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Peter Brandt
Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte


Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts, und in der DDR darüber hinaus, gehörte die Zeit der letzten antinapoleonischen Kriege von 1813/14 und 1815 zu den bevorzugten Gegenständen historischer Forschung. Sie waren zugleich einer der wichtigsten Bezugspunkte nationaler Identifikation und Traditionsbildung und boten zahllosen identitätsstiftenden Legenden und Mythen Stoff. Anders als heute oft angenommen, beschränkte sich die Hochschätzung der ‘Befreiungskriege’ bzw. ‘Freiheitskriege‘ [Eine im Text kaum abweichende, aber eingehender belegte erste Veröffentlichung in: Michael Grüttner u.a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation .] nicht auf konservative und nationalistische Kreise, sondern schloß in unterschiedlicher Weise das gesamte politische Spektrum ein.Schon unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen setzte ein öffentlicher Meinungsstreit über den Charakter der antinapoleonischen Kriege von 1813/14 und 1815 ein. Dabei bestanden Autoren, die dem frühen Liberalismus zuzuordnen sind bzw. das Konzept des ‚Volkstums‘ vertraten, auf dem – auch nach innen – freiheitlichen Ziel und den freiheitlichen Motiven der Erhebung gegen Napoleon. Die Bezeichnung ‚Freiheitskriege‘ hob insofern auf eine noch nicht erfüllte Verheißung ab und implizierte die Kritik am politischen Status quo nach 1813/14. Dem setzten Konservative in apologetischer Absicht den Terminus ‚Befreiungskriege‘ entgegen, wobei ‚Befreiung‘ einen abgeschlossenen Vorgang beinhaltete. Wenn hier dem Ausdruck ‚Befreiungskriege‘ der Vorzug gegeben wird, dann nicht nur deshalb, weil er sich insgesamt in der Geschichtsschreibung stärker durchgesetzt hat, sondern auch im Hinblick auf seinen objektiven Gehalt: Verstanden als Befreiung von Fremdherrschaft durch Wiederherstellung der Unabhängigkeit der deutschen Einzelstaaten nach außen, formuliert der Ausdruck ‚Befreiungskriege‘ das alle Kriegsteilnehmer verbindende Motiv ebenso wie das faktische Ergebnis. Ich spreche in diesem Sinne gelegentlich auch von ‚Unabhängigkeitskriegen‘, während mit ‚Freiheitskriege‘ nach wie vor die Ein-

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stellung nicht unerheblicher bürgerlicher Kreise, namentlich unter den Freiwilligen, zu fassen ist.

Zur Hundertjahrfeier 1913 fanden nicht nur monarchisch-obrigkeitsstaatlich und reichspatriotisch ausgerichtete offizielle Feiern mit vielfach chauvinistischer Tendenz statt, sondern parallel dazu und in bewußter Absetzung davon versammelten sich Anhänger der freideutschen Jugendbewegung und anderer bürgerlicher Reformbestrebungen auf dem Hohen Meißner. Und für die Sozialdemokratie beklagte Georg Ledebour vor dem Reichstag die „Entartung des nationalen Gedankens[...]", „der geboren wurde als ein Kind der Freiheitsbestrebungen" um 1813, in den Händen der „heutigen Machthaber", während die Sozialdemokraten das „Reich der Freiheit und des Rechts" verwirklichen wollten, „das Fichte und andere Männer mit ihm vor hundert Jahren ersehnt haben [...]". [Rede Georg Ledebours vom 18.2.1913 auszugsweise abgedruckt in: Carl Christoph Schweitzer (Hg.), Die deutsche Nation. Aussagen von Bismarck bis Honecker, Köln 2 1979, S. 89. ]

