmal ist seine Höhe durchaus abhängig von der Konjunktur, etwas, das die nationalsozialistische „Wissenschaft" völlig übersieht. Zum andern besteht er aus zwei grundverschiedenen Elementen. Auch der Unternehmer leistet Arbeit. Weil es eine besonders qualifizierte Arbeit ist, mag er darum auch ein besonders hohes Einkommen haben, das so hoch sein darf, daß alle seine speziellen Eigenschaften und Leistungen damit entlohnt sind. Aber nach Abzug des Unternehmerlohnes bleibt noch etwas übrig, der Unternehmergewinn, der allein spezifisch für den Unternehmer ist, während Zins, Geldrente und Lohn usw. auch anderen Personen zufallen können. Diesen besonderen, seiner Natur nach monopolartigen Unternehmergewinn bedroht der „Sozialismus" der Nationalsozialisten durchaus nicht, sondern möchte ihn gern auf Kosten des übrigen Kapitals vergrößern. Eine größere Begriffsverwirrung ist wohl nicht denkbar, als wenn Jung in seiner Programmschrift schreibt, daß „Gewinn grundsätzlich berechtigt ist, denn er stellt Entlohnung für geleistete Arbeit dar". So sehen die Leute aus, die der deutschen Arbeiterschaft den „Sozialismus" bringen wollen.

Mit den Beziehern der Unternehmergewinne und den Nutznießern des Mehrwerts zusammen will diese „Klassenpartei der Schaffenden" die „Zinsknechtschaft" brechen. Würden sie das ihnen so verhaßte Finanzkapital treffen, dann schlügen sie zu gleicher Zeit das ach so geliebte Industrie- und Agrarkapital tot. Da die in Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe erzeugten Mehrwerte nicht immer im eigenen Betriebe angelegt werden können, muß das Betriebskapital eine Zeitlang müßig rasten. Es ist Mehrwert, der so daliegt und nur die Geldform angenommen hat, ohne aus einer anderen Tatsache als der, daß er geronnene Arbeit ist, seine Kraft zu ziehen. Das Finanzkapital hat die Aufgabe der Zentralisation und Verteilung dieses Kapitals zu produktiven Zwecken. Es nimmt nicht nur Zinsen und verteuert die Produktion, sondern es ist dazu da, um die Produktion zu ermöglichen. Die Finanzierungstätigkeit aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mehrwerterzeugung nur durch Ausbeutung der Arbeiter in den „produktiven" kapitalistischen Tätigkeiten vor sich gegangen ist. Genauso veränderlich und „mobil" wie das Finanzkapital ist bereits das Industriekapital geworden. Auch hier ist Leitung und Eigentum durch die Tatsache der Mobilisierung aller bisher immobilen Werte durch das Effektenwesen getrennt worden.

Die eine verlegene Redensart Jungs von dem „Aktienunwesen" vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß weder das Programm noch die Literatur der Nationalsozialisten irgend etwas gegen das Industriekapital (eine Anhäufung von Mehrwert), das nur in den Formen des Finanzkapitals sich bewegt, mit ihm aber sachlich und personell größtenteils identisch ist, zu sagen weiß. Die Forderung nach Verstaatlichung der Banken und Unterdrückung des Leihkapitals bekommt erst dann Sinn, wenn sie ein Teil der Forderung wird, das kapitalistische System durch das sozialistische zu ersetzen. Das wollen aber die Nationalsozialisten gerade unter allen Umständen vermeiden.

