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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[8.]
Nachklänge zum Parteitag


EV Nr. 147 v. 25.6.1924

Kritiker meinen, daß der Sozialdemokratische Parteitag die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr in dem Umfange interessiere wie vor dem Kriege. Das mag richtig sein, aber welcher Parteitag interessiert auch heute noch annähernd so wie der sozialdemokratische? Man darf nicht vergessen, daß vor 1914 das Interesse an der deutschen Politik vorwiegend ein innerpolitisches gewesen ist, das theoretisiert und dogmatisiert wurde. Heute haben die gewaltigen Geschehnisse des letzten Jahrzehnts die Aufmerksamkeit von innerparteilichem Geschehen stark auf die großen Probleme der auswärtigen Politik abgelenkt. Und auch hier scheint es mit dem „Interesse" ziemlich zu hapern.

Nachdem der Berliner Parteitag der Sozialdemokratie zu Ende gegangen ist, hat man darauf gewartet, irgend ein positives Wort aus dem Munde der Vertreter anderer Parteien zu hören, sei es nun zustimmend oder ablehnend. Aber nur die wenigsten haben begriffen, um was es eigentlich ging. Fast nur in der „Vossischen Zeitung" und dem „Berliner Tageblatt" war andeutungsweise zu lesen, daß hier die einzige Partei des neuen Deutschlands ihre Waffen geschärft hat. In der Stuttgarter Presse hat man sich zu irgend einer gedanklichen Linie und historischem Erkennen nicht emporschwingen können.

Wer hat die Sozialdemokratie und den oft angegriffenen Marxismus denn früher eigentlich gekannt? Und wer kennt sie heute? Unglaublich gespreizt und hochtrabend redet auch der größte Teil der Stuttgarter Presse über den Berliner Parteitag daher. Je nach dem Temperament, zu dem der betreffende Artikler durch seine parteipolitische Einstellung verpflichtet zu sein glaubt, ist die Sozialdemokratie vernichtet, geschwächt, zersetzt, müde geworden, auf der absteigenden Linie usw.

Es ist ein wahres Sprichwort, das den guten Rat gibt, sich zuerst einmal an die eigene Nase zu fassen. Heute befinden sich alle Parteien in den schwersten geistigen und organisatorischen Krisen. Bei den Kommunisten ist der Richtungsstreit in einer Weise entbrannt, wie er innerhalb der alten Sozialdemokratie nicht einmal vor dem Kriege auch nur annähernd vorhanden gewesen ist. Bei den Kommunisten gibt es eigentlich gar keine Kommunisten mehr, sondern nur noch Scholemiten, [Anspielung auf Werner Scholem: Scholem (1895-1940) kam über die SPD (ab 1913) über die USPD (ab 1917) zur KPD (ab 1920). 1924-28 MdR und neben Ruth Fischer der wichtigste Führer der Partei. Im Oktober 1925 als Führer der „Ultralinken" Ausschluß aus dem ZK, im November 1926 Ausschluß aus der KPD. Danach Mitbegründer des „Leninbundes". Scholem wurde im KZ Buchenwald ermordet.] die andern sind bereits alle herausgeworfen. Die kleinen Splitter der Arbeiterbewegung befehden sich und zerfleischen sich innerhalb ihrer eigenen Reihen. Bei den Deutschvölkischen herrscht wüstes Durcheinander und gegenseitige Anstänkereien der Miniaturgrößen, die sich als Führer spreizen, daß selbst die Kommunisten blasser Neid erfassen könnte. Bei den Deutschnationalen rumort der völkische Flügel, ist in der Frage des Sachverständigengutachtens, der Möglichkeiten des Revanchekrieges, der Koalition mit anderen Parteien ein wüstes Durcheinander, so daß diese Konjunkturpartei sich in den schwersten Kämpfen windet. Bei der Deutschen Volkspartei ist ein Teil bereits an die frische Luft gesetzt worden und der andere Teil - prügelt sich trotzdem untereinander. Im Zentrum ringen kleinbürgerliche, proletarische, agrarische, großindustrielle und Beamteninteressen miteinander. Im westdeutschen Industriegebiet ist es sogar schon zu Absplitterungen gekommen. Bei den Demokraten geht der Kampf, ob Bürgerblock oder vermittelnde Partei. Es möge sich doch einmal die andere deutsche Partei melden, die in ihrer Politik auch annähernd die Geschlossenheit und Sicherheit aufweist, wie die Sozialdemokratie es trotz aller Auseinandersetzungen und trotz aller „Niederlagen" es heute noch von sich sagen kann.

