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ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[4.]
Vor 75 Jahren.
Zur Erinnerung an die Märzrevolution 1848.


EV Nr. 64 v. 17.3.1923

„Es war das Verhängnis der deutschen Revolution, daß sie durch die Niederlage des französischen Bürgerkönigtums überstürzt wurde. Sie gewann dadurch eine scheinbar sehr glatte Bahn, allein der schnellere Sturz des vormärzlichen Absolutismus und Feudalismus wurde aus einem Fortschritt ein Rückschritt, indem die plötzlich ans Ruder geworfene Bourgeoisie aus Angst und Konfusion nicht aus noch ein wußte."

So charakterisiert Franz Mehring in seinen Erläuterungen zu den „Gesammelten Werken von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 bis 1850" das politische Ergebnis der in den Triebkräften und Resultaten durchaus bürgerlichen Erhebung von 1848. Die Kämpfer der Märzrevolution waren überwiegend Proletarier. Von den 183 oder richtiger, wenn man die nachträglich ihren Wunden Erlegenen mitrechnet, 230 Toten, die in der Berliner Straßenschlacht der Bürger gegen die Soldaten auf der Seite der Zivilisten fielen, befand sich etwa ein Dutzend, die einen „bürgerlichen" Beruf hatten. Alle anderen gehörten zur Arbeiterschaft. Aber die historische Aufgabe des Proletariats war es damals, die Schlachten der Bourgeoisie zu schlagen. Das Proletariat von 1848 war empört, aber es hatte kein Klassenbewußtsein, es war revolutionär, aber es war nicht sozialistisch. Wie hätte es auch sozialistisch sein sollen, da zwei Drittel der Deutschen auf dem Lande lebten, und es in den Städten mehr Meister als Lohnarbeiter gab, so daß jeder Geselle hoffen durfte, einmal selbst Meister zu werden? Eine Volkserhebung konnte 1848 nur zu einer Verfassung führen, welche die vom absolutistischen Staat der Entwicklung des Kapitalismus in den Weg gelegten Hindernisse beseitigte. Die Fürsten waren zwar einst zur Alleinherrschaft - jeder in seinem Ländchen - dadurch gekommen, daß sie gegen die Junker das Bürgertum in den Städten ausspielten, aber sie stützten sich jetzt doch fast ganz auf den Erbadel, so daß kaum anders regiert wurde, als wenn die mittelalterlichen „Stände" noch allmächtig gewesen wären und z.B. in Preußen Friedrich Wilhelm I. [Friedrich Wilhelm I. (1688-1740), seit 1713 König in Preußen.] das Wort nie gesprochen hätte, er wolle seinen Thron gegen die Junker mobilisieren wie einen rocher de bronce. Wo, wie in den „Freien" Städten, die alten patrizischen Geschlechter der Kaufmannschaft zusammen mit einem hohen Adel regierten, waren nicht nur Proletarier und Kleinbürger machtlos, sondern auch der Teil der Bourgeoisie, der nicht zur Rathausclique gehörte, von der einträglichen Vetterleswirtschaft ausgeschlossen.

Die Wirtschaftskrise von 1847 mit ihrer massenhaften Arbeitslosigkeit in allen Ländern der kapitalistischen Welt wurde die Veranlassung zur Revolution in allen vom Kapitalismus bereits berührten Ländern des europäischen Kontinents. Den Deutschen fehlten die Verfassungsrechte, fehlte das Mitbestimmungsrecht im Staat, ohne das die Bourgeoisie sich gegen die Junker nicht durchsetzen konnte. Es fehlte vor allem auch die Einheit des Reiches, der nationale Staat, den die Engländer, den die Franzosen, den beinahe alle Nationen besaßen, die durch die Entdeckung Amerikas wirtschaftlich vorwärts gekommen und nicht zurückgedrängt waren.

Im Jahr 1836 ließ Heinrich Heine seine Tannhäuser sagen:

„Und als ich auf dem Sankt Gotthard stand,
Da hörte ich Deutschland schnarchen,
Es schlief da unten in sanfter Hut
Von sechsunddreißig Monarchen."

Wenn sich Deutschlands Industrie und Deutschlands Handel ausdehnen sollten, so bedurfte es eines einheitlichen Reiches. Die nur zum Teil durch den von Preußen gegründeten Zollverein beseitigten Zollpackereien mußten beseitigt werden, gemeinsame Maße, Gewichte, Gesetze mußten eingeführt werden, dem Einkauf von Rohstoffen, von Halbfabrikaten, dem Verkauf von Waren aller Art mußte in ganz Deutschland durch eine gemeinsame Verkehrs-, vor allem Eisenbahn- und Wasserstraßenpolitik der Weg geebnet werden.

So wurde das Wort von „Deutschlands Einheit und Freiheit" die Kampfparole des Jahres 1848. Ohne entwickelten Kapitalismus kein Sozialismus. Es war die geschichtliche Aufgabe des Proletariats, der Bourgeoisie zur Macht zu verhelfen, um sie stürzen zu können. Das wußte die Bourgeoisie zwar noch nicht, aber sie fühlte es, und ihr Instinkt trieb sie, sich lieber mit einem kleinen Teil der Macht zu begnügen, als gestützt auf die Volksmassen, Fürsten und Adel ganz von der Herrschaft zu verdrängen.

