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[Seite der Druckausg.: 135]


Peter Brandt
Presse in der Grafschaft Mark: Die Zeitschrift „Hermann" (1814 -1819)


Am 1. Februar 1814 erschien in Hagen, der Gewerbestadt an der Volme mit knapp zweieinhalbtausend Einwohnern, die erste Ausgabe des „Hermann. Eine Zeitschrift von und für Westfalen", benannt nach dem Cheruskerfürsten Arminius. Mit dem Namen „Hermann" knüpfte man an einen weit verbreiteten Nationalmythos an. Seit Ende Oktober 1813 waren die in der Region gelegenen napoleonischen Satellitenstaaten Königreich Westfalen und Großherzogtum Berg beim Vordringen der verbündeten Streitkräfte zerfallen. Dem Großherzogtum Berg war 1808 auch die Grafschaft Mark zugeschlagen worden, nachdem sie rund 200 Jahre zu Brandenburg-Preußen gehört hatte. (Die Gebiete westlich des Rheins und, ab 1810, auch Teile Nordwestdeutschlands waren direkt an Frankreich angegliedert gewesen.)

Die Idee, in Hagen eine Zeitschrift „von und für Westfalen" zu begründen, ging aus dem patriotischen Erlebnis des Spätjahrs 1813 hervor. In der Grafschaft Mark schien sich - in augenfälligem Gegensatz zu den früher geistlichen Territorien Westfalens, namentlich Paderborn - einiges von dem zu wiederholen, was die Beobachter Monate vorher in Berlin und anderen Teilen des ostelbischen Preußen registriert hatten: die auflodernde Begeisterung, Freiwilligen-Meldungen in hoher Zahl, darunter über 100 allein aus Hagen, Spenden aus der Bevölkerung von beträchtlichem Umfang, kriegsunterstützendes soziales und karitatives Engagement neu gebildeter Frauenvereine. Noch vor der Jahreswende lobten der militärische und der zivile Gouverneur das „in keiner preußischen Provinz übertroffene Beispiel von Gemeinsinn und Vaterlandsliebe", das die Grafschaft Mark bereits geboten habe.[ Ernst Müller (Hg.), Westfalens Opfer in den Befreiungskriegen 1813-1815, Münster 1913, bes. S. 24-27, 53, 67 (dort das Zitat aus dem Anerkenntnis der Opferfreudigkeit der Grafschaft Mark durch das Militär-Gouvernement vom 27.12.1813). – Erstveröffentlichung in: Peter Brandt/Beate Hobein (Hg.), 1746/1996. Beiträge zur Geschichte der Stadt Hagen, Essen 1996, S. 124-141. Dort ausführlichere Belege und Literaturhinweise.]

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Die Befreiungskriege 1813/14 und 1815 wurden auf deutscher Seite von einem breiten Bündnis antinapoleonischer Kräfte getragen, dem sich im Herbst 1813 auch die meisten Rheinbundstaaten anschlossen. Politisch reichte das Spektrum dieses antihegemonialen Bündnisses von feudal-absolutistischen und altständischen bis zu volksnationalen und westlich-liberalen Positionen. Obwohl das Schwergewicht in der Unabhängigkeitsbewegung, gerade auch militärisch, auf den monarchischen Einzelstaaten und ihren stehenden Heeren lag, unterschieden sich die Befreiungskriege grundlegend von den Kabinettskriegen alten Typs. Seitdem die russischen Truppen, in ihrem Gefolge der Freiherr vom Stein und andere preußisch-deutsche Patrioten, die westlichen Grenzen des Zarenreichs überschritten hatten, um die Macht Napoleons definitiv zu brechen, ergoß sich eine Flut von antinapoleonischen Propagandazeitschriften, Liedern und populären Spottgedichten mit obrigkeitsfeindlichen Untertönen über Deutschland, zunächst über Preußen, wo die Vorbereitung und Durchführung des Frühjahrsfeldzugs von 1813 durchaus „Züge eines Volkskriegs"[ Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 84.] annahmen.

Erst die Vertreibung Napoleons aus Deutschland bewirkte den entscheidenden Dammbruch, durch den die politischen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums sich weitgehend frei artikulieren konnten. Unter den teilweise chaotischen, unklaren Verhältnissen des Jahres 1813 und der unmittelbaren Folgezeit wurde die Pressezensur in weiten Teilen Deutschlands erschüttert oder brach sogar regelrecht zusammen. In Sachsen-Weimar herrschte jahrelang eine verfassungsmäßige Pressefreiheit, in den Hansestädten galt de facto Ähnliches. In der preußischen Hauptstadt Berlin setzte - nicht viel anders als in Österreich und in den süddeutschen Staaten - schon bald wieder eine kleinliche Zensur ein, während in den rheinisch-westfälischen Territorien weder rechtlich noch politisch eindeutige Richtlinien bestanden; auch dort waren große regionale und lokale Unterschiede festzustellen. Der „Hermann" genoß das Wohlwollen der preußischen Regierung in Berlin wie der Provinzialbehörden; er war anfangs vollkommen von der Zensur befreit.

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Im Machtbereich Napoleons war die Presse nicht nur streng zensiert, sondern auch in einem bis dahin unbekannten Maß im Sinne der napoleonisch-rheinbündischen Propaganda gelenkt worden. So durften im Großherzogtum Berg nur noch außenpolitische Artikel und Berichte über die Kriegslage erscheinen, die nichts weiter waren als Übersetzungen aus dem Pariser „Moniteur" - ohne Kürzungen und ohne Zusätze. Auch die Berliner Pressepolitik verzichtete schon vor 1813 keineswegs auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, um für ihre Anliegen nach innen und außen Unterstützung zu mobilisieren. Staatskanzler Hardenberg zog Schriftsteller in seine Dienste und bezahlte sie, ohne das seit dem Beginn der Reformperiode veränderte Verhältnis zwischen der Regierung und dem Publikum in Preußen zu verkennen. Als sich die militärische Erhebung im Januar/Februar 1813 abzeichnete, wandte sich die Staatsspitze, allen voran der König, an das Volk, nunmehr eine ethische Instanz von höchstem Rang, um aktive Mithilfe zu erbitten.

Die von nationalem und staatsbürgerlichem Gedankengut berührten Teile des Bürgertums erlebten deshalb die Beseitigung der französischen Vorherrschaft nicht zuletzt als Durchsetzung ihrer Äußerungsfreiheit. „Die Freiheit der Rede und der Schrift ist uns wiedergegeben", schrieb in seinen in Freiburg erscheinenden „Teutschen Blättern" Karl von Rotteck, später einer der führenden Vertreter des vormärzlichen Liberalismus. Ansätze von oben und von unten flossen in einer Fülle publizistischer Projekte zusammen, unter denen Niebuhrs „Preußischer Korrespondent", Varnhagens und Daevels „Deutscher Beobachter" und vor allem Görres’ „Rheinischer Merkur" zu den wirkungsvollsten gehörten; von den Zeitschriften wäre in erster Linie Ludens in Jena erscheinende „Nemesis" zu nennen.