Weil der Nationalsozialismus die Kampffront an der falschen Stelle quer durch den Kapitalismus anstatt grundsätzlich zwischen den Besitzern der Produktionsmittel auf der einen und den nur Schaffenden auf der anderen Seite zieht, kommt es zu den merkwürdigen Forderungen bei seinen Vorschlägen zur Währungsreform. Hier heißen seine Schwurzeugen Gottfried Feder [Gottfried Feder (1883-1941), NS-Politiker, 1924-36 MdR. Er trat v.a. mit Thesen zur „Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes" hervor und galt als Repräsentant des „antikapitalistischen" Flügels der NSDAP.] und - Silvio Gesell. [Jean Silvio Gesell (1862-1930), Volkswirtschaftler. Gesell amtierte 1919 als Finanzminister der bayerischen Räterepublik. Er begründete die Freiwirtschaftslehre, mit der er eine „freisoziale Ordnung" schaffen wollte, die zwischen sozialer Marktwirtschaft und liberalem Sozialismus liegt. Vgl. sein Hauptwerk: „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" (1916).] Sie fordern ein Geld, das „in keiner Art an unverderbliche Stoffe gebunden sein und ständig umlaufen muß." Herr Feder hat ein „Manifest zur Berechnung der Zinsknechtschaft" losgelassen, in dem er alle Schuldtitel der Staaten- und der Selbstverwaltungskörper unter Aufhebung der Zinspflicht zu gesetzlichen Zahlungsmitteln erklären möchte. Bei allen übrigen selbstverzinslichen Papieren soll an Stelle der Zinspflicht die Rückzahlungspflicht treten. Herr Silvio Gesell schlägt die Einführung eines „Freigeldes" vor, das aus Geldscheinen bestehen soll, welche wöchentlich einen bestimmten „Wertschwund" haben sollen. Dieser gewissermaßen negative Zins soll zu ständigem Umlauf zwingen. Beide Vorschläge hören sich ja sehr schön an. Aber Zinslosigkeit und Wertschwund schützen doch höchstens gegen das Hamstern von Geld, aber nicht gegen die Akkumulation von Kapital. Wenn man das Metallgeld aus der Volkswirtschaft herausbringt, hat man den Kapitalismus nicht getötet. Auch vermag die Zinslosigkeit der Zahlungsmittel in nichts den Bezug von arbeitslosen Einkommen zu unterbinden, der ja auch auf dem Wege der Übereignung von Schuldtiteln, Naturalbezügen usw. vor sich gehen kann.

V.

In der Frage der Bodenrechtsreform haben die Nationalsozialisten überhaupt keinen festen Standpunkt. Rosenbergs offizieller Kommentar fabelt zwar viel vom Willen zur Siedlung, weiß aber nichts Bestimmtes zu sagen. Jung schwärmt zwar mancherlei und zählt die einzelnen Projekte auf, z.B. das von Silvio Gesell, daß im Zusammenhang mit der Geldreform der ganze Grund und Boden vom Staate aufzukaufen und in Pacht an den Meistbietenden zu geben sei. Er lobt den Amerikaner Henry George, [Henry George (1839-1897), amerik. Sozialreformer. Er forderte in seinem Hauptwerk „Progress and poverty" (1879, dt. „Fortschritt und Armut") die Beseitigung der sozialen Not, deren Ursachen er im Privateigentum an Grund und Boden sah, durch die Erhebung einer Einheitssteuer, die alle anderen Steuern ersetzen sollte (simple tax).] der die Grundrente wegsteuern will. Dagegen haben die Nationalsozialisten das Bedenken, daß diese Wegsteuerung der Grundrente nicht gerechtfertigt wäre, solange nicht der Geldzins verschwunden ist. Danach müßte die Grundrente bis zum Ersatz des kapitalistischen Systems durch das sozialistische bestehen, nach Ansicht der Nationalsozialisten also ewig währen. Im übrigen werden die deutschen Bodenreformer lobend erwähnt, ohne daß man sich mit ihnen identifizieren würde. Aber selbst die schwächliche Forderung nach Land und Boden zur Ernährung und Siedlung hat den Nationalsozialisten schon die Gegnerschaft der Bauern eingebracht, die sie gar nicht tragen könnten, wenn sie ihre Forderung ernstlich verfechten wollten.

Klassisch ist auch die Formel, mit der man im Nürnberger Programm die Kartellrente bekämpfen will und die im Schrei der „Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten Betriebe" ihren Ausdruck findet. In Wirklichkeit soll diese Maßnahme denselben Zweck erreichen wie die Forderung nach der Kommunalisierung der Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an Kleingewerbetreibende, kurz Mittelstandsretterei sein. „Bereits vergesellschaftete Betriebe" sind natürlich begrifflich und praktisch ein Unsinn. Die Forderung nach der Berechnung der Privatmonopole wird absichtlich in diese sinnlose Formel gekleidet. Aus demselben Grunde bleibt auch die Frage offen, wie die „nationale" und „produktive" Industrie überhaupt zu den volkswirtschaftlich schädlichen Trusts und Kartellen kommen konnte. Nicht einmal ein Nationalsozialist dürfte den Mut zu der Behauptung aufbringen, daß auch hier das Leihkapital und die Juden schuld seien.

