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Patricia Drewes
Königin Luise von Preußen - Geschichte im Spiegel des Mythos


Um Königin Luise von Preußen, die Frau des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. (1797-1814), entspann sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also noch während ihres Lebens, ein Mythos, der sich nach ihrem Tod verfestigte und - tradiert durch Historiographie, Literatur und bildende Kunst - bis in die Gegenwart das Bild Luises bestimmt.

Mythen stellen ursprünglich Versuche früher Kulturstufen dar, Fragen vom Ursprung der Welt, ihrem Entstehen und Ende durch Bilder, Personifikationen oder Erzählungen von Göttern und Menschen auszudrücken; sie haben dort ihr Recht, wo Denken und Wissen an ihre Grenzen stoßen, und bieten eine Weltsicht, die aufgrund ihrer Affektivität und ihres Appells an vorrationale Strukturen über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart Anziehungskraft besitzt - man denke nur an die mediengestützte Mythisierung der verstorbenen britischen Prinzessin Lady Diana.

In dieser Darstellung soll der Weg des Luisen-Mythos von seiner späteren, bis ins 20. Jahrhundert reichenden Verfestigung unter Heranziehung historiographischer, literarischer und künstlerischer Zeugnisse bis in die Zeit seiner Entstehung Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Dabei gehe ich von zwei Grundannahmen aus:

Zum einen: Die Herausbildung von Mythen geschieht niemals ohne jegliche Intention; seitens der Mythenbildner und Mythenträger verfolgt sie stets einen bestimmten Zweck: So können Mythen nicht Nachvollziehbares verständlich machen, mit unliebsamen Zuständen versöhnen und angesichts der unvollkommenen Gegenwart eine Heilperspektive anbieten.

Das Beispiel der Königin Luise ist sehr gut geeignet, zu zeigen, daß Mythisierung und Funktionalisierung sehr nahe beieinander liegen - posthum waren es vor allem eine als sakral zu verstehende Mütterlichkeit und die Aufopferung des Lebens für das Gemeinwesen, die die Tradierung und Verfestigung des Luisen-Mythos prägten. In der Entstehungsphase hingegen, um die es hier schwerpunktmäßig

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gehen soll, war Luises Bürgerlichkeit, die die Zeitgenossen zu betonen nicht müde wurden, der bestimmende Zug des Mythos.

Zum anderen: Mythen stellen einen festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses einer bestimmten Gruppe dar, d.h. jede Gesellschaft hat einen ihr eigentümlichen Bestand an Texten, Bildern und Riten, den sie pflegt und - modifiziert - weitervermittelt; mit diesen Texten, Bildern und Riten tradieren Gesellschaften ihre Auffassung von Vergangenheit und ihre Wahrnehmung der Gegenwart. Mythen können demnach als Spiegel einer Gesellschaft verstanden werden, denn in der Art und Weise, wie eine Gesellschaft über Vergangenes redet und schreibt, was sie überliefert und wie sie es tut, wird sie für sich und andere sichtbar.

In „Hochphasen" der Mythisierung Luises - und dazu gehört die Zeit um 1800 - können Bilder und Texte über die Königin und ihre Rezeption deshalb von der Identität, den zeitgenössischen Diskursen und dem Wertbewußtsein der jeweiligen Gesellschaft Zeugnis ablegen. Die Verwandlung Luises von der Monarchin zur prototypischen Bürgerin kann somit als Indikator für den gesellschaftlichen Wandel Preußens an der Schwelle zur Moderne gelesen werden.

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1. Stationen des Mythos

Im Leben wie im Nachleben Luises von Preußen lassen sich verschiedene mythenträchtige Elemente, nachfolgend als Stationen bezeichnet, herauskristallisieren, die - in mehrfach modifizierter Form - das Bild der preußischen Königin teilweise bis in die Gegenwart bestimmen.

Nachdrückliche Betonung findet in allen Darstellungen, die sich mit Luise beschäftigten und beschäftigen, ihr Aufwachsen in quasi-bürgerlichen Verhältnissen, ihr volksnaher Charakter und ihre sittlich-moralische Integrität. Exemplifiziert werden diese Eigenschaften durch die Darstellung ihrer Besuche bei Goethes Mutter (1790/92), wo die zukünftige Monarchin am Leben des prototypischen bildungsbürgerlichen Haushalts partizipiert, indem sie dieselben Speisen verkostet und dieselben Bücher rezipiert wie die Geheimratsfamilie.

Bürgerlich erscheint auch das Motiv, das Luise und den preußischen Kronprinzen zusammenführt: Zeitgenössische Darstellungen sprechen von Liebe auf den ersten Blick, ein Motiv, das sich von tra-

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ditionellen monarchischen Eheschließungsmotiven jener Zeit (Untermauerung politischer Bündnisse, territoriale Expansion, Sicherung der dynastischen Erbnachfolge) positiv abhebt.

Die positiv konnotierte Bürgerlichkeit kommt ebenfalls beim Einzug in Berlin als Kronprinzessin im Dezember 1793 zum Ausdruck, als Luise entgegen aller höfischen Etikette ein kleines Mädchen hochhebt und küßt. Höfische Etikette, das implizieren die zeitgenössischen Darstellungen, steht für das Alte, das, was sich überholt hat, der Etikettenverstoß hingegen suggeriert Emotionalität, Lebendigkeit, weist in die Zukunft, die dem Bürgertum zu gehören scheint. Am Verhalten der Königin wird gesellschaftlicher Wandel dokumentiert und legitimiert.

Die Verbindung der „bürgerlichen" Kronprinzessin Luise mit dem zurückhaltenden, nahezu „biedermeierlichen" Lebensstil des Kronprinzen ließ deren Ehe schon früh als positives Gegenstück zur verkommenen Hof- und Lebenshaltung Friedrich Wilhelms II. erscheinen.

Protestantische Sparsamkeit und ein Leben in bürgerlicher Innerlichkeit einerseits, ein allzeit offenes Ohr für die Belange des Volkes andererseits sind die Hauptmerkmale des Tugendenkatalogs, mit dem das Leben der Kronprinzessin, die 1797 mit dem Tod Friedrich Wilhelms II. zur Königin von Preußen wurde, immer wieder gekennzeichnet wird. Mit einer solchen Königin vermochte sich das Bürgertum zu identifizieren, nur eine bürgerliche Monarchin konnte in der Zeit des gesellschaftlichen und politischen Wandels, die mit der Französischen Revolution begann, Aushängeschild der preußischen Monarchie sein.

Nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 wird das Bild Luises um ein weiteres Element ergänzt - das des Leidens; Luise wird zur „Leidensgenossin" ihres Volkes stilisiert, deren größter Trost auf der Flucht vor den Franzosen Goethes „Lied vom Harfner" wird („Wer nie sein Brot mit Tränen aß..."). Erneut wird so die Verbindung zum Bildungsbürger Goethe hergestellt.