Der Zukunftsoptimismus in den liberal-nationalen Segmenten der öffentlichen Meinung beruhte nicht nur auf der Befreiungseuphorie der Jahre 1813 bis 1815, sondern konnte sich auch auf die starke Stellung reformerischer Kräfte in der preußischen Bürokratie stützen, die ihrerseits auf diese Strömungen setzte, um das preußische Staatsinteresse und das damit weitgehend identifizierte gesamtdeutsche Nationalinteresse zu fördern. Ihren Hauptgegner fanden die reformpreußischen und die nationaldeutsch-liberalen Kräfte in dem österreichischen Staatskanzler Metternich und der von diesem geförderten gegenrevolutionär-gegenreformerischen Publizistik. Anfangs stand je-

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doch der Gegensatz zu den um ihre neugewonnene Souveränität besorgten süddeutschen Fürsten im Vordergrund.

Die nationalen und liberalen Ideen blieben noch weitgehend auf bürgerliche Kreise begrenzt. Wenn die Abneigung größerer Teile der deutschen Bevölkerung, namentlich in der Grafschaft Mark, gegen das napoleonische Regime seit etwa 1810 Überhand nahm, dann hatte das nicht zuletzt materielle Gründe. Die Klagen bezogen sich vor allem auf die französische Annexions- und Zollpolitik, die dem Gewerbe zunehmend Absatzmärkte entzog, auf die indirekten Steuern, namentlich die Salz- und dieTabaksteuer, sowie auf die militärische Konskription. Die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit trug entscheidend zu den aufstandsähnlichen Unruhen des Januar 1813 bei, deren Schwerpunkte im Siegerland und im Bergischen Land lagen, die aber auch Hagen erfaßten.

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1. Die Trägerschicht der Zeitschrift

Wirtschaftlich gehörte die Grafschaft Mark - zusammen mit dem angrenzenden Bergischen Land - im 18. Jahrhundert und darüber hinaus zu den gewerblich fortgeschrittensten Territorien des deutschsprachigen Mitteleuropa,wobei die Metallverarbeitung im Mittelpunkt stand. Die kleinbetriebliche vor- und frühindustrielle Unternehmerschaft in der Grafschaft Mark stand angesichts des Fehlens eines ausgedehnten, zumal adeligen Großgrundbesitzes, bedeutender Finanz- oder Verwaltungszentren beinahe an der Spitze der sozialen Pyramide. Doch war ihre Stellung seit dem späten 18. Jahrhundert durch eine strukturell bedingte Absatzkrise für Metallerzeugnisse bedroht. Wegen der politisch-militärischen Zerschlagung der Exportverbindungen verschärfte sich diese dann in der napoleonischen Zeit noch erheblich.

Ein Teil der märkischen Kaufleute und Fabrikanten legte Wert darauf, über den vorwiegend durch Tradition und Erfahrung bestimmten Horizont der meisten ihrer Kollegen hinauszugelangen, und suchte die Kommunikation mit den Verwaltungsbeamten und den anderen Angehörigen der Akademikerschicht. So verband die Brüder Johann Caspar und Peter Nikolaus Harkort mit den Herausgebern des „Hermann" eine weit zurückreichende Freundschaft. Ein zeitgenössischer Bericht meinte im Herbst 1815 feststellen zu können, der Einfluß der „vielen gelehrten und anderen Beamten" „im Verhältnis ge-

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gen den Handlung und Gewerbe treibenden Stand" mache sich unter Hagens Kaufleuten und Fabrikunternehmern positiv bemerkbar.[ L. Berger, Der alte Harkort. Ein westfälisches Lebens- und Zeitbild, Leipzig 1890, S. 181; Zit. nach Hermann Nr. 78 v. 29.9.1815 (Bruchstücke aus der Schreibtafel eines Unbefangenen).]

Gründer und zeitweiliger Alleinherausgeber des „Hermann" war der lutherische Pfarrer und Konsistorialrat Wilhelm Aschenberg, der schon früher publizistisch hervorgetreten war. Er galt als glühender preußisch-deutscher Patriot und unerschrockener Kritiker des napoleonischen Systems. Von Anfang 1815 bis zu seinem Weggang nach Bremen 1818 fungierte als Mitherausgeber Dr. Philipp Anton Storck. Er leitete seit 1810 die örtliche Bürger- und Handelsschule, das 1799 von Gummersbach nach Hagen verlegte „Wiedemannsche Handlungsinstitut". Neben diesen beiden Herausgebern gehörten noch der Kreisphysikus Dr. Friedrich Degenhard Kerksig und der Gutsbesitzer und ehemalige Landrat des Kreises Wetter Friedrich von Hövel auf Herbeck zum engeren Kreis der Redaktion. Alle vier waren um 1770 geboren, waren also noch von den vornapoleonischen Verhältnissen geprägt. Den Umbruch 1813/14 erlebten sie als reife Männer zwischen vierzig und fünfzig. Der preußische Zivilgouverneur und spätere Oberpräsident Freiherr Ludwig von Vincke, der mit dem Redaktionskreis in Verbindung stand, sprach der Idee seinen „vollkommensten Beifall" aus und subskribierte sogleich.[ Schreiben v. Vinckes, v. 1.2.1814, in: Adolf Dressler, Die Entwicklung des Pressewesens in der Stadt Hagen i.W. von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Hagen 1933, S. 15.]

Die Herausgeber konnten auch eine erhebliche Zahl von regional und teilweise überregional bekannten Persönlichkeiten des intellektuellen und gesellschaftlichen Lebens als mehr oder weniger rege Mitarbeiter gewinnen: darunter den führenden preußischen Schulreformer Ludwig Natorp und Ernst Moritz Arndt, den populären Dichter und Propagandisten der nationalen Befreiung. Dazu traten charakteristischerweise einige Großlandwirte und, vor allem, Kaufleute und Unternehmer, so der junge Friedrich Harkort und der Elberfelder Gerhard Siebel. Es war die regionale Bildungselite - beruflich hauptsächlich Justiz- und Verwaltungsbeamte, evangelische Pfarrer, Lehrer und Ärzte, ergänzt durch wichtige Repräsentanten des Wirtschaftsbürgertums und einen Teil des Adels -, die sich im „Hermann" austauschte.