Am 19. März hatte Friedrich Wilhelm IV. [Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861), seit 1840 König in Preußen. Er lehnte die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angetragene deutsche Kaiserkrone am 3.4.1849 ab.] vor den Barrikadenkämpfern in Berlin kapituliert und den Befehl zum Abzug des Militärs gegeben. Schon am 21. März bat der Tierarzt Urban, der sich selbst als Kämpfer auf den Barrikaden durch hohen Mut ausgezeichnet hatte, den König knieend um eine Vollmacht, das Militär zurückbringen zu dürfen. Kurz darauf schrieen alle Instanzen des Berliner Bürgertums, die neugeschaffene Bürgerwehr, der Magistrat, die Stadtverordnetenversammlung, nach der Zurückberufung der Soldaten. Am 30. März war die „heißgeliebte" Infanterie wieder in der preußischen Hauptstadt. Und damit war das Schicksal der deutschen Revolution eingentlich schon besiegelt. Was aus ihr herauskam, das waren Klassenparlamente der Bourgeoisie, die, sobald sie in Widerspruch zu den Fürsten, ihren junkerlichen Generälen und Bureaukraten gerieten, stets den Kürzeren zogen.

Und so blieb es im Grunde bis zum 9. November 1918.

Ihre eigentliche Vollendung und Erfüllung fand die Märzrevolution von 1848 erst in der Novemberrevolution von 1918. Diese Revolution, deren Träger wiederum die Arbeiter waren, brachte den völligen Zusammenbruch des absolutistischen Staatsgebäudes, das trotz aller konstitutionellen Maskierung im wesentlichen noch immer bestanden hatte. Die Voraussetzung für diesen Zusammenbruch war nicht ein unmittelbarer Drang wirtschaftlicher oder politischer Kräfte nach Befreiung, sondern ganz einfach die militärische Niederlage und der Zusammenbruch des militaristischen Systems, das die stärkste Stütze des halbabsolutistischen Obrigkeitsstaates gewesen war.

Doch auch über der Revolution von 1918 waltete ein Unstern. Das furchtbare Trümmerfeld, das sie vorfand, war kaum im gröbsten aufgeräumt, das neue republikanisch-demokratische Staatswesen kaum notdürftig unter Dach gebracht, da begannen im Lager der revolutionären Arbeiterschaft selbst jene unheilvollen Meutereien, die, angeblich um die Revolution „weiterzutreiben", von irregeleiteten Fanatikern angestiftet worden waren, und die nun drohten, das noch unfertige Gebäude des demokratischen Volksstaates zum Einsturz zu bringen. Es war die furchtbarste Verkennung aller gegebenen Möglichkeiten, die Revolution dafür anzuklagen, daß sie in der Hauptsache eine politische Revolution geblieben war, und das auf politischem Gebiete Errungene deshalb zu gefährden, weil die Revolution nicht auch zugleich zu einer völligen Neugestaltung der sozialen Ordnung geführt hatte. Diese soziale Neugestaltung war unmöglich in einem Lande, das in dem Maße wirtschaftlich zerrüttet und ausgeblutet war wie Deutschland nach dem verlorenen Kriege, und das sich außerdem dem diktatorischen Zwang seiner Gegner zu unterwerfen hatte, die keine soziale Neugestaltung, selbst wenn sie an sich möglich gewesen wäre, geduldet haben würden, die für den Bestand der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in ihren eigenen Ländern hätte bedrohlich werden können.

War die Revolution von 1918 deshalb für die Arbeiterschaft wirklich so nutzlos, wie manche derjenigen, die ihre Auswirkung gerade durch die verbrecherische Sabotagepolitik des „Weitertreibens" aufs schwerste geschädigt hatten, behaupten wollen? Die Revolution von 1918 hat uns zwar nicht die Verwirklichung des Sozialismus gebracht, aber sie hat uns - neben immerhin bedeutsamen sozialen Errungenschaften wie dem gesetzlichen Achtstundentag und dem Mitbestimmungsrecht der Arbeiterschaft in den Betrieben - die Vollendung des politischen Programms gebracht, für das die Kämpfer in den Märztagen von 1848 in Berlin und Wien, und später in den Kasematten von Rastatt ihr Blut vergossen. Diese Ergebnisse der Revolution von 1918: die Verwirklichung der Republik und der Demokratie, als bedeutungslos erklären oder gar als „Betrug" zu schmähen, das hieße auch jene Kämpfer schmähen, deren Gräber von der Arbeiterschaft Jahrzehnte hindurch in den Märztagen mit Blumen geschmückt worden sind.

Nein, wir schmähen die Männer von 1848 nicht, die für ein Ideal in Kampf und Tod gingen, das erst heute seine Verwirklichung finden konnte. Wie die hunderttausende deutscher Arbeiter, die seit jenen Tagen in dankbarer Verehrung zu ihren Gräbern wallfahrteten, wissen auch wir, daß die Gedanken der politischen Freiheit und der Demokratie, für die sie kämpften und starben, keine trügerischen Idole sind, sondern daß nur unter der Herrschaft einer freien Demokratie auch die wirtschaftlichen Ziele des Sozialismus ihre Erfüllung finden können. In diesem Sinne seien die Kämpfer von 1848, die für Republik und Demokratie starben, auch als Kämpfer und Blutzeugen des Sozialismus von uns in dankbarer Ehrfurcht gegrüßt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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