Diejenige Tat aber, die der Nachwelt wohl auch aufgrund bildlicher Darstellungen am eindringlichsten in Erinnerung blieb, die erfolglose Unterredung Luises mit Napoleon am 6. Juli 1807 angesichts der militärischen Niederlage Preußens, war den Zeitgenossen im Gegensatz zu anderen Mitteilungen der flüchtenden Königin verborgen,

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vielleicht, weil in jener Zeit unmittelbare Verhandlungserfolge mehr zählten als der später aus der Unterredung abgelesene heroische Opferwille Luises.

Wichtig für den Mythos um Luise wurde weiterhin ein Brief Luises an den Vater aus dem Jahr 1808, in dem sie davon spricht, daß Preußen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen eingeschlafen sei [Diesen Brief findet man bezeichnenderweise nicht in der Briefsammlung Paul Bailleus von 1900, der die schriftliche Korrespondenz von König Friedrich Wilhelm III. und Luise überliefert, sondern auszugsweise in der Zitatsammlung von Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, 31. Aufl., durchges. v. Alfred Grunow, Berlin 1964, S. 679.]; Luise wurde nach 1808 für Preußen mehr und mehr zum Sinnbild des Erwachens aus diesem Schlaf. Bereits in diesen Jahren wurde sie durch bildende Kunst und Dichtung religiös verklärt, eine Tendenz, die sich durch ihren frühen Tod im Jahr 1810 verstärkte und dazu führte, daß die bürgerlichen, „modernen" Züge des Luisen-Mythos nach und nach durch religiöse, apolitische, schließlich konservativ zu bezeichnende Wertvorstellungen überlagert wurden.

Neben Literatur, Kunst und Musik als Konservatoren der lebenden Luise entstanden nach ihrem Tod verschiedene „Institutionalisierungsformen" des Mythos, so 1811 die „Königin-Luise-Stiftung", die preußische Erzieherinnen nach dem Vorbild der Königin heranbilden sollte, am 10.3.1813 - Luises Geburtstag - das „Eiserne Kreuz" als Ansporn des Heeres durch die „preußische Jeanne d’Arc", und 1814 schließlich die Stiftung des Luisenordens, der „für glänzende Beweise der Vaterlandsliebe und Menschenfreundlichkeit" [Artikel „Luisenorden", in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 12, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1906, S. 836.] an Frauen verliehen wurde, die im Dienst des Krieges tätig waren.

Die Wirkung Luises ging jedoch über ihre Identifikationskraft in den Befreiungskriegen hinaus: Die Tatsache, daß Wilhelm I. vor seinem Krieg gegen Napoleon III. am 19.7.1870 am Sarg seiner Mutter kniete und den Neffen Napoleons I. im Anschluß daran besiegte, bevor er ein Jahr später deutscher Kaiser wurde, brachte den Luisen-Mythos wirkungsvoll und ohne Bruch mit dem Reichsgründungsmythos in Verbindung, womit sich einmal mehr die Funktionalisierungsfähigkeit wie auch die ahistorische Perspektive des Mythos offenbart,

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denn die preußisch-konservative Geschichtsschreibung vermochte sich des Luisen-Mythos Ende des 19. Jahrhunderts ebenso zu bedienen wie die liberalen Historiker Anfang des 19. Jahrhunderts, deren politische Zielsetzung, die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie, sich in ihren Bildern von der bürgerlichen Königin widerspiegelt.

    Preußische Madonna oder bürgerliche Monarchin?
    Der Mythos als Indikator gesellschaftlichen Wandels

Historiographische Darstellungen, literarische Texte, Denkmäler, Bilder und Rituale stellen Elemente der objektivierten Kultur einer Gesellschaft dar. In ihnen ist nicht die Vergangenheit als solche aufbewahrt, sondern nur das, was bestimmte Gesellschaften bestimmter Epochen für bewahrens- und tradierenswert hielten. Das heißt auch, daß das Bild, das unsere Vorstellungen von der preußischen Königin Luise dominiert, nicht das Bild ist, das Zeitgenossen von ihr zeichneten. An dieser Stelle soll deshalb der Weg des Luisen-Mythos von seiner konservativen Ausprägung, die er Ende des 19. Jahrhunderts enthielt und die bis in die Mitte dieses Jahrhunderts das Bild der preußischen Königin bestimmte, bis zu seiner Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter der Leitfrage zurückverfolgt werden, ob und in welcher Form an den Elementen des Mythos gesellschaftlicher Wandel ablesbar ist.

1876 hielt Heinrich von Treitschke anläßlich des 100. Geburtstags Luises in Berlin eine Rede [Heinrich von Treitschke, Königin Luise. Vortrag, gehalten am 10. 3. 1876 im Kaisersaale des Berliner Rathauses. In: Ders., Historische und politische Aufsätze. Bd. 4: Biograph. u. histor. Abhandlungen, Leipzig 1897, S. 310-324. Die folgenden Zitate sind diesem Aufsatz entnommen .], die aufschlußreich ist für das Bild Luises, das das späte 19. wie auch das 20. Jahrhundert von ihr zeichnet, ein Bild, das uns sicherlich am vertrautesten ist. Luise, so Treitschke, lebe in der Erinnerung der Nachgeborenen fort wie eine „Lichtgestalt", sie „schwebte" in den Befreiungskriegen engelgleich voran. An der Wiedergabe ihres Lebens, wie es volkstümlich überliefert ist, scheint Treitschke zu scheitern; er lobt die historische Wissenschaft, weil nur sie es erlaube, die Begrenztheit auch edler Menschen, die Bedingungen ihres Tuns und den Entwicklungsprozeß ihres Daseins

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zu erkennen. Luise nun sei in ihrer Passivität ein Idealbild der preußischen Frau: „Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, daß sich so wenig sagen läßt von ihren Thaten." Wer nun aber glaubt, Treitschke zeichne ein authentisches Bild von Luise, ihre menschlichen Grenzen und die Bedingungen und Entwicklung ihres Lebens beachtend, der irrt. Eben weil sich so wenig sagen läßt von ihren Taten, weil die wenigen Dokumente, die Luise hinterließ, nur ein „mattes Bild ihres Wesens" abgeben, das Geheimnis jedoch bei Luise in ihrer Persönlichkeit liege, muß Treitschke zurückgreifen auf den „Widerschein", den sie bei ihren Zeitgenossen hervorrief. Diesen Widerschein, den sich verfestigenden Mythos der Königin Luise, rezitiert Treitschke im Anschluß: Vom Besuch bei Goethes Mutter über den Einzug am lasterhaften Hof, ihre Rolle als Gattin und Mutter, ihr Schicksal auf der Flucht, ihre Unterredung mit Napoleon bis hin zu ihrem frühen Tod läßt Treitschke keine Station des mythisierten Lebens der Königin aus. Der Geschichtswissenschaft schreibt Treitschke vollends die Rolle eines Mythenüberlieferers zu, wenn er ihr abschließend die Aufgabe zuweist, zu zeigen, „daß der Eltern Segen den Kindern Häuser baut", indem sie das Fortwirken des Vergangenen in die Gegenwart zeigt. Auch Treitschke betont den volksnahen Zug der Persönlichkeit Luises. Mit ihr entstand nach seinen Worten zwischen Königshaus und Volk ein „menschliche[s]Verhältniß, das die Leidenschaften der Parteien nie zerstören konnten". 1876, fünf Jahre nach der Reichsgründung, bindet Treitschke den Luisen-Mythos an den Gründungsmythos an, wenn er von der Stärkung Wilhelms I. am Grab seiner Mutter und seinem anschließenden Sieg über Frankreich spricht.