Aber nicht nur aufgrund ihrer späteren Rezeption und unter geschichtspolitischen Gesichtspunkten dürfen die Befreiungskriege weiterhin als ein „Schlüsselereignis" der modernen deutschen Nationalgeschichte gelten, in seiner nationalgeschichtlichen Bedeutung durchaus vergleichbar den Revolutionen und Unabhängigkeitskämpfen anderer Völker. Der ‘Geist von 1813’ bot sich gerade wegen seiner Vielgestaltigkeit zu diversen Legitimierungszwecken an, und so blieb auch die professionelle Geschichtswissenschaft gegen die Versuchung nicht immun, die jeweiligen politisch-weltanschaulichen Positionen auf die Zeit der „deutschen Erhebung" [Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795-1815), Bielefeld und Leipzig 2 1913.] zurückzuprojizieren. Etwas vereinfacht könnte man sagen, daß die konservative Deutung den konventionellen Charakter des Krieges, die liberal-nationale das Engagement der bürgerlichen Bildungsschicht und die sozialistische, dann marxistisch-leninistische die Rolle der „Volksmassen" hervorgehoben haben, ohne die jeweils anderen Komponenten ganz zu ignorieren. Betont skeptisch fielen in den letzten Jahrzehnten manche Urteile aus den Reihen der linksliberal orientierten, dem Konzept

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einer kritischen Gesellschaftsgeschichte verpflichteten Historiker aus, etwa Hans Ulrich Wehler und Barbara Vogel. [Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987, S. 525f.; Barbara Vogel, Vom linken zum rechten Nationalismus. Bemerkungen zu einer Forschungsthese, in: Bernd Jürgen Wendt (Hg.), Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992, S. 97-110, hier S. 109.]

Eine modernen Ansprüchen genügende, sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlich fundierte Gesamtdarstellung der Befreiungskriege existiert nicht. Die nach 1945 erschienenen Forschungsbeiträge sind gut überschaubar, auch in der DDR, wo insbesondere im Umfeld des 150. Jubiläums 1963 eine Reihe einschlägiger Titel erschien. In den letzten Jahren kommen neue Anstöße aus der Literaturwissenschaft, der Theologie, der Nationalismus-, Militär- und jetzt verstärkt Geschlechtergeschichte, wo die schärfere Profilierung der Männlichkeit vermittels des Kriegs, indem geschlechtliches, soziales und nationales Selbstverständnis eine enge Verbindung eingingen, zum Thema geworden ist. In den übergreifenden Darstellungen herrscht, offenbar aus Sorge vor falscher Heroisierung, eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den Befreiungskriegen vor. Es paßt zu diesem Bild, daß es auch an problematisierenden, um Orientierung bemühten Aufsätzen fehlt, die das Gesamtphänomen und nicht nur Einzelaspekte in den Blick nehmen. Helmut Berdings Lexikonartikel (erschienen 1968) und der daran anschließende Vortrag (gehalten 1978, erschienen 1982 und 1987) stehen für Westdeutschland auf einsamer Flur. [Helmut Berding, Freiheitskriege, in: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, Bd. 2 (1968), S. 681-693; ders., Das geschichtliche Problem der Freiheitskriege 1813-1814, in: Karl Otmar Freiherr von Aretin/Gerhard A. Ritter (Hg.), Historismus und moderne Geschichtswissenschaft / Europa zwischen Revolution und Restauration 1797-1815. Drittes deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, München, 13.-18. März 1978, Stuttgart 1987, S. 201-215 (Ort der Erstveröffentlichung von 1982 dort angegeben).]

Der folgende Beitrag will hier Abhilfe schaffen. Anders als bei Berding werden die Herausbildung der unterschiedlichen Interpreta-

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tionsrichtungen und die Forschungsentwicklung nicht eigens thematisiert. Vielmehr soll auf der Grundlage der neueren und der umfangreichen älteren Literatur sowie der gedruckten Quellen, in Rand- und Detailbereichen auch originär eigener Forschung, eine dem heutigen Wissens- und Reflexionsstand angemessene synthetisierende Deutung versucht werden. Dabei lassen sich etliche frühere und heutige Kontroversen und Widersprüche auflösen, sofern sie nicht ohnehin durch die empirische Forschung bereits entschieden worden sind. Erkenntnisinteresse und Fragestellung des Aufsatzes bleiben einer kritischen, an die Gesellschaftsgeschichte angebundenen, politischen Nationalgeschichte verpflichtet.