Dieser Schrei nach den Monopolen ist ja sehr schön, ebenso wie die moralisch angepinselte Forderung nach Einziehung der Kriegsgewinne. Nur genügt das noch nicht, um sich „Sozialist" zu nennen. Überhaupt berührt das Fehlen jeglichen Steuerprogramms, der Mangel einer Stellungnahme zu direkten und indirekten Steuern, zu progressiven Kapitals- und Einkommensteuern doch recht merkwürdig bei einer Partei, die „den Kapitalismus überwinden" will. Nicht einmal von Bank- und Börsensteuern hört man etwas, trotzdem man gerade diese Kapitalsgruppen viel energischer bekämpfen will als die verräterische Sozialdemokratie, die auf diesem Gebiet so vieles fordert und so manches durchsetzt. Man bekommt daraus die Meinung, daß es mit der sozialen Reformarbeit nicht so ernst ist, und tatsächlich besteht ja innerhalb der Nationalsozialistischen Partei eine größere Opposition, die sich gegen solchen „Unsinn" wendet und dabei die Unterstützung der Geldgeber, der übrigen Völkischen und der benachbarten Rechtspartei findet. Nichts ist bezeichnender wie die Stellungnahme der württembergischen Bürgerpartei und des Bauernbundes bei den Landtagsverhandlungen zu Ende v.J. Als diesen Verteidigern des nationalsozialistischen Terrorismus entgegengehalten wurde, daß verschiedene Programmpunkte in schroffstem Gegensatz zu der deutschnationalen Politik ständen, meinten sie, daß dies nicht von Belang sei und sie auch weiter nichts angehe.

Angeblich bekämpfen die Nationalsozialisten ja die Spekulation. Nur merkt man praktisch nichts davon. Weder im „Völkischen Beobachter" noch in dem entsprechenden Organ der Wulleleute, [Gemeint sind die Nationalsozialisten in Stuttgart.] dem „Deutschen Tageblatt". Heute, wo die erste Voraussetzung der Gesundung der deutschen Wirtschaft die Währungsreform auf der Grundlage der Stabilisierung ist, hat sich noch kein Völkischer dafür eingesetzt. Im Gegenteil ist von dieser Seite die Dollaranleihe des Deutschen Reiches, die gewissermaßen die Munition zum Ruhrkampf herbeischaffen sollte, als der Versuch bezeichnet worden, den deutschen Sparern die letzten Groschen aus der Tasche zu ziehen. Man schimpft zwar über die Juden, die angeblich den Dollar hochtreiben, vergißt aber jede Kritik an der Exportindustrie, die da glaubt, mit den Morphiumeinspritzungen der Währungsverschlechterung die deutsche Beschäftigungslage verbessern zu können, an der Ruhrindustrie, die Reichskredite, also Mittel der Allgemeinheit, zu Deviseneinkäufen verwendet und an dem ganzen Ansturm der „Schaffenden" auf dem Devisenmarkt überhaupt. Von den geforderten 200 Goldmillionen der Goldanleihe sind nur wenig mehr als 50 gezeichnet worden, während Milliardenwerte im Ausland herumschwimmen. Die ganzen „Schaffenden", die angeblich gar kein bißchen materialistisch sind, haben sich um jedes Opfer für das angeblich so geliebte Vaterland herumgedrückt, während die „Raffenden", das nach Meinung der Nationalsozialisten gänzlich verjudete Bankkapital, immerhin doch Opfer gebracht haben, um den Betrag auf die 100 Goldmillionen aufzurunden, die sie vorher versprochen hatten. Hier schweigen aber alle Flöten, und selbst die Juden läßt man ungeschoren, weil hier die Oberarier die schlimmsten „Juden" sind.