Wenn Treitschke auch das Verdienst zukommt, den Entwicklungscharakter von Luises Leben darzustellen und seine Ausführungen mit Quellen zu belegen, so reproduziert er doch Luises Leben entlang eines sich allmählich verfestigenden Kanons. Von der hohen Warte der Historiographie aus wird das bestätigt, was Lexika und Schulbücher als wirksame Träger des Luisen-Mythos über die preußische Königin verbreiten. Mit dem Anspruch der Lexika und Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts, Wissen an breite Bevölkerungsteile zu vermitteln, ging die Popularisierung des Luisen-Mythos einher, denn nicht die Vermittlung objektiven Wissens - die eigentliche Aufgabe von Lexika und Enzyklopädien -, sondern die Präsentation des kanoni-

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sierten Wissens von Luise steht im Vordergrund unzähliger Artikel. So unterbreitet ein „Conversationslexicon" von 1834 der Leserschaft bereits den Topos von der frühvollendeten, verklärten Luise: „Früh schon war sie gewöhnt, alles Sichtbare, Irdische, an ein Unsichtbares, Höheres, und das Endliche an das Unendliche zu knüpfen." Luise wird als „Muster aller echten Frauen" und „Landesmutter aller Preußen" [Neues Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, 3. Original-Aufl., Köln 1834, Bd. 7, S. 108.] bezeichnet, der Mythos der vorbildhaften Gattin, Königin und Mutter wird lexikalisch fixiert. Zwei Jahre später bezeichnet das „Damen Conversations Lexikon" Luise als „Engel des Friedens und der Milde", als „Mutter aller ihrer Unterthanen" und „glänzendes Beispiel" für die Kämpfer der Befreiungskriege. [Damen Conversations Lexicon. Hg. im Verein mit Gelehrten u. Schriftstellerinnen v. C. Herloßsohn, Bd. 6, Adorf 1836; dass. (Teildr.): Neu vorgest. u. m. e. Nachrede vers. v. Peter Kaeding, Berlin/DDR 1987, S. 146-152]

Neben Enzyklopädien und Lexika war vor allem die Schule daran beteiligt, das Wissen über Luise zu verbreiten und zu tradieren - damit wirkte sie entscheidend an der ständigen Reproduktion des Mythos und seiner Funktionalisierung mit. Vor allem auf dem Gebiet des niederen Schulwesens findet sich schon früh der Nachweis für ein zweckgerichtetes Anknüpfen an den Luisen-Mythos. Bereits 1832 finden sich im „Handbuch für Schüler in Land- und Stadtschulen zum Gebrauch beim Rechnen" Übungsbeispiele zur Zeitberechnung, die Daten aus Luises Leben (Geburt, Heirat mit dem Landesvater, Tod) als Grundlage mathematischer Übungen verwenden. [D. T. Kopf, Handbuch für Schüler in Stadt- und Landschulen zum Gebrauch beim Rechnen, Berlin 1832 .] Ausgehend von einem didaktischen Konzept, das Realien aus dem Unterricht verbannte, den Stoff auf das Notwendigste konzentrierte und den Religions- und Vaterlandsunterricht in den Mittelpunkt stellte, fand Luise Eingang in Sprach-, Literatur- und „vaterländischen" Unterricht, ebenso in Geographie und Geschichte. So werden in den „Drei Preußischen Regulativen vom 1., 2. und 3. October 1854", auf dem Höhepunkt der Reaktionsperiode, eine Hervorhebung vaterländischer Gedenk- und Erinnerungstage und die Behandlung patriotischer Poesie im Unterricht gefordert, Kenntnisse aus der Geschichte sollen dadurch vermittelt werden, daß die Schüler „kurze, großentheils anek-

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dotenmäßige Geschichten von Luther, Friedrich dem Großen, seinen Generalen und Soldaten, Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise, den Befreiungskriegen und Friedrich Wilhelm IV. kennen und erzählen lernen." [Ferdinand Stiehl, Aktenstücke zur Geschichte und zum Verständnis der drei Preußischen Regulativen vom 1., 2. und 3. October 1854, Berlin 1855, S. 78-79.] Die Lehrer, so schreibt die Regulative weiter vor, sollen sich auch in privater Lektüre mit Erzählungen und Biographien bestimmter Schriftsteller beschäftigen, die zu den Biographen Luises zählen; Luise wurde zur Pflichtlektüre der Lehrenden wie der Lernenden.

Die vaterländischen Gedenk- und Erinnerungstage boten eine weitere Gelegenheit der schulischen Aufwärmung des Luisen-Mythos. So bestimmte die Schul-Administration anläßlich des 100. Geburtstags der Königin, „daß am 10. d. M. in allen öffentlichen und Privat-Mädchenschulen der Unterricht ausfallen und an dessen Stelle eine Feier treten soll, in welcher der Geschichtslehrer oder der Dirigent der Anstalt den Schülerinnen in freiem Vortrage das Lebensbild der erlauchten Frau vorführt, welche in den Zeiten des tiefsten Leidens so opferfreudig an der Erhebung des Volkes mitgearbeitet und allen kommenden Geschlechtern ein hohes Beispiel gegeben hat." Besonders fleißige Schülerinnen sollte mit Lebensbildern der Königin Luise und anderen Schriften der Befreiungskriege belohnt werden. [K. Schneider/E. V.Bremen, Das Volksschulwesen im preußischen Staate in systematischer Zusammenstellung der auf seine innere Einrichtung und seine Rechtsverhältnisse, sowie auf seine Leistung und Beaufsichtigung bezügl. Gesetze und Verordnungen, Erster Band, Berlin 1886, S. 476.]

Der Luisen-Mythos erweist sich in Schulbüchern, Instruktionen, Regulativen und Gedenktagen als im Höchstmaß institutionalisiert; die betrachteten Quellen zeugen vom großen Interesse des preußischen Staats wie des neuen Deutschen Reiches an der Aufrechterhaltung des Bildes von der patriotisch gesinnten, aufopferungsvollen Königin, das eine integrierende und einheitsstiftende Funktion besaß. Die didaktische Vermittlung dieses Bildes der Königin rettete den Mythos in institutionalisierter Bahn in die nächste Generation hinüber und trug zur Langlebigkeit bestimmter „Wissens"ausschnitte über die preußische Geschichte wesentlich bei.