Es geht mir darum, die Kriege von 1813 - 1815 wieder stärker in das Bild jener Epoche der deutschen Geschichte, einer Epoche des Umbruchs und Übergangs, zu integrieren, die mit der Französischen Revolution begann und mit der Rekonsolidierung der monarchischen Macht drei Jahrzehnte danach endete. Das betrifft sowohl den Stellenwert der Befreiungskriege aus fachwissenschaftlicher Sicht, als auch deren - gewiß nicht unproblematische - Bedeutung für die Aneignung des geschichtlichen ‘Erbes’ und der demokratischen ‘Tradition’ in Deutschland (um eine nützliche Unterscheidung der ostdeutschen Historiker aus der Zeit der DDR aufzugreifen). Damit möchte ich auch einen Beitrag zu einem Lebensthema Reinhard Rürups, der Vorgeschichte und Geschichte der deutschen Demokratie, leisten.

Nach einer kurzen Vergegenwärtigung des von der Französischen Revolution ausgelösten weltweiten militärischen Ringens, zu dessen letzter Phase auch der deutsche Unabhängigkeitskrieg gehörte, werde ich eine Einschätzung des Charakters und der Wirkungen der napoleonischen Herrschaft für Deutschland liefern, die preußischen Ursprünge und die preußische Prägung des Frühjahrsfeldzugs in den Blick nehmen, das Phänomen der Kriegsfreiwilligen behandeln und auf deren politische Ideen und Ziele eingehen. Am Ende steht eine zusammenfassende historische Einordnung der antinapoleonischen Kriege von 1813 - 1815.

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1. Eine Epoche kriegerischer Umwälzungen

Die Befreiungskriege von 1813/14 und 1815 schlossen in Europa die seit 1792 andauernde Periode der revolutionären und nachrevolutionären Kriege Frankreichs mit diversen feindlichen Mächtekoalitionen ab. Diese Kriege, die bereits Züge eines wirklichen Weltkriegs trugen, wurden im Kern bestimmt vom britisch-französischen Gegensatz und dem Kampf der beiden Rivalen um die globale Hegemonie. Vor allem seit der Landung Napoleons in Ägypten 1798 dehnten die Hauptmächte ihre Operationen nach Übersee aus, und es kam zu einer Verzahnung außereuropäischer Kriege mit dem europäischen Krieg. Bereits im Siebenjährigen Krieg waren die europäischen Ereignisse um koloniale Kriegsschauplätze - in Amerika und Indien - ergänzt worden. Jetzt, um und nach 1800, gerieten weitere, autochthone Konflikte in der außereuropäischen Welt bzw. zwischen europäischen und außereuropäischen Staaten in den Sog des europäischen Kriegs und des global geführten Kolonialkriegs, so in Indien und im Vorderen Orient. In Lateinamerika gewann die bewaffnete Sezession von der spanischen Kolonialmacht an Schärfe. Die USA, herausgefordert durch den britischen Handelskrieg gegen das französisch beherrschte Europa, traten in den Krieg an der Seite Frankreichs ein, um Kanada und Florida zu erobern und widerspenstige Indianer-Stämme niederzuwerfen.

Der Aufstieg Großbritanniens zur einzigen Weltmacht war das wichtigste Ergebnis der Kriegsperiode von 1792 bis 1815. Während die Kriegsereignisse auf dem Kontinent insgesamt eher bremsend auf die gewerbliche Entwicklung gewirkt zu haben scheinen, förderten sie auf der britischen Insel zweifellos in starkem Maß den Durchbruch der Industrialisierung und verschafften England damit einen lange Zeit nicht einholbaren Vorsprung. Bereits mit der Seeschlacht von Trafalgar 1805 war klar, daß das Britische Reich von Napoleon nicht mehr militärisch besiegt werden konnte. Die englische, schon seit 1793 praktizierte Seeblockade strangulierte mehr und mehr den französischen Überseehandel, während die Gegenmaßnahmen, gipfelnd in der Kontinentalsperre und dem Kontinentalsystem Napoleons, statt London in die Knie zu zwingen, wenig erfolgreich waren, vielmehr sich wie eine Selbstblockade Frankreichs und des von ihm beherrschten Europa auswirkten. Gegensätze in der Handelspolitik - die Weigerung Rußlands, entgegen eigenen Exportinteressen sich am

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Handelskrieg gegen England zu beteiligen - trieben Napoleon letztlich auch zur Überdehnung seines Machtbereichs im Rußland-Feldzug, der seinen Untergang einleitete.