Selbst das bißchen „Sozialismus", das in der Verstaatlichung der Konzerne liegen soll, ist nichts als ein Köder für die Dummen. So schreibt das „Deutsche Tageblatt" vom 1. Mai gegen die Sachwerterfassung, weil frei verfügbare und erfaßbare Sachwerte nicht vorhanden seien. Sachwerterfassung sei überhaupt nur ein anderer Ausdruck für Sozialisierung, die absolut abzulehnen sei. Auch mit der Besteuerung des arbeitslosen Einkommens ist es den Herren nicht so wichtig, sobald die Frage einmal praktisch wird. Die Feststellung der Tatsache, daß der bei weitem größte Teil der Steuern von den Arbeitern, Angestellten und Beamten aufgebracht wird, reizt diese Arbeitervertreter zu der Behauptung, daß der Lohnabzug die Arbeiter gar nicht treffe, da er bei den Lohnverhandlungen gleich berücksichtigt werde. Der Umstand, daß der Arbeiter seine Steuern gleich im jeweils geltenden Werte zu entrichten hat, während die Kapitalisten die Geldentwertung für sich arbeiten lassen, bleibt auch gänzlich unberücksichtigt. Wenn der gegen die Kapitalisten erhobene Vorwurf der Steuerdrückebergerei als „demagogisches Pamphlet" erledigt wird, dann zahlen also auch die „jüdischen Wucherer und Schacherer" treu und bieder ihre Steuern. Am niedlichsten wohl ist die Behauptung, daß die Kapitalisten unter der Marktentwertung furchtbar zu leiden haben. Dann haben wir also zusammen mit den Deutschvölkischen auch die kummervolle Verarmung des „jüdischen Wucherer- und Leihkapitals" zu beklagen. Wie tiefgründig diese nationalsozialistische Volkswirtschaft ist, geht daraus hervor, daß sie den Nachweis für die Leiden der Kapitalisten unter der Marktentwertung durch Umrechnung des gegenwärtigen Wertes des Aktienkapitals in Goldmark erbringen. Die guten Leute, die die ganze Volkswirtschaft revolutionieren wollen, vergessen ganz, daß das Kapital der deutschen Industrie zum Teil aus Goldmark, zum größten Teil aber aus Papiermark in den verschiedensten Stadien seiner Entwertung besteht.

Ganz eklatant offenbart sich der nationalsozialistische Schwindel, wenn man die Wirtschaftspolitik der von ihnen so angeschwärmten Faschisten in den Ländern betrachtet, in denen sie die Macht ausüben. In Ungarn ist der Faschismus mehr agrarisch als in Deutschland. Immerhin ist er unter der ähnlichen Parole der Bekämpfung des jüdischen Kapitals, der radikalen Bodenreform zugunsten der Kleinbauern, der Ausschaltung fremdländischer Einflüsse und der sozialen Fürsorge zur Macht gekommen. Wie man in Ungarn das jüdische Kapital bekämpft, sieht man darin, daß die faschistische Regierung ihre Finanzoperationen mit dem Juden Simon v. Krauß und ihre industriellen Transaktionen mit dem Juden Manfred Weiß macht. Die Einflüsse des fremden Kapitals bricht sie dadurch, daß sie die Budapester Straßenbahn an die Belgier verhökert hat, den französischen Kanonenkönig Schneider-Creuzot in die Häfen einladen und Stinnes [Hugo Stinnes (1870-1924), Unternehmer. Er begründete 1893 einen der größten deutschen Konzerne. Als MdR 1920-24 (DVP) vertrat er die Interessen der deutschen Montanindustrie und plädierte für eine Zusammenarbeit der deutschen und französischen Schwerindustrie.] in die größten Eisenwerke hereingelassen hat. Das ungarische Agrarkapital, das von Nationalgefühl und Adelsstolz gar nicht zu lassen weiß, paktiert mit der rumänischen Regierung. Die Industrie eines Volkes, das die Bolschewisten am liebsten auffressen möchte, sucht mit allen Mitteln Geschäftsverbindung mit Sowjetrußland. Und Graf Bethlen, [Istvan Graf Bethlen von Bethlen (1874-1947). Als Ministerpräsident Ungarns (1921-31) errichtete er ein autoritäres Regierungssystem, bemühte sich innenpolitisch um die Konsolidierung Ungarns und schloß außenpolitisch ein Bündnis mit Italien (1927). 1945 in die UdSSR verschleppt, 1994 Neubestattung in Budapest.] als Mann der nationalen Freiheit, reist nach Paris, um unter den entwürdigsten Bedingungen Auslandskredite von der Entente zu bekommen.