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Wie die Historiographen bieten auch die Lexika, Enzyklopädien und Schulbücher des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts keine objektive Darstellung des Lebens der preußischen Königin, sie überliefern vielmehr kanonisierte Texte eines mythisierten Lebens, denen qua Medium die Aura der Authentizität zukommt. Kennzeichnend für diese Texte ist die Entindividualisierung Luises, die mit einer apotheotischen Erhöhung einhergeht. In der bildenden Kunst finden sich zahlreiche Beispiele für diese Entwicklung: Auffällig häufig gehen hier Attribute, die in Lebenszeitdarstellungen für Luise charakteristisch waren, wie etwa Schals und Halstücher, auf Kosten allgemeiner Attribute, die einen traditionell katholischen Heiligen- und Devotionalienkult kennzeichnen, verloren. Bilder tauchen auf, in denen dem Sohn Friedrich Wilhelms III., Prinz Karl, seine Mutter Luise im Traum - umrahmt von Engeln - in einer Wolke erscheint, andere Gemälde und Kupferstiche haben die „Verklärung der Königin Luise", die von Engeln umrahmte Himmelfahrt der heiligenscheinbekränzten Königin, zum Thema.

Was sich in diesen bildlichen Darstellungen andeutet, nämlich die Verknüpfung der Geschichte Luises mit der Marias, manifestiert sich noch deutlicher in der Totenmaske der Königin und den von dieser Maske inspirierten Gemälden. Erinnern schon der Faltenwurf der Kopfbedeckung Luises wie auch die geschlossenenen Augen der Totenmaske an Madonnendarstellungen, so wird die Ähnlichkeit noch deutlicher, wenn man das Ölgemälde Schadows von „Königin Luise auf dem Totenbett" betrachtet: Der Kopf Luises neigt sich mütterlich nach unten, und die Kopfbedeckung läßt, wie bei einer Nonnentracht, nur noch einen kleinen Teil des Gesichts erkennen, in andächtiger Pose kreuzt die derart verklärte Luise ihre Hände über der Brust.

Die Verknüpfung des Luisen-Mythos mit Elementen, die für die darstellende Marienverehrung des Katholizismus typisch sind, füllt eine der Leerstellen des Protestantismus, das Fehlen einer weiblichen Anbetungsfigur, wirksam auf - Luise wird zum Symbol für höchste Werte, nämlich dem Irdischen entrückte Schönheit, Frömmigkeit, Reinheit und Opferbereitschaft, und an der Vermittlung dieser Werte war die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts maßgeblich beteiligt. Luise als preußische Madonna wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Integrationsfigur für das neue kleindeutsche Reich, dessen rasante wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung die verfas-

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sungspolitische Grundkonstellation tendenziell bedrohte - die konservative Funktionalisierung des Luisen-Mythos sollte den sozialen Wandel eindämmen und kanalisieren. Damit wird dem Mythos, wie nun gezeigt werden soll, am Ende des 19. Jahrhunderts eine völlig entgegengesetzte Funktion zugewiesen als zu Beginn.

Der Historiker und Zeitgenosse Königin Luises, Carl Ludwig Rautenberg, veröffentlichte bereits 1837 eine Biographie der Königin mit dem Titel „Das Leben der Königin Luise von Preußen Luise Auguste Wilhelmine Amalie". [Carl Rautenberg, Das Leben der Königin von Preußen Luise Auguste Wilhelmine Amalie, Leer 1977 (ND v. 1837). Die folgenden Zitate sind diesem Werk entnommen.]

Rautenberg erzählt von Luises quasi-bürgerlicher Kindheit und Jugend, von Verlobung und Heirat, nicht ohne schon hier Luises Großherzigkeit zu unterstreichen. Bereits in ihrer Kindheit in Darmstadt, so heißt es, habe sie Bekanntschaft mit Armen und Leidenden gemacht, zur Vermählung in Berlin verzichtete sie auf die feierliche Beleuchtung, um die ersparte Summe für Witwen und Waisen zu spenden. An Luise als Kronprinzessin wie als Königin erscheint Rautenberg besonders ihre Bürgerlichkeit betonenswert: „[Luise]fand im stillen Hause ihr wahres, schöneres und dauerndes Glück und gab dem preußischen Volke den Sinn für Bürgertugend und Familienleben", als Königin „fuhr [sie]fort, das einfache Leben der Häuslichkeit zu führen." Mythisierend mutet die Beschreibung an, die Rautenberg von der auf der Huldigungsreise befindlichen Königin gibt, hier ließ ihre „königliche Gestalt und Schönheit, ihre gottergebene Güte, ihr an irdische Verklärung grenzendes Wohlwollen Erinnerungen zurück, welche von Geschlecht zu Geschlecht weiter verkündet werden." Die Gestalt Luises, das impliziert dieser Ausspruch, trug schon zu Lebzeiten Züge des Himmlischen und hinterließ einen auf alle nachfolgenden Generationen wirkenden Eindruck.

So wurden auch anläßlich des Besuches Luises zum Zweck ihrer Verewigung verschiedene Stätten nach ihr benannt, so erhielt ein Teil des Karlsberges den Namen „Luisenhain", die Kölnische Vorstadt in Berlin wurde 1802 „Luisenstadt" genannt, in Memel existierte seit einem Besuch Luises eine „Luisenstraße". Den 1806 zwischen Preußen und Frankreich ausgebrochenen Krieg, das betont Rautenberg, habe Luise weder gewünscht noch veranlaßt: „Früh hatte sie die

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Schranken eingesehen, welche sowohl die Natur als die menschlichen Verfassungen ihrem Geschlecht angewiesen haben." Luises Passivität wird mit ihrer Weiblichkeit (Natur) und der Rolle der Frau innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (menschliche Verfassungen) erklärt.

Bereits Rautenberg erwähnt das „Lied vom Harfner", das die „fromme Dulderin" Luise auf der Flucht in ihrem Tagebuch notiert. Ihre Fehleinschätzung der Unterredung mit Napoleon in Tilsit wird nicht auf mangelndes diplomatisches Geschick, sondern Luises guten Charakter zurückgeführt: „Allein die Königin hatte durch die Erhabenheit und Reinheit ihres Charakters das Recht zu glauben, daß ihr Anblick allein ihren Feind beschämen würde und ihm das Gefühl geben müsse, wie sehr er sie verkannt habe." Auch nach dem Frieden von Tilsit blieb Luise nach Rautenberg die „fromme Dulderin", die auf den „Gang der Weltgeschichte" und die „Zeit zum Reifen" verwies. Sie beurteilte Frankreich nicht nach politisch-militärischen, sondern moralischen Kategorien, indem sie erkannte, „daß Frankreich, es möge eine Regierung haben, welche es wolle, in seinem Verhältnis gegen Deutschland sich nie zu dem Begriff von deutscher Treue und deutschem Glauben emporschwingen wird." So wird auch bei Rautenberg nicht Luises politisches, sondern ihr karitatives Engagement, ihr Mitleiden mit dem Volk hervorgehoben: Die Gründung der Luisenstiftung für die Unterbringung von Kindern, die im Krieg von ihren alleinstehenden Müttern verlassen wurden, findet ebenso Erwähnung wie Luises vermeintlicher Kummer um die Not ihres Landes. Wegen der Abzahlung der Kontributionen nämlich „durchweinte [Luise] manche Nacht, während der Landmann ruhig in seiner Hütte schlief." Luises Krankheit erscheint denn auch weniger physisch bedingt denn als unheilbarer Seelenschmerz der aufopferungsvollen Landesmutter.