In dem Vierteljahrhundert zwischen dem Beginn der Französischen Revolution und dem Wiener Kongreß änderten sich das Erscheinungsbild und die Kultur des Krieges grundlegend. Neben der langen Dauer schufen in Europa selbst der Einsatz gewaltiger nationaler und dann auch multinationaler Heere, die radikal offensiven Strategien einschließlich des Gedankens der Vernichtungsschlacht sowie die hohen Verluste unter Soldaten und Zivilisten eine gegenüber dem 18. Jahrhundert deutlich veränderte Kriegsrealität, die auch neuartige Erfahrungen vermittelte. Ausgehend von der Levée en masse und später der allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich und auf der Gegenseite kulminierend in der spanischen Guerilla, im Vaterländischen Krieg Rußlands, im Befreiungskrieg Deutschlands und dem daraus hervorgegangenen Koalitionskrieg, wurde die Bevölkerung der beteiligten Staaten in einem qualitativ größeren Ausmaß in das militärische Geschehen einbezogen: direkt und indirekt. Die Idee der selbstbestimmten Nation, die die Amerikanische und die Französische Revolution hervorgebracht hatten, verbreitete sich innerhalb der Intelligenzschichten Europas und kehrte sich in den von Frankreich besetzten oder kontrollierten Ländern, namentlich Spanien, Italien, der Schweiz und Deutschland, gegen den ‘Despotismus’ Napoleons. Die ursprünglich hoffnungsvolle Unterstellung, der Kaiser wolle eine ‘Universalmonarchie’ errichten, bekam mehr und mehr einen kritischen Akzent. Krieg und Militarismus waren, auf neuer gesellschaftlicher Grundlage, ultima ratio, man könnte auch sagen: Selbstzweck, des napoleonischen Herrschaftssystems. Dieses läßt sich in der Zeit des Kaiserreichs als autokratische Regierung, gestützt auf die Armee und zugleich mit konstitutioneller und rechtsstaatlicher sowie auch plebiszitärer Anbindung, bezeichnen. Napoleons Autokratie wurde von der politischen Führungsschicht, der sozial herrschenden Klasse und breiteren Bevölkerungsschichten akzeptiert und unterstützt, solange sie erfolgreich war, und fallengelassen, als sie sich 1813/14 als Hindernis eines unvermeidlich gewordenen Friedensschlusses erwies.

Auch die gegenrevolutionären Kräfte Europas - jedenfalls soweit sie an der Regierung waren - erkannten in den Jahren nach der Jahrhundertwende, daß eine Wiederherstellung des Ancien Régime dort,

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wo im Gefolge der französischen Heere Veränderungen teilweise revolutionären Inhalts stattgefunden hatten, kaum durchführbar wäre. Sie wurde deshalb auch nicht mehr angestrebt; für Frankreich selbst war die Rückkehr zum Absolutismus ohnehin nur während einer kurzen Periode von den Koalitionsmächten als Ziel verfolgt worden. Daß die absolute Monarchie der Vergangenheit angehören sollte und man dem ‘Zeitgeist’ unter Berücksichtigung der öffentlichen Meinung irgendwie entgegenkommen müsse, wurde mehr und mehr allgemein akzeptiert. Nicht der Legitimismus, sondern ein gemäßigter monarchischer Konstitutionalismus (wobei die polnische Verfassung von 1791 einen wichtigen Bezugspunkt bildete) stand als Leitbild für die innerstaatliche Ordnung im Vordergrund. Offen blieben der soziale Inhalt und die soziale Trägerschaft der nachnapoleonischen Regimes. Daß der Adel dabei weiter eine wichtige Rolle spielen würde, war - angesichts der noch kaum angefochtenen politischen Führungsrolle der Aristokratie selbst im kapitalistischen England - wenig strittig.