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Auch in der zeitgleich gegründeten „Literarischen Gesellschaft in der Graftschaft Mark", die in Hohenlimburg tagte, fanden sich dieselben Gruppen und Personen zusammen. Ebenso wie die freie Publizistik setzte das Vereinswesen die Konstituierung eines autonomen, nicht mehr traditions-, sondern innengeleiteten bürgerlichen Individuums voraus und trug zugleich nicht unerheblich zu dessen Ausprägung bei.

Die Auflage des „Hermann" dürfte die Zahl von 1000 nie überschritten haben. Selbst die großen und überregional bedeutenden Zeitungen wie die Augsburger „Allgemeine Zeitung" und der „Rheinische Merkur" kamen nicht über eine Auflage von 3000 hinaus. Kleinere, doch keineswegs unwichtige Organe wie die „Bremer Zeitung", die „Bayreuther Zeitung" und der „Deutsche Beobachter" (Hamburg) lagen im Bereich von 600 - 700 Exemplaren. Zu bedenken ist, daß die Periodika der Jahrzehnte um 1800 von einem erheblich größeren Personenkreis gelesen als Abonnements gezählt wurden. Bis Ende August 1819 erschien der „Hermann" zweimal wöchentlich, anfangs nur vier zweispaltige Seiten umfassend, seit 1815 in der Regel doppelt so stark und namentlich durch „Beilagen" erweitert. Wie die meisten anderen Periodika dieser Art setzten sich die Ausgaben der Zeitschrift hauptsächlich aus (vielfach unaufgefordert) eingesandten, nicht honorierten und in der Regel anonym, unter Pseudonym oder Kürzeln erscheinenden Beiträgen von Lesern zusammen.

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2. Die Auseinandersetzung mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen

Ähnlich wie für den von Arnold Mallinckrodt in Dortmund herausgegebenen „Westfälischen Anzeiger" stand der regionale Bezug für den „Hermann" im Mittelpunkt, war aber keineswegs als Einschränkung gemeint. Die Probleme der engeren „Heimat" sollten in einen größeren Zusammenhang gebracht und das partikulare Bewußtsein für „jene deutsche Gesinnung, die nur auf das Edle, Wahre und Gute gerichtet ist", nutzbar gemacht werden. Entscheidend war dabei zunächst einmal der Anspruch, Fragen von allgemeiner Bedeutung überhaupt öffentlich zu diskutieren, unter Einschluß explizit politischer Problemstellungen.

Eine „vaterländische" Zeitschrift wie der „Hermann" hielt sich für allzuständig - zunächst im Hinblick auf die gewollte Mehrdeutigkeit des Begriffs „Vaterland", der sich auf die engere Heimat, also die

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Grafschaft Mark, auf die neue preußische Provinz Westfalen, auf die Großregion Rheinland-Westfalen oder ganz Nordwestdeutschland, auf den preußischen Gesamtstaat, schließlich auf die mehr oder weniger umfassend definierte deutsche Gesamtnation beziehen konnte. Der Anspruch auf Allzuständigkeit galt aber auch thematisch: Eine Vielzahl von Wissensgebieten wurde gelegentlich behandelt bis hin zu naturwissenschaftlichen und medizinischen Fragen. Und doch hatte die Mehrzahl der Artikel einen, zumindest indirekten, politischen Bezug und diente im weitesten Sinne des Wortes politischer Meinungsbildung. Daß heimatkundlichen, besonders heimatgeschichtlichen Aufsätzen breiter Raum gegeben wurde, belegt den großen Stellenwert geschichtlicher Selbstvergewisserung für die Herausbildung nationaler und landsmannschaftlicher Identitäten, die nicht einfach aus der Kontinuität des Fürstenstaates abgeleitet werden konnten. Ebenso wie das kulturnationale Bewußtsein war das religiöse Empfinden im „Geist von 1813" verstärkt und politisiert worden. Es überwog jedoch eindeutig das protestantische Element, so auch im „Hermann", aktualisiert durch den Zusammenschluß der Lutheraner und der Reformierten in der unierten Kirche Preußens und durch die Verteidigung der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung des Westens.

Mit der durch Mißernten und Getreideknappheit 1816/17 ausgelösten Hungersnot beschäftigte sich der „Hermann" erstmals Anfang März 1817 und dann zwischen Ende Mai und Ende August nahezu in jeder Ausgabe. Dabei standen Berichte über die Entwicklung der Kornpreise und Schilderungen über das tägliche Elend neben Mahnungen zum Teilen und Anklagen gegen den Wucherhandel sowie Kritik an der Desorganisation bei der großen, auch politisch motivierten Hilfsaktion des preußischen Staates im Mittelpunkt. Immerhin konnte die Zeitschrift etliche Beispiele für teilweise vereinsmäßig organisierte, private Hilfstätigkeit anführen, die sich als durchaus wirkungsvoll erwies.

Gegen Ende des Jahres 1814 kündigten die Herausgeber des „Hermann" an, Gegenstände aus Landwirtschaft, Handel und Gewerbe sollten künftig „ungleich mehr berücksichtigt werden". Dabei wurde an die Bedeutung „wissenschaftlicher Ausbildung für technische Ausübung" gedacht, aber auch an praktisches Erfahrungswissen, über das der wissenschaftlich Ungebildete oft Wichteres zu sagen vermöge

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als der Gelehrte.[ Hermann Nr. 88 v. 2.12.1814 („Ankündigung" der Herausgeber).] Mit wenigen Ausnahmen waren es dann aber doch die schriftstellerisch Routinierteren, die der Aufforderung folgten, Texte einzuschicken. Dabei lassen sich hauptsächlich drei Kategorien von Artikeln unterscheiden: erstens solche, die sich mit den erzieherischen und infrastrukturellen Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums beschäftigten (technischer Unterricht, Straßenbau, Brückenbau, Flußregulierung und Kanalisierung). Zweitens Berichte über neue Technologien, Produktions- bzw. Anbauverfahren (Eisen- und Stahlerzeugung, Anwendung von Dampfkraft, Gasbeleuchtung in einer der frühen Industrieanlagen); drittens sozial- und wirtschaftspolitische Diskussionsbeiträge. Unmittelbar auf die Ebene politischer Kontroversen führten diverse, die ihren Stempel durch die ungünstige Situation der Wirtschaft und die Neuorientierung der preußischen Wirtschafts- und Handelspolitik erhielten.

