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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[5.]
„Deutschland steht am Rande des Abgrundes".
Rede am 1.5.1923 im Schloßhof in Stuttgart


EV Nr. 101 v. 2.5.1923

Der internationale Weltfeiertag des 1. Mai ist kein Tag, an dem man sich behaglich hinter dem Ofen ausruhen darf. Auch kein Tag der bloßen Aufzüge mit Fahnen, Musik und Gesang, sondern ein Tag, an dem der der täglichen Fron ledige Arbeiter über sich und seine Zeit nachdenken soll.

Man sieht nur Trümmer. Die Trümmer des alten Reiches, der deutschen Wirtschaft, der internationalen Ökonomie. Man sieht die Menschentrümmer, die Kriegsbeschädigten, Witwen, Waisen, die Versinkenden und Sterbenden im Strudel der Zeit. Man sieht die Trümmer des Geldes und der Währungsverhältnisse und damit der Steuer- und Sozialpolitik. Und wenn die Arbeiterschaft nicht über sich selbst ins klare kommt, werden wir auch bald an den Trümmern des Achtstundentages stehen. Zerbrochen sind die Internationalen der Arbeiterbewegung. Die Parteien in Frankreich, Italien, Ungarn. Auch sonst in der Welt, auch in Deutschland, hat die Katastrophe des Weltkrieges einen Riß in die Entwicklung gebracht und die Arbeiterschaft in geistige Wirren gestürzt.

Und doch ist vieles Neue da. Die Wucht der wirtschaftlichen und sozialen Tatsachen bringt es mit sich, daß die Welt bereits den Anfang eines Zusammengehörigkeitsgefühls empfindet. Doch ist diese Internationalisierung politisch auch eine ungeheure Gefahr für die Arbeiterklasse. Wir kennen erst die Vereinigung des westeuropäischen Proletariats, die gänzlich ungenügend ist. Die Internationale ist eine Aufgabe der Zukunft. Wir hoffen, daß in den nächsten Tagen in Hamburg ein wirklich starker Grundstein für diesen Neubau gelegt wird. Die Internationale des Kapitals aber ist bereits Gegenwart. Die kapitalistische Internationale umfaßt alle fünf Weltteile. Wenn wir also zur Erreichung unseres ersten Zieles, der Eroberung der politischen Macht, in nationalem Rahmen kämpfen müssen, so ist unser letztes Ziel die Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in die sozialistische, nur im weltumspannenden internationalen Rahmen zu erreichen. Das ist eine ungeheure Erschwerung dieser Aufgabe.

Das Land, von dem aus am ehesten an die Aufgabe herangetreten werden kann, ist Deutschland. Als Land der sozialistischen Möglichkeiten ist es auch der Gegenstand des Hasses der Weltbourgeoisie. Deutschland steht am Rande des Abgrundes. Alle Schichten, auch die Arbeiter, sind von Illusionen, teils nationalistischer, teils revolutionärer Art umnebelt. Der Kampf an Ruhr und Rhein aber ist ein Kampf, der geführt werden muß, um überhaupt verhandeln zu können. Ginge er verloren, dann wäre die Arbeiterschaft sozial doppelt versklavt. Auch wird ein Volk, das sich seine nationale Selbständigkeit nicht zu erhalten weiß, niemals die sittliche Kraft zum Sozialismus haben. Die Erhaltung der deutschen Republik ist die einzig mögliche Plattform für die Kämpfe um eine sozialistische Zukunft.

Zwei Sorten von Dolchstößlern machen sich breit. Die Männer des privaten Nutzens, die auch jetzt ihre Äcker düngen mit dem Blute derer, die für sie sterben. Die Dolchstößler der Spekulation, die das Vaterland im Munde und den Dollar in der Tasche haben. Das Maul ist stets offen, die Tasche aber nie. Von der Cunoregierung [Wilhelm Cuno (1876-1933), 1918-22 und 1926-30 Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag). Cuno amtierte von November 1922 bis August 1923 als Reichskanzler einer aus Politikern von Zentrum, DDP und DVP sowie Repräsentanten der Wirtschaft gebildeten Regierung.] muß man schärferes Vorgehen gegen diese Kreise verlangen. Vor allem aber sollte man auch daran denken, daß es auch eine Arbeiterschaft im unbesetzten Deutschland gibt, der es sehr schlecht geht, und seine Wirtschafts-, Lohn- und Sozialpolitik danach einrichten. Die anderen Dolchstößler sind die Rechtsbolschewisten, vor allem die Nationalisten, die man besser die antinationalen Antisozialisten nennen sollte. Bei ihnen ist nicht ihre plumpe Brutalität die gefährlichste. Gegen Gewalt werden wir Gewalt setzen können. Auch die pathologischen Hochstapler, die an ihrer Spitze stehen, sind keine besonderen Gegner. Viel schlimmer ist die Atmosphäre, aus der heraus sie entstanden und die politische Vorbildung, die dieses Entstehen ermöglichte. Die Geschichte der antiken Demokratien, vor allem des alten Rom, zeigt, daß am Ende vieler Demokratien der Cäsarismus gestanden hat. Das Volk ist seiner Rechte müde geworden und schreit nach der Erhebung von der Geldherrschaft durch die politischen Tatmenschen. So ist die Müdigkeit der erregten Schafherde, die nach dem Hirten ruft, der sie nachher doch nur schert und schlachtet.

Wir aber sind etwas Neues in der Weltgeschichte. Eine proletarische Kampfbewegung mit sozialistischen Zielen ist noch nie als Kämpfer um die Macht in dieser Weise aufgetreten. Darum kommt alles darauf an, wie es bei uns selbst in der Arbeiterbewegung aussieht. Wir dürfen uns nicht auf die Gebilde der politischen Treibhaushitze unserer Zeit verlassen, sondern müssen den Mut und das Vertrauen auch zu einer langsameren und sichereren Entwicklung der Bewegung haben. Wir müssen wollen lernen und glauben lernen. Wollen müssen wir den steten hartnäckigen Kampf und glauben an die sittliche Kraft und die sozialistischen Endziele.

Hoch auf die deutsche Sozialdemokratie und die deutsche Republik! (Stürmischer Beifall).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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