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2. Deutschland unter napoleonischer Vorherrschaft

Eine angemessene Beurteilung der Befreiungskriege muß von den Wirkungen der napoleonischen Herrschaft in Deutschland ausgehen. Die durch die Revolutionskriege Frankreichs eingeleitete, unter Napoleon verwirklichte territoriale Umwälzung, die ‘Fürstenrevolution’ [Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, hier zit. nach der von Wilhelm Mommsen herausgegebenen gekürzten Ausgabe: Berlin o. J., Bd. 1, S. 93 u. ö. - Treitschke bezieht sich unmittelbar auf den Reichsdeputationshauptschluß von 1803, der eng mit dem Prozeß der Säkularisation verknüpft war.] dann die militärische Niederwerfung des Habsburgerreiches und der Hohenzollernmonarchie verstärkten entscheidend den Reformdruck auf die deutschen Staaten. Erst die Zerstörung der Reichsverfassung, die auch in den Einzelstaaten die ständestaatlichen Elemente schützte, machte der Neugestaltung den Weg frei. Es begann jene Reformperiode, die nicht zu Unrecht als erste Etappe der „bürgerlichen Umwälzung" in Deutschland bezeichnet worden ist. [Helmut Bleiber (Hg.), Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789-1871, Berlin 1977; Deutsche Geschichte in zwölf Bänden, Bd. 4: Die bürgerliche Umwälzung von 1789-1871, Berlin 1984.]
Ob sich ohne den Ein-

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bruch der Französischen Revolution bzw. ihres Erben Napoleon die Reformkräfte nach 1800 in einem entsprechend hohen Maß durchgesetzt hätten, erscheint je nach Fall fraglich bis höchst unwahrscheinlich.

Daß der Einbruch des republikanischen bzw. napoleonischen Frankreich in Deutschland besonders nachhaltige Wirkungen hatte, setzte dort innere Bedingungen voraus, die die Aufnahme und Nutzung der von der Revolution von außen ausgehenden Impulse überhaupt ermöglichten. Der gesamtgesellschaftliche Wandel im deutschsprachigen Mitteleuropa hatte sich seit dem Siebenjährigen Krieg unverkennbar beschleunigt; entfeudalisierende Tendenzen - vor allem die Kommerzialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft mehr noch als die des gewerblichen Sektors - unterminierten langfristig die bestehende Ordnung. In der staatlichen Sphäre gab es zweifellos Kontinuitätslinien vom Aufgeklärten Absolutismus zum bürokratisch-absolutistischen Verwaltungsstaat. Doch läßt sich nicht verkennen, daß in den beiden deutschen Großstaaten die innovatorische Kraft des Aufgeklärten Absolutismus um 1790 zunächst gebrochen bzw. an ihre Grenzen gelangt war. Die ‘deutschen Jakobiner’ hingegen als Vertreter der anderen denkbaren Veränderungsperspektive waren zwar kein ganz unbedeutender Faktor, sie scheiterten letztlich aber an ihrem mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung, der es den französischen Okkupationstruppen in den Jahren 1796 - 1801 erlaubte, die bescheidenen Ansätze einer autochthonen Revolution von unten gänzlich abzuwürgen. Es ist folgerichtig, daß die Vertreter des deutschen Republikanismus vor und um 1800 dann entweder versuchten, möglichst viel von ihrem radikal aufklärerischen Gedankengut im Rahmen der napoleonischen Ordnung zu verwirklichen (Rebmann), oder sich von der Orientierung an Frankreich desillusioniert ab- und dem entstehenden gesamtdeutschen Nationalismus zuwandten (Görres, Fichte).