1815 errichteten die preußischen Autoritäten Außenzölle um die neu gebildeten Provinzen im Westen, die aber vom Rest des Staates zunächst zollpolitisch getrennt blieben. Abhandlungen über den rechtlichen Status der westfälischen Bauern sowie die Diskussionen über die Neuregelung des Steuerwesens und über die Außenhandelspolitik 1818 wurde dann - zusammen mit den neuen, im internationalen Vergleich sehr niedrigen Handelstarifen - die Zolleinheit der preußischen Gesamtmonarchie hergestellt. Während den rigorosen Verfechtern des Freihandels der preußische Zolltarif von 1818 bei weitem nicht freihändlerisch genug war, forderten rheinisch-westfälische Fabrikanten - unter ihnen besonders solche, die auch verfassungspolitisch als Sprecher bürgerlicher Interessen hervortraten - den staatlichen Schutz des einheimischen, großenteils für den internationalen Markt produzierenden Gewerbes: „Preist Einer hier zu Lande, bei unserem Fabrikenstande, die fremde Handelsfreiheit; so ist es ganz gewiß entweder ein Unwissender, ein Besoldeter, oder ein englischer Waaren- oder Garnhändler."[ Hermann Nr. 21 v. 12.3.1819 (Auch ein Wort über das Zollwesen).] Faktisch gerieten vor allem das Textilgewerbe und andererseits die Kohlenförderung, die Eisen- und Stahlerzeugung unter den Konkurrenzdruck des bereits stark industrialisierten Großbritannien.

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3. Der nationale Aufbruch

Da die Mitarbeiter und wohl auch Leser des „Hermann" zu einem erheblichen Teil als Funktionsträger in das großherzoglich bergische Regime integriert gewesen waren und - sofern sie Beamte waren - auch in der neuen preußischen Administration meist wieder einen Platz fanden, konnte es nicht verwundern, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zurückhaltend und nicht ohne apologetische Anklänge geführt wurde. Eine im „Hermann" abgedruckte Rede vom 5. Dezember 1813, kurz nach dem Wechsel, vor einer Versammlung von Beamten im Hagener Justizhaus gab den Ton an. Bei der Mitarbeit im napoleonischen Herrschaftssystem sei es darum gegangen, „durch eine schonende Anwendung des Gesetzes - als seinen Werkzeugen blutete uns oft das Herz - des Vaterlandes Unglück zu erleichtern"[ Hermann Nr. 29 v. 10.5.1814 (Rede, gesprochen vor einer Versammlung von Beamten zu Hagen und am Siegesfeste, d. 5. Dec. 1813).]. Dabei wurde nicht unerwähnt gelassen - eine immer wieder auftauchende Mahnung - es gelte jetzt, „das einzelne, nicht zu verkennende Gute der neuen, uns [von Frankreich] aufgedrungenen Verfassung" konkret zu prüfen und „das erkannte Bessere" zu nutzen „für den künftigen Zustand der Dinge".[ Ebd.; Hermann Nr. 48 v. 15.7.1814 (Aus einer Vorlesung, gehalten in einem Zirkel von Freunden). ]

Die Beiträge des „Hermann" warfen Napoleon in der Regel nicht den antifeudalen Inhalt seiner Reformbemühungen vor, sondern die Oktroyierung der Reformen und teilweise auch ihre rigorose Durchführung. Die Hauptkritik richtete sich gegen „Militärdespotismus" und die Idee der Universalherrschaft sowie die damit verbundene Unterdrückung der nationalen Eigenständigkeit der Deutschen. Die Französische Revolution wurde in ihrem Ansatz eher positiv beurteilt, die Folgeentwicklung - die Sansculotterie und die Jakobinerherrschaft - als Entartung gewertet.

Der „Hermann" war beeinflußt von dem neuen gesamtdeutschen Nationalpatriotismus. In diesem hatten Männer wie der Philosoph Fichte, der Theologe Schleiermacher, der Historiker Luden, der Schriftsteller und „Turnvater" Jahn sowie der bereits erwähnte Arndt den aufgeklärten, in der Regel einzelstaatlichen Patriotismus des späten 18. Jahrhunderts mit den gleichzeitigen kulturnationalen Tenden-

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zen verbunden und in der Opposition gegen die napoleonische Vorherrschaft radikalisiert. In diesem Zusammenhang machten sich auch antijüdische Tendenzen geltend. Anknüpfend an eine größere zeitgenössische Debatte stritten im „Hermann" Anhänger und Gegner der Judenemanzipation. Die kulturelle und machtpolitische Sicherung des deutschen Volkstums gegen Frankreich spielte gerade in den ersten beiden Jahrgängen der Zeitschrift eine wichtige Rolle, doch fehlten Haß-Ausbrüche und teutomanische Übersteigerungen. Und die Beschwörung eines klischeehaften nationalen Selbstbildes („frei, mutig und mannhaft, redlich und bieder, fromm und gut, bedachtsam, bescheiden und einfach") war durchaus verbunden mit der Berufung auf den „Altar der Bürger- und Menschenwürde", den es zu erbauen gelte.[ Hermann Nr. 5 v. 15.2.1814 (Der Deutsche). ]

„Ächte Deutschheit", hieß es im Herbst 1814 anonym, zeige sich nicht in der Abschließung, sondern in der Aneignung des Wertvollen aller Völker. Die „politische Einheit" alles dessen, „was deutsch spricht", „wehrt von selbst ohne viele Worte allen fremden Einfluß zurück und bestimmt und bildet den Nationalcharakter." Vom Wiener Kongreß erwartete Storck zu diesem Zeitpunkt noch die „Vereinigung aller Deutschredenden in einem Staatskörper" auf konstitutioneller Grundlage[ Hermann Nr. 78 v. 28.10.1814 (Was ist Deutschland und wie wird sie erhalten?); Nr. 80 v. 4.11.1814 (Gedanken bei Gelegenheit des Wiener Congresses). ]. Obwohl in einem anderen Artikel vom „Bundesstaat" die Rede war[ Hermann Nr. 91 v. 13.12.1814 (Der deutsche Bundesstaat). ], waren die Vorstellungen über die staatliche Einheit Deutschlands nicht sehr konkret. Jedenfalls verlangte man nicht eine „Wiederherstellung des Alten", sondern eine Neugestaltung nach innen und außen auf Kosten der „souverainitätssüchtigen Fürsten", ihrer „Rathgeber, Minister und deren Creaturen", die als „Verräter am Volk" unter der napoleonischen Ordnung berechtigten Haß auf sich gezogen hätten.[ Hermann Nr. 1 v. 2.1.1816 (Über den Aufsatz in Betreff der mediatisierten Fürsten); Nr. 19 v. 7.3.1815 (Wünsche, Hoffnungen und Besorgnisse des Vaterlandes). ]

Seine emotionale Kraft bezog das neue Nationalbewußtsein aus dem Erlebnis des Unabhängigkeitskrieges. „War es ein Wunder, daß

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nun ungekannte Gefühle in allen Deutschen aufloderten? - Man fühlte, alles war anders, und eine weite, hehre Zukunft lag vor uns, die wir nicht zu gestalten wußten ...", beschrieb Aschenberg diese Stimmung.[ Hermann Nr. 4 v. 12.1.1816 (Über das Werk „Dank- und Ehrentempel der Deutschen"). ] Die Feiern am 18. Oktober in Erinnerung an die Leipziger Schlacht, erstmals 1814 unter breiter Beteiligung der Bevölkerung begangen, wurden im „Hermann" ausführlich gewürdigt.[ Hermann 1814/Nr. 72-76; 1816/Nr. 4; 1817/Nr. 91 ] In verherrlichender Absicht verfaßte Berichte über kriegerische Ereignisse und Taten sowie Erörterungen militär- und außenpolitischer Fragen, die anfangs viel Platz beanspruchten, rückten, der allgemeinen Tendenz der politischen Publizistik Deutschlands entsprechend, ab Sommer 1815 langsam in den Hintergrund.