Aber auch Positives hat man geleistet. Die Beamten, mit deren Hilfe man ans Ruder gekommen ist und denen man Großes versprochen hat, seufzen unter einem rücksichtslos durchgeführten Abbau des Beamtenapparats. Die Kleinbauern, auf die man sich zuerst stützte, werden gelegt zugunsten der Großgrundbesitzer. Die Steuergesetzgebung läßt das Kapital und die großen Einkommen ungeschoren, bedrückt dafür die kleinen um so härter. In das Agrarland Ungarn muß Getreide eingeführt werden, da die Großagrarier exportieren. Dafür hat man die Ehre, den Hofhalt des Herrn Horthy, [Miklos Horthy (1868-1957). Horthy wurde am 1.3.1920 von der Nationalversammlung Ungarns zum Reichsverweser gewählt und amtierte bis 1944. In seiner frühen Regierungszeit verabschiedete er u.a. 1920/21 antisemitische Gesetze.] der zu den größten und kostspieligsten der Welt gehört, zu unterhalten und Milliardensubventionen an die ungarische Königsfamilie zu zahlen.

Die italienische Faschistenbewegung ähnelt dafür dem deutschen Nationalsozialismus bis auf die kleinsten Kleinigkeiten. Vor allem hat man hier auch die Zusammenfassung von Arbeitern und Akademikern. Nur läßt das Faschistenprogramm den ideologischen Schwindel von der Unterwerfung der Wirtschaft unter den sittlichen Staatswillen beiseite und fordert die Trennung von Wirtschaft und Staat. Als diese Arbeiterfreunde in Rom ans Ruder kamen, war ihre erste Tat die Massenentlassungen von Arbeitern und Beamten aus den Staatsbetrieben. Gleich zu Beginn flogen fast 50.000 Beamte, zum Ausgleich dafür ist das Heer auf 400.000 Mann erhöht worden. Die italienischen Gesinnungsgenossen der Nationalsozialisten betreiben die Übergabe der Staatsbetriebe an das Privatkapital im großen. Sie verschleudern die Eisenbahnen zu ganz unglaublichen Bedingungen. So haben sie einen Vertrag geschlossen mit Gratisüberlassung der Strecken, Gebäude und des rollenden Materials auf 30 Jahre. Der Staat garantiert einen Kilometerertrag und gestattet der Gesellschaft freie Personalpolitik. Die Verzinsung des Aktienkapitals kommt bis zu 7% den privaten Gesellschaftern allein zugute, der Staat erhält von 7 bis 10% die Hälfte, von 10 bis 12% sechs Zehntel, über 12% Dreiviertel. Telephon und Telegraphie sind bereits in private Hände übergegangen bzw. werden gerade in diesen Wochen übereignet. Der Schiffahrt wirft man Subventionen in den Hals. Das Tollste hat man sich mit der Ansoldogesellschaft geleistet, die, ewig krank, seinerzeit den Zusammenbruch der Banca di Sconto verursacht hat. Man hat eine Sanierungsaktion unternommen, die das Staatsbudget mit 200 Millionen belastet, unnötige Aufträge gegeben, auf Steuern verzichtet und wertlose Aktien gekauft.

Noch wilder sieht es im Finanz- und Steuerwesen aus. Diese Männer der sozialen Gerechtigkeit haben, abgesehen davon, daß sie die Währung heruntergedrückt, das Staatsbudget um alle Ausgaben für soziale Zwecke erleichtert. Dafür unterstützten sie den Kapitalismus, vor allem seine mächtigsten Gruppen. Die bisher bestehenden staatlichen Monopole, z.B. für elektrische Lampen und Streichhölzer, haben sie aufgegeben, ebenso die Beteiligungen. Die Erbschaftssteuer haben sie erst herabgesetzt, dann abgeschafft, ebenso die Luxussteuer und die Automobilsteuer. Alles aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit natürlich, die auch dafür maßgebend war, daß man Arbeitern und Pächtern neue drückende, direkte Steuern auferlegte. Und im Zeichen der nationalen Einheitsfront setzte man die Renten der Kriegsopfer herab, um die Offizierspensionen zu erhöhen.

Vergeblich kämpfen die Faschisten in der Provinz gegen Entstaatlichung und Entlassungen. Vergeblich wehren sich auch in Ungarn die Beamten. Gegenüber Menschen, die so dumm waren, sich von ihnen mißbrauchen zu lassen, kennt der Faschismus mit Recht kein Erbarmen. In Deutschland hat man die warnenden Beispiele Ungarns und Italiens vor Augen!

VI.