In den Staats- und Gesellschaftsreformen des Jahrzehnts vor den Befreiungskriegen mußte der auf Veränderung dringende Teil der einzelstaatlichen Bürokratien ein fehlendes ökonomisch und sozial starkes Großbürgertum substituieren. Selbst die ‘gebildeten Stände’, das meist beamtete Bildungsbürgertum und der gebildete, ebenfalls häufig beamtete Teil des Adels, von denen am ehesten Zustimmung erwartet werden durfte, unterstützten den politischen Auf- und Umbruch nicht so einhellig und entschieden, wie namentlich die preußi-

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schen Reformer angenommen hatten. Die Herausbildung einer kapitalistischen Bourgeoisie aus den kleinen Gruppen reicher Wirtschaftsbürger (erste Fabrikbesitzer, Manufakturisten, Großverleger, Reeder, Großkaufleute, Spediteure, Kommissionäre, Bankiers) steckte in den Anfängen; ebenso ein dem Kapitalismus aufgeschlossener Agraradel nach englischem Vorbild; eine Schicht wie die für Frankreich so wichtigen Propriétaires fehlte praktisch.

Auch wenn das französische Pathos der allgemeinen Völkerbefreiung weitgehend der Vergangenheit angehörte, forcierte Napoleon die Angleichung der von ihm abhängigen Staaten an die Staats- und Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs, um sein übernationales Herrschaftssystem effektiv steuern zu können, abgesehen von den direkt annektierten Gebieten am entschiedensten in den neu geschaffenen Modellstaaten. Der Ausbau des Rheinbundes, der in erster Linie Instrument der Kontrolle großer Teile des rechtsrheinischen Deutschland durch den ‘Protektor’ Napoleon war, scheiterte schon im Ansatz an den Souveränitätsansprüchen des bayerischen und des württembergischen Königs. Daß aus dem Rheinbund ohne dieses Veto ein konstitutioneller deutscher Bundesstaat hätte entstehen können, wie es manche öffiziösen Publizisten im Umfeld Karl Theodor von Dalbergs erhofften, erscheint zumindest zweifelhaft. Dalberg konzipierte den Rheinbundstaat denn auch als absolute Monarchie mit Napoleon als Oberhaupt.

Die Selbstbehauptung der süddeutschen Rheinbundstaaten, die an dem Bündnis mit Frankreich aus Eigeninteresse lange festhielten, war nicht unbedingt ein retardierendes Moment im Reformprozeß. Die mehr oder weniger modifizierte Übernahme des Code Civil durch die Napoleoniden und das Großherzogtum Baden bedeutete nicht, daß die Reformen dort besser vorankamen und erfolgreicher waren als in denjenigen Staaten, die das Gesetzbuch nicht übernahmen wie Bayern. Wohl aber läßt sich an dem Versuch, das bürgerliche, auf Rechtsgleichheit beruhende Rechtssystem Frankreichs auf rheinbündische Territorien zu übertragen, die Problematik der napoleonischen Gesellschaftspolitik in Deutschland erkennen, denn ohne Aufhebung der ständisch-feudalen Strukturelemente oder die Uminterpretation feudaler Rechte in bürgerliches Recht (und das hätte den Code Civil seines Sinns entkleidet) paßte der Code nicht für die deutschen Verhältnisse.

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Bereits seit den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts setzte Frankreich auf Kooperation mit demjenigen Teil der deutschen Fürsten, der bereit war, sich dem Führungsanspruch der Grande Nation unterzuordnen und nicht mehr auf Unterstützung seitens der deutschen Anhänger der Revolution. Über die progressiven Wirkungen der französischen Hegemonie in den west- und süddeutschen Rheinbundstaaten wird oft vergessen, daß andere Rheinbundstaaten, in erster Linie Sachsen und die beiden Mecklenburg, kaum am Reformprozeß beteiligt waren. Trotz und ungeachtet der Tatsache, daß die rheinbündischen Reformen in den sozialökonomischen Konsequenzen, also in ihrer kapitalismusfördernden Wirkung, hinter den preußischen Reformen zurückblieben, hat die historische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten völlig zu recht die Leistung und den eigenständigen Anteil der aufgeklärten rheinbündischen Bürokratie herausgearbeitet. Dabei ist deutlich geworden, daß die Vorstellung des Freiherrn von Stein und der Nationalpatrioten von 1813 vom ‘Rheinbund-Absolutismus’, die dann von der borussisch orientierten Geschichtsschreibung übernommen wurde, ein Zerrbild darstellt. Die ‘Dictatur’ der führenden Staatsmänner von Rheinbundstaaten wie Montgelas (Bayern) und Reitzenstein (Baden) bereitete in ihren modernisierenden Effekten den späteren monarchischen Verfassungsstaat vor, dessen Vorboten die im Jahr 1808 erlassenen Konstitutionen von Westfalen und Bayern waren.