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4. Die Verfassungsdiskussion: bürgerlich-liberale Positionen

Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung über den weiteren Weg der preußischen Monarchie stand in den Jahren nach 1813 die Verfassungsfrage, aktualisiert und verschärft durch die preußischen Besitzergreifungspatente für die neu gewonnenen Gebiete, das königliche Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815, den Artikel 13 der Bundesakte des Deutschen Bundes mit dem Hinweis auf „landständische Verfassungen" in den Einzelstaaten sowie die einzelstaatliche Verfassungsgebung von oben, vor allem in den süddeutschen Staaten, seit 1814. Die Verzögerung einer gesamtstaatlichen Verfassung in Preußen war vordergründig dem Taktieren des Staatskanzlers Hardenberg geschuldet, der den Widerstand aus Teilen der Bürokratie sowie aus höfischen und junkerlichen Kreisen ebenso berücksichtigen mußte wie die Furcht der verbündeten Großmächte, nicht nur Österreichs, vor der umstürzenden Sogwirkung eines sich auf diese Weise als liberal-nationale Führungsmacht Deutschlands legitimierenden Preußen. Erschwerend kam hinzu, daß die auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung zielende Reformgesetzgebung der Berliner Regierung in den ostelbischen Provinzen selbst im Stadtbürgertum überwiegend auf Skepsis und Ablehnung stieß und die zu frühe Einberufung von Vertretungskörperschaften in dieser Hinsicht u.U. eher bremsend hätte wirken können.

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Die direkt oder indirekt diesbezüglichen Artikel im „Hermann" umfassen mit dem Schwergewicht auf einem sehr gemäßigten Liberalismus fast die ganze Breite der in Deutschland seinerzeit zu der Thematik diskutierten Positionen. Der konkrete Bezugspunkt blieb die Verfassungsfrage in der eigenen Provinz und im eigenen Staat, der, abgesehen von Österreich, zudem der wichtigste deutsche Einzelstaat war und von dem man erwartete, daß er die inneren Reformen der Jahre nach 1806 mit einer repräsentativen Verfassung kröne.

Als Ziel der meisten derjenigen, die sich zur Verfassungsdiskussion äußerten, kristallisierte sich eine „konstitutionelle Monarchie"[ Hermann Nr. 5 v. 14.1.1817 (Über einige neuere Behauptungen des Hrn. Dr. Benzenberg). ] auf der Grundlage staatsbürgerlicher Gleichheit und politischer Freiheit, nicht zuletzt der Pressefreiheit, heraus. An eine parlamentarische Regierung wurde dabei nicht gedacht, sondern an die Mitwirkung der Volksvertretung - vor allem, aber nicht nur an der Gesetzgebung - und an die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit auch im Bereich der Exekutive, um Ordnung, Eigentum und Freiheit der Individuen zu sichern. Außerdeutsche Modelle blieben nicht außer Betracht, wobei neben England auch das Frankreich der Charte einmal als Vorbild herausgestellt wurde.[ Siehe etwa Hermann Nr. 30 v. 13.5.1814 (Das französische Volk und seine Konstitutionen); dagegen scharf kritisch Nr. 6 v. 20.1.1818 (Briefe eines Reisenden aus England); Nr. 41 v. 21.5.1819 (Frankreichs neueste Kriegs-Erklärung).]

Fast alle Beiträger setzten ihre Hoffnung auf Preußen, das die „Ansprüche des neuen Zeitgeistes" einschließlich der Einheit Deutschlands als Hebel zu ihrer Durchsetzung verwirklichen sollte. Durch „Gemeingeist" und „moralische Kraft" werde Preußen stark. Dazu dienten die allgemeine Wehrpflicht auf neuer ethischer Grundlage, eine freiheitliche Kirchenverfassung, die Freiheit der Wissenschaft, die kommunale Selbstverwaltung und nicht zuletzt eine geschriebene Verfassung. Nur durch gute Institutionen könne das Volk veredelt werden.[ Hermann Nr. 27 v. 2.4.1819 (Preußen); Nr. 30 v. 14.4.1815 (Kampf für’s Vaterland des Bürgers Weihe); Nr. 78 v. 26.9.1817 (Über Gemeinsinn); Nr. 12 v. 9.2.1819 (Politische Ansicht). ]

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In provozierender Klarheit formulierte der „Götz vom Rheine", als die Verfassungsdebatte in den preußischen Westprovinzen Anfang 1818 ihren Höhepunkt erreichte, seinen bürgerlichen Klassenstandpunkt: „Feste Verfassung, aus welcher hervorgehen: Volksvertretung, Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Steuer und Last, öffentliches [Gerichts-]Verfahren, Landesmacht, Trennung der Gewalten, freier Haushalt der Gemeinden ..., Preßfreiheit unter Verantwortlichkeit des Verfassers, Aufhebung aller Überbleibsel des Feudalismus! - Das ist’s, was wir wünschen!"[ Hermann Nr. 12 v. 10.2.1818 (Der Bürgersinn am Rhein). ] Hinter dem Pseudonym „Götz vom Rheine" verbarg sich der vielseitige Repräsentant Elberfelder Kaufleute und Fabrikanten Gerhard Siebel, Freimaurer und Landsturmoffizier von 1813/14, der zum ersten Jahrestag der Leipziger Schlacht im Oktober 1814 eine vielbeachtete Rede gehalten hatte.[ Hermann 1816/Nr. 4-6. ] Unter den regelmäßigeren Mitarbeitern des „Hermann" vertrat er gewissermaßen den progressiven Pol. Wie bei den meisten anderen Artikulationen des rheinischen Bürgertums war die Verteidigung der Errungenschaften aus der Franzosenzeit keineswegs mit nationaler Indifferenz oder einem westdeutschen Partikularismus verbunden. Das Verlangen nach einer gesamtstaatlichen Verfassung Preußens wurde vielmehr nirgendwo so energisch ausgesprochen wie in den westlichen Provinzen, und zwar seitens desselben Personenkreises, der die besonderen Anliegen des preußischen Westens vorbrachte.