Einer der besten Witze der kritischen Klageweiber ist ohne Zweifel der Vorwurf, daß es der Sozialdemokratie an Führerpersönlichkeiten mangelt. Nun ist es ja richtig, daß in unseren Reihen weder ein Scholem noch ein Ludendorff zu finden ist. Gerade die Parteien, die so viel von Führerpersönlichkeiten schwärmen und denen die alten politischen Organisationen darum nicht mehr genügen mochten, sind am allerärmsten nicht nur an Führern, sondern selbst an ausreichenden politischen Intelligenzen. Da sind die alten Parteien, besonders die Parteien der Mitte, weit besser daran. Aber auch sie haben allen Grund, gegenüber der Sozialdemokratie zu schweigen. Die führenden Zentrumspolitiker sind doch nicht aus der Größe ihrer Persönlichkeit heraus zu ihrer Bedeutung gekommen, sondern aus teils geschichtlichen, teils taktischen Gründen, die vor allen Dingen darin liegen, daß in gewissen Phasen der Koalitionspolitik der äußerlich führende Mann mit Rücksicht auf den allmächtigen Spießbürger eben alles sein durfte, nur kein Sozialdemokrat. Die Demokraten freilich glauben, die führenden Persönlichkeiten in Massen zu produzieren. Nur dürften sie elend in Verlegenheit kommen, wenn sie mit Namen diejenigen unter ihren Führern bezeichnen sollten, die intellektuell einem Hilferding, [Rudolf Hilferding (1877-1941), 1924-33 MdR, Theoretiker des Austromarxismus und führender Finanzexperte der SPD (1923, 1928/29 Reichsfinanzminister).] einem Kautsky [Karl Kautsky (1854-1938), führender Parteitheoretiker der SPD, 1883-1917 Leiter des SPD-Organs „Die Neue Zeit".] und Cunow, [Heinrich Cunow (1862-1936), Theoretiker der marxistischen Gesellschafts- und Staatslehre. 1917-23 Leiter des SPD-Organs „Die Neue Zeit".] oder politisch einem Ebert, [Friedrich Ebert (1871-1925), 1913-19 Vors. der SPD, 1919-25 erster Reichspräsident.] einem Hermann Müller, [Hermann Müller (1876-1931), 1916-18, 1920-28 MdR, 1920-28 einer der Vors. der SPD-Reichstagsfraktion, 1919-27 Mitvors. der SPD, März-Juni 1920, 1928-30 Reichskanzler.] einem Breitscheid [Rudolf Breitscheid (1874-1944), 1920-33 MdR, 1923-33 einer der Fraktionsvors. der SPD im Reichstag. Außenpolitischer Sprecher der SPD.] überlegen wären.

Ohne jeden Blick für Maß und Art der Persönlichkeiten tobt sich diese Kritik aus. So preist ein Zentrumskritiker den gewiß in erster Reihe stehenden Genossen Löbe [Paul Löbe (1875-1967), 1920-33 MdR, 1920-32 (mit Unterbrechung 1924) Präsident des Reichstages.] als den „Einzigen", glaubt einen Hilferding mit einer leichten Handbewegung abtun zu können. Dieser Kenntnis der Personen entspricht eine Kenntnis der Sache, die von den Vorgängen des Dresdner Parteitages von 1906 als dem „bekannten Leipziger Parteitag" spricht. Das ist kein falscher Zungenschlag, sondern zeigt das oberflächliche Dahergerede über die Sozialdemokratie.