Darüber darf aber nicht die Abhängigkeit der rheinbündischen Staats- und Gesellschaftsreformen vom napoleonischen Herrschaftssystem übersehen werden. Die Reform war eine Funktion der hegemonistischen Militärdiktatur und nicht umgekehrt. Das erklärt auch, warum der Reformdruck von Westen nachließ, sobald der Kaiser die Stabilisierung seines Imperiums eher durch die Kooperation mit etablierten und konservativen Kräften gewährleistet sah als durch grundlegende Veränderungen und tiefe Eingriffe in das Überkommene. Mehr noch: Das napoleonische System im allgemeinen und bestimmte Maßnahmen wie die Schaffung von königlich-westfälischen Dotations-Domänen im besonderen verstärkten die Rehierarchisierung der Gesellschaft, teilweise mit regelrechten Refeudalisierungstendenzen.

Als durchgängig erfolglos wird man die napoleonische Politik der Assimilation gegenüber den direkt annektierten und - abgeschwächt -

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gegenüber den abhängigen deutschen Gebieten nicht ansehen dürfen. Aber fast überall in Deutschland kam an einem bestimmten, von Staat zu Staat und von Region zu Region unterschiedlichen Zeitpunkt im Verhältnis zu den Franzosen ein Entfremdungsprozeß in Gang, der auf je spezifische Weise sowohl die Bevölkerungsmehrheit als auch die Bildungsschichten betraf. Die seit den 1790er Jahren direkt an Frankreich angegliederten linksrheinischen Gebiete des Alten Reiches scheinen allerdings davon abgewichen zu sein; der direkte Anschluß an das französische Kaiserreich mit seinen auch wirtschaftlichen Vorteilen führte hier offenbar mit zunehmender Dauer der Annexion eher zur Akzeptierung der neuen Zustände. Doch selbst in den stark rheinbündisch gesinnten Staaten Süddeutschlands und in Sachsen nahm etwa ab 1810 die Unzufriedenheit stark zu, die im wesentlichen zwei Ursachen hatte: erstens die anhaltenden militärischen Konskriptionen und Blutopfer für Napoleons imperiale Kriege und zweitens den wirtschaftlichen Druck, der durch die Kontinentalsperre, aber auch das Bündnissystem insgesamt auf das rechtsrheinische Deutschland ausgeübt wurde.

Abgestuft nach dem Grad der Abhängigkeit, wurde das nicht an Frankreich angegliederte Deutschland beim Bezug von Rohstoffen und beim Absatz von Fertigwaren gegenüber Frankreich diskriminiert, das sich selbst durch hohe Zölle nach außen abschirmte, aber zugleich für französische Waren niedrige Einfuhrzölle durchsetzte. Für die handelspolitisch bevorzugten, annektierten Gebiete spielte die steuerliche Belastung eine Rolle. Erst vor diesem Hintergrund werden die Ausbreitung des Nationalismus im Bildungsbürgertum und der wachsende elementare Haß der Unter- und Mittelschichten auf die Franzosen erklärbar. Zwischen wirtschaftlicher Schädigung oder Förderung in der napoleonischen Zeit und dem Verhalten während des Jahres 1813 scheint überdies ein Zusammenhang zu bestehen: Während Sachsen, wo die gewerbliche Entwicklung von der Kontinentalsperre deutlich profitierte, an der Seite Napoleons blieb - auch die Opposition in der Bevölkerung war relativ schwach -, gehörten neben Ostpreußen auch die Hansestädte mit ihren Fernhandelsinteressen zu den ausgeprägt franzosenfeindlichen Gebieten. Das Beispiel des spanischen Guerilla-Volkskriegs ermutigte seit 1808 die deutschen Gegner Napoleons. Der Krieg Österreichs 1809 fand ebenfalls ihre lebhaften Sympathien, löste aber - abgesehen von dem Aufstand der Ti-