In einer ganzen Zahl von Kommentaren trug Siebel die Beschwerden und Forderungen der selbstbewußten, entschieden liberalen Kreise der entstehenden Wirtschaftsbourgeoisie vor. Er bestritt die Berechtigung jedes adeligen Führungsanspruchs, sei doch der Adel nur noch ein „entarteter, eine Fürsten-Söldners-Kaste, ein Mobilarstück des Thrones". Dem „korsischen Völkerbezwinger" hätten sich „diese Kriechlinge" um Ämter und Orden willen angepaßt, während es der „Bürgersinn" gewesen sei, „der auch in diesen Zeiten der Noth in Worth und That sich höher stelllte als jener Adelssin". Der Bürger, am Rhein seit jeher durchdrungen vom Streben nach „Freiheit und Unabhängigkeit", „spricht reines Deutsch und läßt sich nicht irre machen". „Einfach und wahr - ohne Furcht und Tadel", lehne er ab „die Sitte und die Sprache des Hofes, noch will er spielen mit Bänderlein

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und Kreuzlein"[ Wie Anm. 18. ]. Auf diese Weise verschmolzen für Siebel und seine Gesinnungsgenossen nationale und bürgerliche Tugenden, so wie auch national-deutsche und liberal-bürgerliche politische Ziele für sie vollkommen identisch waren.

Die dezidierten Adelskritiker lehnten jede ständische Aufgliederung und Bindung der Parlamentsabgeordneten ab. Gelte das „allgemeine Beste" als gemeinsames Interesse aller Staatsbürger, „so dürfen die Volksvertreter nur eine Kammer ausmachen, und in dieser sich diejenigen Männer einträchtig vereinigen, welche wegen ihrer Einsicht, ihres guten Willens und des Volksvertrauens aus allen Ständen als die Edlern sich auszeichnen", schrieb im Herbst 1816 „einer aus dem Volk" [Hermann Nr. 85 v. 22.10.1816 (Versuch einer Ehrenrettung...). ]. Obwohl einige ein weitgehendes Wahlrecht verlangten, das alle irgendwie steuerzahlenden männlichen Bewohner einschließen sollte, gingen auch bürgerlich-liberale Autoren meist von einem auf die Träger von Besitz und Bildung zu beschränkenden Wahlrecht aus, wie es in Europa den größten Teil des 19. Jahrhunderts hindurch die Regel war.

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5. Die Verfassungsdiskussion: Freiherr von Hövels ständischer Ansatz

Während im Rheinland Repräsentanten des Bürgertums - vor allem Juristen, später auch Großkaufleute und industrielle Unternehmer - die Verfassungsdiskussion beherrschten, dominierten in Westfalen die Sprecher des Adels. Anders als im ostelbischen Bereich spielten die adelige Eigenwirtschaft und die damit verbundene Gutsherrschaft keine größere Rolle; doch verglichen mit den rheinischen Provinzen blieb die sozial führende Stellung des westfälischen, überwiegend katholischen Adels bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten.

Die märkischen Stände begannen sich schon kurz nach dem Regimewechsel zu formieren und betrieben die Einberufung des alten Landtags. Die konzeptionell und organisatorisch führende Kraft war der „Hermann"-Mitarbeiter Friedrich Freiherr von Hövel. Der frühere preußische Landrat und Kammerpräsident, dann Präfekt und Staatsrat im Königreich Westfalen, hatte sich 1810 aus dem Staatsdienst auf

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sein Gut zurückgezogen, war aber im Herbst 1813 gleich maßgeblich an der Aufstellung von Landwehr und Landsturm beteiligt gewesen. Hochgebildet, an naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen interessiert, ein Pionier moderner Landwirtschaft wie der frühen Industrialisierung, genoß er in der Bevölkerung, weit über den Kreis seiner Standesgenossen hinaus, hohes Ansehen. Zusammen mit dem Freiherrn vom Stein, der seit 1816 Schloß Cappenberg bei Lünen bewohnte, und in mancher Hinsicht noch deutlicher als dieser, vertrat von Hövel denjenigen Teil des westfälischen Adels, der eine reine Interessenpolitik ebenso ablehnte wie das kompromißlose Beharren auf der Wiederherstellung feudaler Rechte. Es ging ihm darum, an die historische Kontinuität der ständischen Selbstverwaltungseinrichtungen und damit an die tradierte Führungsrolle des Adels anzuknüpfen, dabei aber den Anschluß an die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen seit dem späten 18. Jahrhundert zu finden. Auch die am 1. Mai 1818 im „Hermann" abgedruckte Stellungnahme der Bürgermeister und Gemeinderäte des märkischen Süderlands im Namen des „Bürger- und Bauernstandes" stellte das Prinzip der ständischen Verfassung nicht infage, verwahrte sich aber gegen die Restauration des Ständewesens alten Typs. [Hermann Nr. 35 v. 1.5.1818 (Der Bürger- und Bauer-Stand des märkischen Süderlandes an Se. Durchlaucht den Fürsten Staats-Kanzler). ]

Von Hövel dachte an einen stufenweisen Aufbau der Verfassung, der, ausgehend von den alten Provinzen, über die neu gebildeten Großprovinzen auf die Ebene der Gesamtmonarchie führen sollte. Die Aufgabe der Stände bestand für ihn maßgeblich darin, die zentralstaatliche Bürokratie zu kontrollieren und auszubalancieren. Da die wichtigsten Vertreter des märkischen Adels selbst über langjährige Erfahrungen in der Staatsverwaltung verfügten, ist dieser Ansatz nicht einfach als Kritik am modernen souveränen Staat, sondern als Ablehnung des Absolutismus zu begreifen. Das ständische Konzept von Hövels suchte den Führungsanspruch des Adels (eines sich reformierenden Adels) unter den modernen Bedingungen zu erneuern. Der Freiherr ließ keinen Zweifel daran, daß der Adel noch manche Änderung werde akzeptieren müssen, so die definitive Aufhebung seiner Steuerfreiheit. Die gegenüber der vornapoleonischen Zeit quantitativ zu erweiternde Beteiligung des Bürgertums und die Teilnahme der

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Bauernschaft an den Ständeversammlungen schienen ihm ebenso selbstverständlich wie deren prozedurale und funktionale Weiterentwicklung unter Anerkennung des Prinzips der Öffentlichkeit. [Hermann Nr. 84 v. 20.10.1815 (Gedanken über eine bevorstehende Bundesverfassung Deutschlands); Nr. 37 v. 6.5.1817, Forts. Nr. 41, Beilage, v. 20.5.1817, Nr. 45, Beilage, v. 3.6.1817; Nr. 47, Beilage, v. 10.6.1817 (Dreisterns Vertheidigung...); Nr. 6 v. 17.1.1817, Forts. Nr. 7 v. 21.1.1817 (Über einige Äußerungen des Hrn. Regierungsrathes Koppe...); Nr. 20 v. 7.3.1817, Forts. Nr. 21-23 (Über Provinzial-Verfassung). ] Von Hövel im besonderen und der westfälische Adel im allgemeinen gingen jedoch nicht von ihrer Auffassung ab, derzufolge alle Veränderungen seit Ausbruch der Französischen Revolution, namentlich die Abschaffung der alten Stände und wichtiger Adelsprivilegien, rechtlich als gegenstandslos zu betrachten seien.