Daß diese ihre letzten niedergeschriebenen Worte auf Französisch verfaßte, muß von Rautenberg entschuldigt werden: „Dem deutschen Sinne widerstrebt es, daß die edle Frau und Fürstin ihre heiligsten Gefühle in einer fremden, und nicht in der kräftigen tiefgemüthlichen Sprache ihres Volkes niederschrieb. Doch der alte jetzt allmählich verschwindende Wahn hatte auch noch auf ihre Jugend gewirkt, und die lange Gewohnheit der Jugend beherrschte sie noch im reifen Alter." Abschließend unterstellt Rautenberg der verstorbenen Luise eine emphatische Haltung über die Gegenwart: „In welcher Glorie der

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Freude, des Triumphes würde Luise jetzt auftreten, jetzt, wo Preußen ein Palladium der Deutschen geworden ist!"

Zwanzig Jahre nach Rautenberg veröffentlichte Werner Hahn sein Werk „Friedrich Wilhelm III. und Luise. König und Königin von Preußen" [Werner Hahn, Friedrich Wilhelm III. und Luise. König und Königin von Preußen, 2. Aufl., Berlin 1860. Die folgenden Zitate sind diesem Werk entnommen.], eine Sammlung von zeitgenössischen Anekdoten um das Königspaar, die die einzelnen Stationen des Luisen-Mythos deutlich hervortreten läßt: Die einleitende Schilderung des Aussehens und Charakters Luises projiziert ihr späteres Schicksal in ihre Jugend, wodurch Luises Leben innere Geschlossenheit erhält: „Die Prinzessin Luise war jung und schön. Ihr Wuchs war hoch und stattlich, ihr Haar blond, ihr Wesen fein und zart. [...] Mit Heiterkeit umfaßte sie das Leben, in bescheidener Hoffnung blickte sie der Zukunft ihres Schicksales entgegen." Daß Goethe Luise und ihre Schwester Friederike im Hauptquartier der preußischen Armee in Bodenheim als „himmlische Gestalten" bezeichnete, wird ebenso angeführt wie der beim Einzug in Berlin im Dezember 1793 begangene, positiv bewertete Etiketteverstoß durch das Küssen eines kleinen Mädchens - für Hahn Indikatoren für die Verbürgerlichung der Monarchie: „Man hatte im Kuß der künftigen Königin auf den Mund eines unschuldigen Bürgermädchens das menschliche Herz, die natürlich schöne Empfindung, den vorurtheilsfreien Sinn erkannt." Ebenso gegen alle Etikette verstoßen Spazierfahrten auf Leiterwagen statt auf der königlichen Staats-Equipage, Tänze unter Bauern auf dem Gut Paretz oder Verkehrungen der höfischen Rangordnung. Luise erscheint von ausgesuchter Bescheidenheit: „Niemals, wo es die Würde des Königthums nicht besonders erheischte, verwandte sie für sich mehr, als was auch bescheideneren Ansprüchen einer minder hohen Stellung schon genügt hätte." So verteidigt sie denn auch auf einem Ball eine Nichtadlige gegen den Spott des Adels mit dem Verweis auf „Herzensglück und Tugend", die mehr als alle Standeszugehörigkeit zählten. Die Darstellung beansprucht Luise als Repräsentantin positiv gezeichneter bürgerlicher Tugenden, die sich wohltuend vom moralisch darniederliegenden, in steifer Etikette verharrenden Adel abhebt. „Sie schienen wie schlichte Bürgersleute", heißt es zum Leben des Königspaares nach der Niederlage von 1806/07. Wie Rautenberg, so schreibt auch

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Hahn Luise kein Engagement im Krieg gegen Frankreich zu: Luise habe keinen freien Willen in politischen Entschlüssen, sie passe sich Friedrich Wilhelm III. an. Hahn zeichnet Luise jedoch patriotischer als Rautenberg, wenn er die Worte anführt, die sie nach der Schlacht von Jena und Auerstedt zu ihren Söhnen gesagt haben soll: „Vielleicht läßt Preußens Schutzgeist sich auf euch nieder. Befreit dann euer Volk von dem Vorwurf der Erniedrigung, unter dem es jetzt schmachtet! Fordert die Ehre dann von den Franzosen zurück [...]."

Auch Hahn erwähnt die Aufzeichnung des „Liedes vom Harfner", die Unterredung mit Napoleon und ihre Worte an den Vater, nach denen Preußen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen eingeschlafen sei. Luise verharrt in Passivität, jedoch im Glauben an eine sittliche Erneuerung: „Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht. Deshalb bin ich in der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird." So zitiert Hahn aus Luises politischem Glaubensbekenntnis von 1808.

Das Bild, das zeitgenössische Historiker wie Rautenberg und Hahn von Luise zeichnen, entspricht den bürgerlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von der Frau: Milde, Nächstenliebe, Passivität, Leidensbereitschaft, Familiensinn, Mütterlichkeit, verallgemeinert auf die Untertanen, und die Akzeptanz ihrer vermeintlichen intellektuellen Beschränktheit kennzeichnen ein Frauenbild, wie es auch Novalis (s.u.) antizipierte und man es auch bei Friedrich Schiller, etwa in seinem Gedicht „Die Glocke", findet. Rautenberg projiziert in seine Biographie der Königin explizit bürgerliche Charakter- und Verhaltenszüge und hebt sie für seine Leserinnen und Leser als beispielhaft heraus. Luise lebt und handelt anders als ihre Vorgängerinnen im Amt der Königin, und dieses Anderssein erhält im Zuge der historischen Umbruchssituation positive Konnotation, es weist in eine bürgerliche Zukunft, in der König und Königin als Erste unter Gleichen keine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit mehr darstellen.

Der Topos der bürgerlichen Königin findet sich nicht nur in der zeitgenössischen Historiographie - auch Literatur und bildende Kunst partizipierten gleichrangig am Konstrukt der bürgerlichen Monarchie. Motiviert durch die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III. und Luises im Jahr 1797 sowie durch die Kenntnis einer neuen Zeitschrift, der „Jahrbücher der preußischen Monarchie unter der Regierung von

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Friedrich Wilhelm III.", die Kabinettsordres, Anekdoten aus dem Leben des Königspaares sowie Huldigungen in Form von Aufsätzen und Gedichten beinhaltete, entschloß sich Novalis zur Niederschrift von „Glauben und Liebe", einem Fragment, das zur Grundlage romantischer Staatsauffassung wurde. [Novalis, Schriften Bd. 2: Das philosophische Werk, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1965, S. 475-498. Die folgenden Zitate sind diesem Fragment entnommen, dessen Entstehungsgeschichte Samuel in der Einleitung näher erläutert.] In diesem Fragment spricht Novalis davon, daß sich in seiner Zeit „Wunder der Transsubstantiation" ereigneten, der Hof verwandle sich in eine Familie, der Thron in ein Heiligtum, die königliche Vermählung in einen „ewigen Herzensbund". Die Begriffe Familie, Heiligtum und Herzensbund nun dienen der Mythisierung des Herrschaftsstils des jungen Königspaares; die Monarchie wird ihrer offiziellen Dimension enthoben und zur bürgerlichen Privatsphäre erklärt, ja verklärt. Diese Mythisierung trägt insofern politischen Charakter, als sie sich gegen die sittenlose Lebens- und Hofhaltung des Vorgängers Friedrich Wilhelms III. wendet und den Herrschaftsstil der bürgerlichen Königin als zukunftweisend deklariert. Novalis schlägt vor, das Bild der Königin als Auszeichnung für gute Taten zu verleihen, eine Vorwegnahme des späteren Luisenordens. Der Aufgabenkreis einer Königin, so Novalis, sei der häusliche: Kindererziehung, Hausaufsicht, Krankenpflege, Hausgestaltung und Festvorbereitung, allesamt Aufgaben, denen Luise nach Novalis ebenso entspricht wie seiner Forderung, daß die Königin als Ehefrau in Sitte und Kleidung ein Vorbild zu sein habe. Als Urbild aller bürgerlichen Frauen und Mütter verdiene Luise einen Platz in jedem Wohnzimmer, als Identifikationsobjekt könne sie die Rolle der Götter übernehmen. Auch der Hof solle ein Vorbild, eine „Insel der Sittlichkeit", werden, auf der die Frauen nach dem Idealbild der Königin heranreifen könnten.