Im übrigen ist das Programm eine ziemlich wirre Häufung aller möglichen Forderungen. Die Sozialpolitik ist ganz dilettantisch aus dem sozialdemokratischen Lager zusammengestohlen, und die Kultur- und Religionspolitik eine Mischung zwischen freiheitlichen Bestrebungen, deutschtümelndem Wotanskult und Lippenbekenntnis zum Christentum. Natürlich ist der Gott, den man anbetet, speziell deutscher Gott und die Bergpredigt eine pazifistische Schwäche. Zum Überfluß gibt es noch eine ganz große Literatur darüber, ob Christus Jude gewesen ist. So schrieb die „Deutsche Zeitung", das führende Organ der Alldeutschen, daß es „klar ist, daß Jesus kein Semit gewesen sein kann, und darum muß dies auch den Kindern im Religionsunterricht mitgeteilt werden".

Die ganze deutschvölkische Anschauungsweise hat in der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland der Nachkriegszeit ihren romantischen Niederschlag gefunden. Anstatt die soziale Weiterbildung der Rechtsfiguren zu erstreben, sucht man Anschluß an das „alte deutsche Recht". Letzten Endes wird ja gar kein Wert auf das Programm gelegt. Das Neue daran ist nicht gut und das Gute daran ist nicht neu. Vor allem auch nicht die Forderungen nach Gewinnbeteiligung, nach Mitbestimmung in den Betrieben, die teils angelsächsisch, teils sozialistisch, auf jeden Fall also verdammungswürdig sind. Auch die sogenannten geistigen Grundlagen der ganzen völkischen Bewegung sind so wenig stabil, daß ein bißchen wissenschaftlich aussehender Nebel um die ganze Sache herumgemacht werden muß.

Wenn man alle Ideen analysiert hat und die ganze Haltlosigkeit der Dinge erkennt, stößt man noch immer auf eine unübersteigbare Mauer. Die Antisemiten haben mit einer verblüffenden Sicherheit und Gewißheit Beschuldigungen erhoben, die dahin gehen, daß die Juden ein streng geheimgehaltenes Schrifttum hätten, welches die christlichen Gesetzgeber, als sie die bürgerliche Gleichstellung der Juden betrieben, nicht kannten und nicht kennen konnten. So hat z.B. Herr Dr. Dinter die Regierungen aufgefordert, das religiöse Schrifttum der Juden in treuer Übersetzung der Öffentlichkeit zu übergeben. In Wahrheit sind die Bibel, die Mischna, der Grundstock des Talmud, der Talmud selbst, das große talmudische Kompendium Mischneh Thora, der Schulchan-Aruch, und das gesamte religiöse Schrifttum der Juden übersetzt, unzähligemal gedruckt und in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet. Von antisemitischer Seite wird z.B. eine Anzahl von Stellen aus dem Schulchan-Aruch angeführt, in denen angeblich den Juden gestattet wird, ihre christlichen Mitbürger zu betrügen oder sonst zu schädigen. Der „Judenspiegel" eines getauften rumänischen Juden namens Aron Briman ist die trübe Quelle aller dieser vor Gericht als Fälschung festgestellten Verdächtigungen. Die Autoren des Talmud und des Schulchan-Aruch haben unter Nichtjuden gelebt und können also beim besten Willen keine Lebensregeln im Verkehr mit Christen gegeben haben. Es ist selbstverständlich, daß in der fast unübersehbaren talmudischen Literatur auch unfreundliche Äußerungen gegen die Andersdenkenden vorkommen, denn schließlich hat man die Juden nicht besonders sanft und zuvorkommend behandelt. Der Talmud lehrt die Achtung und die strengste Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegen alle Nichtjuden, weil auch diese die Ebenbildlichkeit Gottes auf ihrem Antlitz trügen. Die ersten Kenner des Alten Testaments und der talmudistischen Literatur in Theologie und semitischer Kultur und Sprachwissenschaft haben die bewußten Fälschungen des Antisemitentums schon dutzendmal nachgewiesen.