Dem Adel und seinen publizistischen Sprechern kam zugute, daß in der Periode nach 1813 - bis weit ins progressive Bürgertum hinein - die Weiterexistenz irgendeiner Art von Adel bzw. Verdienstadel akzeptiert wurde, wie ihn zudem auch die napoleonischen Staaten wieder eingeführt hatten. Es überrascht von daher weniger, daß über die von Stein inspirierte große Denkschrift des rheinischen und westfälischen Adels von 1817 im „Hermann" kaum debattiert wurde. Selbst Gerhard Siebel rügte hauptsächlich den „murmelnden, unverständlichen Ton" und ließ sich nicht auf eine sachliche Auseinandersetzung ein. [Hermann Nr. 31 v. 17.4.1818 (Einer aus der Bürgerschaft – an die Ritterschaft der Länder Jülich, Kleve, Berg und Mark). Zur Denkschrift selbst siehe Weitz , Kap. IV. ]

Für die meisten Teilnehmer an der Verfassungsdiskussion - im „Hermann" nicht anders als überhaupt - schlossen die Bestrebungen der geläuterten Teile des Adels und die des gemäßigten Bürgertums sowie die der reformerischen Staatsmänner und Verwaltungsbeamten einander ebenso wenig aus wie die Begriffe „ständisch" und „repräsentativ". Die Verfassung sollte bewirken, daß die von höfischen Kreisen aufgerichtete „Scheidewand ... zwischen Volk und Fürsten ... zertrümmert" werde. [Hermann Nr. 19 v. 7.3.1815 (Wünsche, Hoffnungen und Besorgnisse des Vaterlandes). ] Das war das gemeinsame Anliegen fast aller diesbezüglichen Initiativen. Ein denkbarer Kompromiß zwischen bür-

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gerlich-liberalen, ständischen und etatistischen Positionen, wie er in anderen deutschen Einzelstaaten zustande kam, hätte in Preußen jedoch zunächst vorausgesetzt, daß sich in der Staatsspitze die Reformer durchgesetzt hätten.

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6. Der Weg zum Verbot

Der „Hermann" stand, wie anfangs auch der „Rheinische Merkur" und andere Blätter unter dem Schutz der preußischen Regierung und war stolz auf das ihm in Berlin und Münster entgegengebrachte Wohlwollen. Die Reaktionspartei um den Präsidenten des Staatsrats, Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz, und den Polizeiminister Fürst Wittgenstein, die auch am Hof schnell wieder an Boden gewann, hatte die Selbständigkeit der öffentlichen Meinung nie akzeptiert. Seit der Vorbereitung des Frühjahrsfeldzugs 1813 fürchtete sie, die patriotische Bewegung könnte außer Kontrolle geraten; das Blüchersche Hauptquartier galt als Jakobinernest. Seit dem Herbstfeldzug 1813 und dem damit verbundenen Zurücktreten der Volkserhebungskomponente des Krieges begannen die junkerlichen und absolutistischen Kräfte wieder die Oberhand zu gewinnen, auch wenn die Rekonsolidierung ihrer Machtstellung in Preußen wie in den anderen deutschen Staaten kein automatischer und unumkehrbarer Prozeß war. Um die Jahreswende 1815/16 erfolgte mit dem Verbot des „Rheinischen Merkurs" eine erste deutliche Weichenstellung, die den „Hermann" aber zunächst nur am Rande berührte. Die Zensur wurde von dem Hagener Landrat von Untzer höchst milde ausgeübt. Auch als dessen Nachfolger von der Leithen im Lauf des Jahres 1817 den Hagener Bürgermeister Karl Ludwig Dahlenkamp mit der Wahnehmung des Zensorenamts beauftragte, schien sich zunächst nicht viel zu ändern.

Im Sommer und Herst 1817 kam es dann aber verschiedentlich zu Beanstandungen in Berlin; der Druck verstärkte sich spürbar. Besonders die regelmäßige Kritik von Fehlleistungen der Verwaltung und Selbstverwaltung auf unterer Ebene, zu der die Zeitschrift ursprünglich sogar ermutigt worden war, stieß zunehmend auf den Unwillen derjenigen, die jede öffentliche Kritik unterbinden und die Arkanpraxis des Absolutismus im Königreich Preußen wieder zur Grundlage der Regierungsweise machen wollten. Wie kleinlich die vorgetragenen Bedenken der Zensur teilweise waren, macht die Rüge eines me-

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dizinischen Artikels deutlich, in dem über eine „magnetische" Behandlungsmethode berichtet wurde; der Bericht könne den Kranken u. U. beunruhigen. [Dressler (Anm. 4), S. 46ff, mit weiteren Beispielen. ]

Die schleichende Entfremdung zwischen den preußischen Regierungsbehörden und dem „Hermann" läßt sich nicht nur an dem - entsprechend der allgemeinen politischen Entwicklung - stärker werdenden Druck aus Berlin ablesen, sondern auch an der Zunahme kritischer Stimmen zur inneren Situation Preußens und seiner Rolle in Deutschland, namentlich in den neu gewonnenen westdeutschen Provinzen, in den Spalten der Zeitschrift. Auch wenn diese Kritik bis zum Schluß nicht im Vordergrund stand und meist zurückhaltend geäußert wurde, war doch die Akzentverschiebung zu dem 1814/15 herausgestellten Hohenzollernkult (den man damals mit einer Bejahung Preußens als Reformstaat meinte vereinbaren zu können) unverkennbar. [Vgl. z.B. Hermann Nr. 50 v. 22.7.1814 (Erinnerungsblatt); Nr. 53 v. 2.8.1814 (Te Deum zur Geburtstagsfeier unseres Königs); Nr. 66 v. 15.8.1817 (Über die Fortdauer militairischer Einquartierungen in Friedenszeiten); Nr. 43 v. 28.5.1819 (Korrespondenz-Nachrichten). ]