Novalis erstrebte mit seiner programmatischen Schrift eine Identifizierung der preußischen Familie mit dem Staat in Form des Königtums. Diese Identifizierung ließ eine Revolution, wie sie sich in Frankreich ereignet hatte, überflüssig erscheinen: Der absolute König erhielt in seinen Schriften eine mit bürgerlichen Attributen versehene Frau und enthob sich somit der unmoralisch-absolutistischen Sphäre des Hofes. Friedrich Wilhelm III. jedoch lehnte die Fragmente des

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Novalis ab, nicht zuletzt deshalb, weil er die von Tropen gesättigte Sprache nicht verstand und ihm die Geistesgröße des Novalis verdächtig erschien; dieser plädierte u. a. für eine Monarchie, die auf „republikanischer Grundlage" basierte, der dritte Teil der Fragmente fiel deshalb der Zensur zum Opfer.

Neben Historiographie und Literatur hatte auch die darstellende Kunst des 19. Jahrhunderts nicht unerheblichen Anteil an der Ausbildung und Vermittlung des Luisen-Mythos, wovon man sich noch heute bei einem Besuch des Schlosses Charlottenburg, das dem Königspaar als Wohnsitz in Berlin diente, überzeugen kann, werden doch hier Statuen, Brustbilder, Kupferstiche, Büsten, Tassen u.ä. aufbewahrt, deren Entstehung und Gestalt sehr viel über Identität, Wertgebung und Intentionen der Künstler wie der Adressaten verrät.

Wohl am bekanntesten, weil am häufigsten abgebildet, ist die Schadowsche Prinzessinnengruppe, die die Kronprinzessin Luise und ihre Schwester Friederike von Preußen zeigt. Schadow präsentierte das Denkmal 1795 in Gips, 1797 in Marmor, die Berliner Porzellanmanufaktur fertigte 1796 eine ca. 50 cm hohe Nachbildung in Bisquitporzellan an. Schadows Werk fällt aus dem Rahmen gängiger Herrscherdarstellungen, vermittelt es doch mit der Umarmung zweier Frauen nichts als Jugend, Schönheit und Anmut; keinerlei Herrscherattribute tauchen auf. Freundschaft und Emotionalität sind die Attribute, mit denen man diese Denkmalsgruppe kennzeichnen kann, beides Begriffe, die in der Epoche der Empfindsamkeit und der Frühromantik eine große Rolle spielten und vom Bildungsbürgertum kultiviert wurden.

Ob es nun der Mangel an Herrscherattributen war, der unstete Lebenswandel von Luises Schwester Friederike oder aber das neue, von der Französischen Revolution beeinflußte Bild von Weiblichkeit (die Statue zeigt die Prinzessinnen in schulterfreien, „griechischen" Gewändern, die im Gegensatz zur absolutistischen Kleidertracht weich, körpernah und wesentlich bewegungsfreundlicher erscheint) - Schadows Werk blieb 100 Jahre lang verborgen, wurde erst 1893 im Berliner Stadtschloß aufgestellt und als Meisterwerk des Frühklassizismus gewürdigt.

Schreitet man den Weg des Luisen-Mythos von seiner konservativen Ausprägung, die die Darstellungen der preußischen Königin bis in dieses Jahrhundert hinein beherrscht, zu seiner Entstehung Anfang

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des 19. Jahrhunderts zurück, so offenbart sich, daß der Mythos um die Königin Luise, der am Ende des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff von Bemühungen um Bewahrung und Stabilisierung überkommener Herrschaftsstrukturen in Preußen-Deutschland wurde, um 1800 als Indikator für gesellschaftlichen Wandel und den Aufbruch des Bürgertums in die Moderne gelesen werden konnte. Dies soll abschließend anhand der epochenspezifischen Funktionalisierung des Mythos zusammenfassend erläutert werden.

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2. Die Funktionalisierung des Mythos

Die Ausbildung und Tradierung von Mythen geschieht nicht zufällig und unintendiert, sondern ist ein Vorgang, an dem die jeweilige mythenbildende Gesellschaftsschicht maßgeblich beteiligt ist, denn sie entscheidet darüber, was in welcher Form der Welt und Nachwelt überliefert werden soll - Mythen sind somit Funktionsträger gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Betrachtet man die Stationen des Luisen-Mythos und die jeweilige Schwerpunktsetzung, die verschiedene Gesellschaftsschichten zu verschiedenen Zeiten innerhalb des Mythos vornahmen, so tritt die Funktionalisierung des mythisierten Lebens Luises sehr deutlich hervor.

Verbürgerlichung der Monarchie

In Biographien des 19. Jahrhunderts wie in literarischen und künstlerischen Darstellungen wird Luise von Preußen auffällig häufig mit Topoi der Bürgerlichkeit in Verbindung gebracht: Die Tochter eines einfachen Vaters mit vielen Kindern, die eine einfache, aber zutiefst religiöse Erziehung erfuhr, wird zum Gegenbild der heruntergekommenen absolutistischen Hofgesellschaft stilisiert, die der sittenlosen Welt des Hofes aufgrund ihrer weiblichen Tugend und der strengen sittlichen Führung ihres Gatten standhält. Gemäß bürgerlichem Ideal bevorzugt die Luise der bürgerlichen Biographien kein luxuriöses Schloß, sondern hält sich am liebsten auf dem Landgut Paretz in engem Kontakt zur dörflichen Bevölkerung auf.

Wiederholte Anspielungen auf Etiketteverstöße wie auf Luises Vorliebe für schlichte Kleidung konstituieren den Topos der Natür

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lichkeit und betonen den Vorrang innerer Werte vor äußerem Prunk, wie er für das protestantische Bürgertum konstitutiv ist.