Noch schlimmer sind die zusammengedichteten Enthüllungsbücher. Eines der übelsten Erzeugnisse dieser Art ist „Das Geheimnis der jüdischen Weltherrschaft". Angeblich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts als Teil eines „Biarritz" betitelten Romans geschrieben, dessen Verfasser sich John Retcliffe nennt. Es ist eine phantastische Räubergeschichte finsterster Art, in der jüdischen Verschwörern die Vorausbestimmung der zukünftigen Jahrzehnte europäischer Geschichte in den Mund gelegt wird. Es ist natürlich eine viel spätere Fälschung zu antisemitisch-agitatorischen Zwecken. Bekannter und wirkungsvoller noch sind die 24 Dokumente, die unter dem Namen „Die Protokolle der Weisen von Zion" ihr Unheil anrichten. Danach gäbe es einen geheimen jüdischen Sanhedrin, der seit vielen Jahrhunderten die Regierung der Welt zu erobern sich bemüht und der sich innerhalb einer bestimmten jüdischen Kaste von Geschlecht zu Geschlecht ergänzt. Durch die Schürung des Religions- und Rassenhasses sollen die Juden angeblich die Feindschaft zwischen den persönlichen und nationalen Interessen der „Ungläubigen" schaffen. Dann wären also die Juden die Erfinder des nationalen Prinzips und einer Geschichtsauffassung a la Treitschke und Bernhardi, wie sie auch das Alldeutschtum kennt. Großagrarier und Schloßbarone aber wären die reinsten sozialen und die Alldeutschen die besten nationalen Pazifisten. Und Demokraten wären sie obendrein, während die Juden danach für die Diktatur schwärmen sollten. Denn nach den Versicherungen der Weisen von Zion und unserer Alldeutschen, die diesen jüdischen Offenbarungen mehr glauben als ihre Väter dem Neuen Testament, ist die Staatsform des Judentums nicht Volksherrschaft, sondern Willkürherrschaft.

Besonders glaubt man natürlich die unteren Klassen als hilflose Werkzeuge in der Hand jüdischer Führer darstellen zu müssen. Was Karl Marx über die Emanzipation des Judentums und über die notwendige Abwehr des jüdischen Elementes geschrieben hat, kennt natürlich keiner von diesen Schriftgelehrten. Dafür sind alle sozialdemokratischen und kommunistischen Führer ihrer Ansicht nach Juden. Auch diesem Fehler hätte das deutsche Akademikertum leicht abhelfen können, wenn es sich von vornherein an die Spitze der Arbeiterbewegung gestellt hätte und sich nicht, in schlimmsten Materialismus und Mammonismus versunken, durch soziale und gesellschaftliche Privilegien hätte kaufen lassen. Auch die Tatsache, daß die Juden zu den extremsten Verfechtern des Kapitalismus auf der einen und des Sozialismus auf der anderen Seite gehören, macht diesen klugen Leuten, die alles erklären können, gar keine Schwierigkeiten. Ganz gehen sie an den Kämpfen innerhalb der Arbeiterbewegung vorüber, bei denen doch auf allen Seiten Juden beteiligt sind. Daß der Sozialismus den jüdischen Kapitalisten ebenso trifft wie den anderen Kapitalisten auch, verstecken sie hinter ihrer famosen Unterscheidung von „raffendem" und „schaffendem" Kapital. Damit glauben sie ihren eigenen Mangel an Antikapitalismus zudecken und die Arbeiterbewegung diskreditieren zu können. Noch besser ist die Behauptung, daß die Juden die Völker gegeneinander hetzen. Wie sich dies z.B. bei dem ewigen Gegensatz zwischen England und Rußland, in denen nach den Versicherungen der Antisemiten ja auch Juden an der Spitze stehen, auswirken muß, daß dadurch die denkbar größte Schädigung der materiellen jüdischen Interessen mit Naturnotwendigkeit entsteht, will man eben nicht einsehen. Es hat sich die Ansicht von der allein seligmachenden jüdischen Internationalen fest eingefressen. Nun gibt es ja tatsächlich eine goldene Internationale, aber die ist allgemeinkapitalistisch. Was sich in Deutschland heute von dieser Internationalität zeigt, ist ganz überwiegend deutschblütig, wie es sich besonders auch in der internationalen Kapitalflucht zeigt, an der bei uns so außerordentlich die angeblich so patriotische Industrie beteiligt ist. Besondere jüdische internationale Verbindungen bestehen zwar auch. Aber weil man der „Alliance Israélite Universelle" nicht genügend Böses nachweisen kann, erfindet man alle möglichen Geheimorganisationen und macht auch die Freimaurer zum Träger eines solchen jüdischen Weltherrschaftsplans.