Bis ins Jahr 1819 hinein war über die politische Entwicklung in Deutschland noch nicht endgültig entschieden. In den wichtigsten süddeutschen Staaten traten in den Jahren 1818 bis 1820 Verfassungen von zum Teil recht modernem Zuschnitt in Kraft; die Beratungen des Bundestags über ein Pressegesetz deuteten zeitweise darauf hin, daß eine rechtsstaatliche Regelung gefunden werden würde; und in Preußen hatten Hardenberg und die anderen Reformer ihre Sache noch nicht verloren gegeben, insbesondere in der Verfassungsfrage. Es war der Mord des exzentrischen Burschenschaftsstudenten Carl Ludwig Sand an dem gefälligen Lustpieldichter, absolutismusfreundlichen Schriftsteller und zaristischen Agenten August von Kotzebue am 23. März 1819, der den gegenreformerischen Kräften unter Führung Metternichs den Vorwand bot, die massive Unterdrückung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung einzuleiten. [Günther Heidemann, Carl Ludwig Sand. Die Tat als Attentat. Hof 1985; Zur Auseinandersetzung des „Hermann" mit dem Kotzebue-Mord und der Idee einer revolutionären Verschwörung siehe – bemerkenswert differenziert – Nr. 32 v. 20.4.1819 (August von Kotzebue); Nr. 69 v. 27.8.1819 (Die große Verschwörung ]

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Die unter dem Druck Österreichs und Preußens vom Bundestag verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse vom August 1819, denen - bundesrechtlich mehr als fragwürdig - die separate Verständigung Österreichs mit Preußen vorausgegangen war, unterwarfen, neben der Einführung einer strengen Pressezensur, die Universitäten staatlicher Aufsicht und verboten burschenschaftliche Verbindungen. Eine zentrale Kommission des Deutschen Bundes untersuchte, bis auf das Jahr 1806 zurückgehend, die liberal-nationalen, vermeintlich revolutionären Aktivitäten der zurückliegenden Jahre. Es kam zu einer Reihe Verhaftungen und Amtsenthebungen; etliche Oppositionelle, unter ihnen Joseph Görres, waren gezwungen, sich durch Flucht ins Ausland der Verfolgung zu entziehen. Die Karlsbader Beschlüsse suchten den politischen Formierungsprozeß des deutschen Bürgertums zu stoppen und rückgängig zu machen. Obwohl sie dieses Ziel letzten Endes verfehlen mußten, verzögerten sie die Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit und Parteibildung um mindestens ein Jahrzehnt.

Den Anlaß zum Verbot des „Hermann" lieferte eine „Korrespondenz-Nachricht", in der mit ironischem Unterton über die Verhaftung Ernst Moritz Arndts und der Gebrüder Welcker in Bonn berichtet wurde, wo diese als Universitätsprofessoren tätig waren. [Hermann Nr. 64, Beilage v. 10.8.1819 (Korrespondenz-Nachrichten). Die Redaktion ließ ihre kritische Einstellung zur Demagogenverfolgung deutlich erkennen. ] Nachdem die „Preußische Staatszeitung" bereits am 24. August ein Verbot des „Hermann" angekündigt hatte, teilte der Hagener Landrat von der Leithen dem Herausgeber mit Schreiben vom 30. August 1819 den Beschluß der preußischen Regierung mit, daß die Zeitschrift „unterdrückt, nicht fortgesetzt und weder im Innern noch im Auslande gedruckt" werden dürfe [Zit. nach „Rechenschaft an die Mitarbeiter, Freunde und Leser des ‚Hermanns‘ so wie an das gesamte vaterländische Publikum" v. 2.9.1819; Stadt Hagen Rep. 1/8, Nr. 29. In der „Rechenschaft" auch das folgende Zitat.]. Wilhelm Aschenberg, der im Namen der Redaktion an die Leserschaft und „das gesammte vaterländische Publikum" eine ausführliche Rechtfertigung richtete, die als Schlußnummer des „Hermann" expediert wurde, versicherte noch einmal die guten Absichten der Zeitschrift und ihrer Autoren und betonte: „Die

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aber würden unser Volk verkennen, die da glaubten, freies Wort führe es von der Bahn des Rechten. Die höchste Liberalität, die freieste Uebung und Entwicklung all unserer Kräfte" seien die Grundsätze des staatlichen Wohlergehens. Nachdem mehrere Versuche gescheitert waren, die Zeitschrift wieder herauszubringen, starb Aschenberg, tief enttäuscht und verbittert, im November 1820; sein früherer Mitherausgeber Storck, seit 1818 Professor an der Handelsschule in Bremen, folgte ihm 1822. Von 1823 bis 1835 durfte der „Hermann", diesmal in Schwelm, dann in Barmen, erneut erscheinen, doch politisch vollkommen gezähmt und nicht an das frühere Niveau heranreichend.

Die Periode der Befreiungskriege und der frühen Nachkriegszeit brachte „die große Wende für das Selbstbewußtsein der politischen Öffentlichkeit in Deutschland" [Michael von Rintelen, Zwischen Revolution und Restauration. Die Allgemeine Zeitung 1798-1823. Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 3. ]. Verfassungsbestrebungen in den Einzelstaaten traten ebenso in Erscheinung wie die Anfänge einer nationalen Vereinsbewegung, die mit dem Turnen bis in die Jugend des Kleinbürgertums ausstrahlte. Die Burschenschaft betrieb nicht nur eine sittliche Erneuerung des studentischen Lebens auf freiheitlich-nationaler Grundlage, sondern formte auch erstmals quasi parteipolitische Gruppen und Programme des Bürgertums aus. Doch das bedeutendste Forum der Beteiligung des Bürgertums am gesellschaftlich-politischen Geschehen war die Publizistik. Die in Zeitungen und Zeitschriften sich manifestierende öffentliche Meinung wurde als eine Art „kommunikativer Repräsentation" [Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848. Neuwied/Berlin 1966, S. 222.] verstanden und mit den angestrebten konstitutionellen Volksvertretungen ganz folgerichtig meist in unmittelbarer Verknüpfung gesehen.

Gewiß deutet der relativ geringe Widerstand gegen die 1819 beschlossenen Unterdrückungsmaßnahmen darauf hin, daß es fast ausschließlich das städtische Honoratiorentum und die akademische Jugend waren, die - über die eigentliche Kriegszeit hinaus - den emanzipatorischen Aufschwung von 1813 - 1819 trug. Und doch blieb der „kurze Frühling" [Karl Heinz Schäfer, Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zur Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert. Bonn 1974, S. 73.] der deutschen Publizistik nicht folgenlos. Man

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hatte die Freiheit von Wort und Schrift bereits einmal erlebt. Die Forderung nach „Preßfreiheit" verschwand nicht mehr aus den Programmen der Liberalen und Demokraten. Als das alte Regime im März 1848 überall in Deutschland gestürzt wurde, bildete sie eine der zentralen Losungen der revolutionären Volksbewegung.

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