Der Mythos von der preußischen Königin in bürgerlichen Wohnstätten und bürgerlichem Gewand, deren innere Werte ebenso wie ihr Schönheitsideal mit denen des Bürgertums übereinstimmen, vermochte in Zeiten des Umbruchs, wie sie durch die Französische Revolution eingeleitet wurden, integrierende Kraft auszuüben: Über Luise wurde die königliche Familie zur bürgerlichen Familie, deren Tugenden- und Wertekodex mit dem der Untertanen übereinstimmte. Eine Monarchie aber, die nach den Maßstäben des Bürgertums lebte und regierte, konnte dem Bürgertum kein Gegner im Kampf um die politische Macht sein - der Mythos der bürgerlichen Königin sicherte demnach die Kontinuität der Monarchie. Mehr noch, die Verbürgerlichung des monarchischen Lebensstils machte den Monarchen zu einem Funktionsträger der Monarchie, der sein Amt als Profession ausübte, deshalb kann man dem Mythos von der bürgerlichen Königin Luise eine politische Bedeutung bei der Durchsetzung und Legitimation der konstitutionellen Monarchie zuschreiben.

Nationale Sammlung

Die Vereinnahmung Luises für die patriotische Propaganda begann nicht erst mit der Reichsgründung, sondern läßt sich zurückführen bis hin zur Niederlage Preußens gegen Napoleon in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806. Luise tritt vor dem hungernden Volk wie vor dem gedemütigten Heer als mütterliche Landesherrin auf, die mit dem Volk, wie das Volk und für das Volk leidet - der Begriff des „Opfers" bildet eine zentrale Kategorie des Bildes, das Historiker und Künstler jener Zeit von Luise zeichnen. Stellvertretend für Preußen nimmt die Königin die französischen Kränkungen und Schmähungen auf sich und leidet.

Sinnfällig wird der Diskurs um Opfer und Leiden vor allem deshalb, weil er neben der geistigen immer mehr die physische Ebene einbezieht: Luise erkrankt im Jahr 1810 an einer Lungenentzündung und stirbt am 19. Oktober desselben Jahres im Alter von 34 Jahren.

War Luise durch ihren frühen Tod in den Augen der nationalen Historiographie und Literatur ein Opfer der napoleonischen Herrschaft, so wurden die Befreiungskriege zu einem Rachefeldzug für

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dieses Opfer stilisiert. Theodor Körner etwa vergleicht in seinem Gedicht „Vor Rauchs Büste der Königin Luise" [Theodor Körner, Vor Rauchs Büste der Königin Luise. In: Ders., Werke. Hg. v. Hans Zimmer, krit. durchges. u. erl. Ausgabe, Bd. 1, Leipzig und Wien o.J., S. 73-74.] das „Schlummern Luises" mit dem Barbarossas im Kyffhäuser, stellt also eine Teilidentität her, und läßt sein Gedicht mit dem Aufruf enden: „Dann ruft Dein Volk, dann, deutsche Frau erwache, / Ein guter Engel für die gute Sache!"

In seinem Gedicht „An die Königin Luise" [Ebd., S. 91.] (1813) bezeichnet Körner Luise, über seine bisherige Terminologie hinausgehend, als „Heilige", „verklärter Engel", die ihre „Kinder" „zur Rache mahnte". Die preußischen Untertanen werden in diesem Gedicht in die Position von Sündern manövriert, die sich nur durch ein kriegerisches Opfer rehabilitieren können. „Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache, / Luise sei das Losungswort zur Rache!" und „ein Blick auf Deine Fahne wird uns segnen", heißt es in der vorletzten bzw. letzten Strophe dieses Gedichts. Luise als Schutzgeist, Losungswort, deren Fahne wie ein Totem im Kriege vorangetragen wird, verkörpert hier das Erwachen der Kampfkraft der Nation, ihr Name macht die Rache des Volkes zu einer heiligen, von höheren Gewalten sanktionierten Vergeltung.

Der Topos der unter der Fremdherrschaft leidenden Königin, die letztendlich sich selbst zugunsten ihres Volkes opfert, wird zum Ausgangspunkt für die nationale Sammlung und Erhebung - Luises Tod markiert in Historiographie und Kunst den Ausgangspunkt für den Aufstieg Preußens, und diese Verknüpfung des frühen Todes Luises mit der nationalen Erhebung Preußens ist es, die Luise zur Märtyrerin im Dienste der Hohenzollern und schließlich zur Gründerin des Deutschen Kaiserreichs werden läßt.

Begründung des Deutschen Kaiserreichs

Daß Mythen der Zeit enthoben sind und die Stationen, aus denen sie sich konstituieren, jeglicher Kontingenz enthoben sind, zeigt sich sehr deutlich an der Verknüpfung des Luisen- mit dem Reichsgründungsmythos. In der Reihe „Deutsche Jugend- und Volksbibliothek" er-

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schien 1876 ein Buch über Luise von Preußen, in dem der Autor im Anschluß an die Darstellung des Todes der Königin 1810 und des Königs 1840 die folgenden Ausführungen macht:

„Ihr [Luises, A.d.V.]ältester Sohn, der König Friedrich Wilhelm IV., sprach im Jahr 1848: ‘Die Einheit Deutschlands liegt mir am Herzen, sie ist ein Erbtheil meiner Mutter.’ Ihr zweitältester Sohn aber, als der Neffe des alten bösen Feindes seiner Mutter auch ihn freventlich vergewaltigen und verhöhnen wollte, und gerade am 19. Juli 1870, am Sterbetag Luisens die französische Kriegserklärung in Berlin abgeben ließ, kniete, ehe er gegen den Feind auszog, am Sarge seiner Mutter in der Gruft zu Charlottenburg und erbat den Segen von oben, der ihn denn auch durch so viel Schlachten und Siege begleitet hat bis in das Schloß zu Versailles. Als er aus diesem ruhmgekrönt und doch nur Gott die Ehre gebend als deutscher Kaiser in das geeinte deutsche Vaterland heimgekehrt und am 17. März 1871 in Berlin eingezogen war und wieder vor dem Bilde seiner Mutter in Charlottenburg stand, - wie war ‘durch Gottes Gnade’ alles erfüllt, was sie gehofft und mehr als das!" [Heinrich Merz, Luise. Königin von Preußen. Stuttgart 1876 (Deutsche Jugend- und Volksbibliothek 58), S. 105f.]

Die für Mythen kennzeichnende Kreisschlüssigkeit wird in dieser Passage sehr gut ersichtlich: An Luises Todestag erklärt der Neffe des großen Napoleon, dem sich Luise 1810 zugunsten ihres Volkes opferte, dem Sohn Luises den Krieg, doch weil das Opfer Wirkung gezeigt hat, weil vom Grab Luises heilsame Kraft ausgeht, wiederholt sich nicht die Schmach von 1806, sondern das Gegenteil passiert: Nicht Napoleon zieht in Berlin ein, sondern Luise, in Gestalt ihres Sohnes, in Versailles, wo die deutsche Einheit besiegelt wird, bevor sich der Kreis endgültig schließt, indem Wilhelm nach Berlin und zum Bild seiner Mutter zurückkehrt.