Natürlich „steht das ganze Judentum auf seiten der Entente". Man vergißt dabei immer wieder, daß in Westeuropa und Amerika der Jude gesellschaftlich und politisch viel früher und nachhaltiger sich emanzipieren konnte als in Ost- und Mitteleuropa. Dort war es selbstverständlich, daß die Juden auf seiten der Volksparteien im Kampf gegen die alten Autoritäten standen, weil diese ihnen Lebens- und Menschenrechte verweigerten. Der englische, amerikanische und französische Jude ist bei weitem nicht so „radikal" wie der deutsche, weil er in diesen Ländern seinem innersten Wesenszuge, der nach Konservativismus drängt, ruhig folgen kann. In Deutschland wird vor allem der vermögende Jude in eine jammervolle Rolle gedrängt, in der er zwischen der politischen Neigung zu den Linksparteien, die ihn gegen den reaktionären Antisemitismus schützen können, ihn aber sozial und wirtschaftlich als Antikapitalisten bedrohen, und der Rechten, die ihm als Kapitalisten hilft, ihn aber mit Antisemitimus verfolgt, ziemlich sinn- und zwecklos hin und her taumelt. Die Völkischen aber machen den Juden zum Erfinder der Demokratie, Freiheit und Sozialismus und Menschenwürde und zugleich zum wirtschaftlich und politisch Allmächtigen, so daß man sich nicht wundern kann, wenn gerade die jungen Juden allmählich das glauben, was man ihnen von dieser Seite vorwirft. So muß aus dem krankhaften Gefühl der Unterwertigkeit eine ebenso ungesunde Überwertigkeitsmeinung entstehen, die zu den manchmal recht dummdreisten Äußerungen eines jüdischen Nationalismus führt, die ähnlichen alldeutschen Ergüssen gleichen wie ein Ei dem andern. Es gibt eine Form des jüdischen Nationalismus, die dem Alldeutschtum gerade so in die Hände arbeitet wie die Kommunisten der politischen Reaktion.

Der deutsche Arbeiter und die deutsche Sozialdemokratie lehnen den Philosemitismus genauso ab wie den Antisemitismus. Ihr Kampf gilt praktisch und theoretisch den jüdischen Kapitalisten ebenso wie dem andersblütigen. Die Emanzipation vom Judentum, wie es uns die Alldeutschen darstellen möchten, ist die Emanzipation vom Kapital. Judenhetze ist kein Ersatz für Sozialismus. So wenig sie aber geneigt sind, sich für eventuelle nationaljüdische Interessen mißbrauchen zu lassen, so wenig sind sie gewillt, sich vom Kampf gegen den Kapitalismus ablenken zu lassen. Sie kennen die Kräfte nur zu gut, die mit Hilfe des Antisemitismus politisch reaktionäre und wirtschaftskapitalistische Zwecke erreichen wollen. Es sind dieselben Leute, die das halb lächerliche, halb fürchterliche Bild von der Internationalität der Sozialdemokratie gemalt haben, die uns den Haß gegen das eigene Volkstum und ständigen Verrat angedichtet haben und deren rücksichtsloser antinationaler Klassenantagonismus, der noch „jüdischer" ist als alles Judentum, uns den aufgezwungenen Klassenkampf als nationalen Verrat und Materialismus unterreiben möchten. Die angeblich nationale Gesinnung dieser Leute verekelt der Arbeiterschaft jede Betätigung im nationalen Sinne und diskreditiert den nationalen Gedanken in Deutschland in einer Weise, die uns leicht gefährlich werden kann. Gerade weil wir Nation und Staat lieben, sind wir auch für die Internationale und den Klassenkampf. Weil wir von ganzem Herzen Deutsche sind, ist unser Ziel der republikanische Weltbundesstaat freier und gleicher Völker. Wir führen den Klassenkampf gegen den Kapitalismus, Nationalismus und Militarismus, weil wir für die Überwindung der Klassen sind. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, wie sie sich heute darbietet, ist eine in sich haltlose, geistig und moralisch korrupte Krankheitserscheinung. Die deutsche Sozialdemokratie ist Lebensnotwendigkeit für unser Volk und für den Sozialismus.

Karl Marx trifft den Kern der Frage, wenn er schreibt: „Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum."


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