Fast allen Kritikern ist gemeinsam die neue Entdeckung, daß der Sozialismus zusammengebrochen, der Marxismus vernichtet und die Sozialdemokratie müde geworden sei. Nun gibt es auch heute in Deutschland keine einzige Partei, die in Sachen politischer Weltanschauung so fest verankert ist wie die Sozialdemokratie. Gewiß unterliegt auch der Marxismus Umwandlungen und inneren Krisen. Aber doch gerade darum, weil er als einzige politische Anschauung nicht die Tatsachen vergewaltigen, sondern sich nach ihnen richten will. Die Verhältnisse der staatlosen Wirtschaft in den Jahrzehnten von 1850 bis 1880 haben naturgemäß einen anderen Ausdruck gefordert als die heutigen. Der Marxismus als Methode aber steht doch genau so fest und unerschüttert da. Gewiß muß die Sozialdemokratie geistige Krisen durchmachen. Warum sollte sie sich von den anderen Parteien unterscheiden und warum sollte sie stagnieren? Sie ist doch trotz der Überwindung vieler marxistischer Forschungsresultate tatsächlicher Natur mit dem Marxismus noch so unendlich stärker verknüpft als beispielsweise das deutsche Bürgertum mit seinen konservativen und liberalen Traditionen. Die Nachfolger der alten Konservativen sind doch heute die Hüter der schlechteren Traditionen des Liberalismus. Und die Demokraten haben sich von ihren geistigen Grundlagen weiter denn je entfernt. Wo sind Manchesterliberalismus und Freihandel als offizielle Parteidoktrin, wo überhaupt die Kernstücke der alten liberalen Gedankenwelt? Wo sind die Traditionen von 1848 bei einer Partei, die ihre kapitalistische Abhängigkeit durch sozialpolitische Mätzchen und ihren Vernunftrepublikanismus durch die Fahne des Kaiserreichs drapieren möchte? Wo ist überhaupt die bürgerliche Partei mit einer offiziellen, bewußt konsequenten Stellung zur Staatsform?

Noch merkwürdiger fast berührt die Kritik des Zentrums. Da heißt es, daß die Sozialdemokratie auf die weltanschauungsmäßige zugunsten der Tagespolitik verzichtet habe. Gerade als ob die großen nationalen und wirtschaftlichen Fragen von heute nicht alle bis in die tiefsten Wurzeln des Weltanschauungsmäßigen gingen! Ein neues Deutschland und ein neues Europa sind da. Und dann gibt es Leute, die sich über die Beschäftigung mit der „Tagespolitik" wundern! Das können freilich nur Leute sein, die einer Partei angehören, die selbst gar keine sichere und weltanschauungsmäßige Stellung zu Dingen der „Tagespolitik" hat. Diese Kritik ist eine nichtpolitische an einer politischen Tatsache. Wer sich um jede weltanschauungsmäßig bedingte Stellung zur Tagespolitik dadurch herumdrücken kann, daß er sich einfach hinter die Religion flüchtet, hat es natürlich leicht, über „Tagespolitik" zu reden. Wo antwortet aber die religiöse „Weltanschauung" des Zentrums auf die Frage, ob Monarchie oder Republik, ob Demokratie oder Diktatur, ob Erfüllungspolitik oder nicht, ob Bürgerblock oder Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten? Sie versagt im weltanschauungsmäßigen, so gut wie im tagespolitischen.

Keine der inneren und äußeren Schwierigkeiten der Sozialdemokratie soll geleugnet werden. Aber anerkannt muß werden, daß all das Schwere die Sozialdemokratie nicht annähernd so mitgenommen hat wie die anderen Parteien. Eben weil sie aus sich, von innen heraus, stärker und gefestigter ist. Das beweist die Tatsache, daß sie über alle ihre Schwierigkeiten vor der breitesten Öffentlichkeit verhandeln, so verhandeln konnte, wie sie es getan hat. Man zeige uns eine andere Partei in Deutschland, die dies kann und wagen dürfte. Man zeige uns bei andern Parteien das „Geistige", was man angeblich bei uns vermißt, zeige uns überhaupt irgendwo nur etwas Gleichwertiges. Wenn man das kann, dann mögen die Kritiker recht haben! Dann soll sogar übersehen werden, daß sie nur von der Sozialdemokratie alles das fordern, was sie in ihrer eigenen Partei nicht einmal zu erträumen wagen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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