Wer nun glaubt, dieser ,Mythensynkretismus’ beschränke sich auf Volks- und Jugendprosa, wird durch die Lektüre Treitschkes eines besseren belehrt. Auch er zieht in seinem Vortrag anläßlich des 100. Geburtstags der Königin eine explizite Verbindung von Luises Tod zum Sieg über Napoleon und die Reichsgründung: „An dem Grabe

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seiner Eltern - wir Alle erlebten es ja mit tief erschüttertem Herzen - hat der Sohn sich Muth und Kraft gesucht für die Schlachten des großen Krieges, für den steilen Weg zur kaiserlichen Krone." [Treitschke, Königin Luise (siehe Anmerkung 3), S. 323.]

Anhand sinnfälliger Geschichtsdaten wird die Biographie Luises im Rahmen der Mythenbildung weit über ihren Tod hinweg geschrieben, und die Wissenschaft sichert ,von oben’ ab, was über Schule und andere Medien der Volksbildung nach unten weiterwirkt. Durch die Verknüpfung mit der Reichsgründung reiht sich der Luisen-Mythos ein in den Reigen der Gründungsmythen, die sich um die Entstehung des neuen Kaiserreichs ranken und der politischen und sozialen Stabilisierung dienen sollen.

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3. Schlußbemerkung

„Geschichte im Spiegel des Mythos" - so lautet der Untertitel dieses Aufsatzes. Was nun hat der Blick in den Spiegel gezeigt? Bereits zu Lebzeiten Luises begannen bestimmte Ereignisse und Elemente ihres Lebens in den Augen ihrer bürgerlichen Zeitgenossen eine über die Ebene der Realität hinausgehende mythische Konnotation anzunehmen. Neben der Historiographie trugen vor allem Literatur und bildende Kunst zur Mythisierung Luises bei, die als das jeweils höchste Ideal bürgerlicher und damit positiv konnotierter Eigenschaften gefeiert wird: Schönheit, Anmut, Natürlichkeit, Mütterlichkeit, Aufopferungsfähigkeit, Frömmigkeit und andere für bürgerliche Frauen des 19. Jahrhunderts erstrebenswerte Charaktereigenschaften wurden der Leserschaft exemplarisch vor Augen geführt.

Mit der Anzahl der Quellen und dem Fortschreiten der Zeit verfestigte sich ein Bild von Luise, das aufgrund seiner überindividuellen Züge leicht handhabbar war. Dadurch, daß parallel zur Geschichtsschreibung auch andere Lebens- und Wissensbereiche, etwa Schulen und Enzyklopädien, vom Luisen-Mythos erfaßt wurden, nahm Luises Leben den Charakter einer weitverbreiteten Legende an.

Gestalt, Schwerpunktsetzung und Überlieferung des Luisen-Mythos zeugen von einer Funktionalisierung seitens gesellschaftlicher Gruppierungen, die im Mythos ihr gesellschaftliches, politisches und kulturelles Selbstverständnis präsentierten.

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Erzählungen und Gedichte über die Königin stellten ebenso wie ihre Darstellung in der bildenden Kunst einen festen Bestandteil des bürgerlichen Diskurses über die Monarchie um 1800 dar: Die bildungsbürgerlichen Intellektuellen in Deutschland beobachteten die Ereignisse im revolutionären Nachbarland Frankreich und sympathisierten anfangs durchaus mit den revolutionären Forderungen. Mit der Radikalisierung der Ereignisse jenseits des Rheins schwand diese Zustimmung jedoch mehrheitlich - der große Terror markierte für viele einen nahezu traumatischen Wendepunkt; in zahlreichen zeitgenössischen wissenschaftlichen und literarischen Abhandlungen bekundete man die Ablehnung von Gewalt zum Zweck der Durchsetzung revolutionärer Prinzipien. Favorisiert wurden hingegen allmähliche, friedliche, in geordneten Bahnen verlaufende Reformen. In diesem Kontext kam dem Mythos von der bürgerlichen Königin Luise politische Bedeutung zu, denn durch ihn fand eine Verknüpfung des Konzepts der bürgerlichen Familie mit dem der Monarchie statt, die eine zweifache Funktion hatte: Lebensstil und Werthaltung des Bürgertums wurden „von oben" legitimiert, und die preußische Monarchie konnte als konstitutionelle Monarchie weiterleben bzw. nach 1813 neu erstehen. Im Luisen-Mythos kristallisierte sich der bildungsbürgerliche Glauben an eine Verhinderung von Revolutionen durch zeitgemäße Reformen. Der Luisen-Mythos, das gilt es zu betonen, war in seiner Entstehungsphase um 1800 mit gesellschaftlichem Fortschritt und Wandel auf nichtrevolutionärem Weg konnotiert. Erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der Diskurs um die preußische Königin vielschichtiger und zuerst mit nationalen, dann politisch konservativen Werten verknüpft:

Sieg und Aufstieg Preußens erforderten Opfer, und Luise wurde in der Historiographie und Kunst der Befreiungskriege zum Inbegriff des Opfers: Stellvertretend wurde ihr schon zu Lebzeiten der emotionale Teil der Kriegserfahrungen übertragen, an ihr exemplifizierten Historisten und Literaten die preußische Demütigung und Kränkung durch Napoleon. Mit Luises Tod wurde das geistige zum physischen Opfer, Luise erscheint als Märtyrerin, die im Glauben an Preußen ihr Leben hingibt. Nationale Sammlung und kriegerische Rache erhofften sich die Dichter der Befreiungskriege, wenn sie Luise als preußische Jeanne d’Arc in den Dienst der nationalen Propaganda stellten.

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Zitathaft verkürzt tauchten Elemente des mythisierten Lebens Luises schließlich am Ausgang des 19. Jahrhunderts in der Historiographie der Reichsgründung auf. Das neue kleindeutsche Kaiserreich zog seine Legitimation nicht allein aus den kriegerischen Erfolgen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Gegenwart, sondern griff, da es keine eigene historische Tradition besaß, zu einem guten Teil auf Mythen des kollektiven Gedächtnisses zurück. Luise von Preußen steht dabei in einer Reihe mit dem mittelalterlichen Stauferkaiser Barbarossa als legendäre Gründerin des neuen Kaiserreichs, und in der Verknüpfung verschiedener mythenträchtiger Elemente aus verschiedenen Jahrhunderten zeigt sich erneut, daß verbreitete Auffassungen von Zeitlichkeit und Logik vor der Bildung und Tradierung von Mythen versagen.

Der Luisen-Mythos, so wie er vom 19. ins 20. Jahrhundert überliefert wurde, wirkte integrierend, kontinuitäts- und sinnstiftend angesichts der rapide fortschreitenden Entwicklung hin zur industriellen Massengesellschaft mit ihren Begleiterscheinungen der Individualisierung, Pluralisierung und geistigen Entwurzelung. Nicht vergessen werden sollte aber, daß die Wurzeln dieses Mythos an der Schwelle zum 19. Jahrhundert liegen, in einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs. Um 1800 war das Bild der preußischen Königin Luise Inbegriff eines positiv bewerteten sozialen und politischen Wandels von traditionellen Sozial- und überkommenen Herrschaftsstrukturen hin zur bürgerlichen Gesellschaft und zur konstitutionellen Monarchie, der Luisen-Mythos somit ein Indikator für das Modernisierungspotential Preußens im frühen 19. Jahrhundert.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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