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roler Bergbauern und einiger kleineren handstreichartigen Unternehmen in Norddeutschland - nicht die allgemeine Erhebung Deutschlands aus. Namentlich Preußen blieb neutral.

Auf je spezifische Weise wuchs die Distanz zur französischen Hegemonialmacht auf seiten der Regierten wie der Regierenden. Im Fall Bayern ist der Zusammenhang zwischen den von außen aufgezwungenen Prohibitivzöllen und der Abwendung vom Bündnis mit Napoleon offenkundig. Auch für die meisten anderen Rheinbundstaaten gab es im Herbst 1813 gute Gründe, den Würgegriff der napoleonischen Vorherrschaft zu sprengen und sich am militärischen Kampf gegen Frankreich zu beteiligen, nachdem die Verbündeten eine Art Existenz- und Bestandsgarantie gegeben hatten. Die süddeutschen Rheinbundstaaten vollzogen diesen Schritt mit Ausnahme Bayerns allerdings erst, als nach der Leipziger Schlacht ein Sieg über Napoleon in greifbare Nähe gerückt war und weiteres Zögern riskanter schien als ein Seitenwechsel; bei Leipzig hatten überdies sächsische und württembergische Truppen bereits eigenmächtig während der Kämpfe die Seite gewechselt.

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3. Reformpreußen zwischen Anpassung und Erhebung

Während der Beitrag, den die rheinbündischen Reformen zur Herausbildung moderner, die Verbürgerlichung der Gesellschaft fördernder Staaten mittlerer Größe in Deutschland leisteten, von der Historiographie lange unterbewertet worden ist, hat man die preußischen Reformen lange Zeit zu ausschließlich mit den Befreiungskriegen in Verbindung gebracht. Dementsprechend war es üblich, den Anteil Hardenbergs und seiner engeren Mitarbeiter am Reformwerk gegenüber dem Steins und der Militärreformer zu gering zu veranschlagen. Wenn heute verschiedentlich besonders die konservativen Elemente in Steins Denken betont und auf die bremsende Wirkung des Krieges 1813 auf den Fortgang der Reformen abgehoben wird, dann erscheinen die traditionellerweise vorherrschenden Sichtweisen ins Gegenteil verkehrt. Dabei droht der grundlegende Zusammenhang der Kriegsniederlage von 1806/07 mit der Reform - sie wäre ohne jene nicht zustande gekommen - sowie auch der politisch-gesellschaftlichen Umgestaltung in der Folgezeit mit der Vorbereitung und

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Durchführung des Befreiungskrieges, der insgesamt als Katalysator wirkte, aus dem Blick zu geraten.

Tatsächlich stand nicht für alle reformerisch orientierten Angehörigen der preußischen Bürokratie und der preußischen Bildungsschichten die Befreiung von der Fremdherrschaft durchweg im Mittelpunkt des Interesses. Manche erwarteten anfangs gerade von der Anlehnung an Frankreich eine positive Veränderung der Atmosphäre; selbst Stein betrieb zunächst eine Art Erfüllungspolitik. Es ist aber nicht zu verkennen, daß die brutale und bewußt demütigende Behandlung Preußens durch Napoleon profranzösische Tendenzen schon bald zurücktreten ließ. Für die Staatsdiener fiel besonders die permanente Gefährdung der Eigenstaatlichkeit und territorialen Unversehrtheit dessen ins Gewicht, was von den ‘Preußischen Landen’ nach 1807 übrig geblieben war; mehrmals hing die staatliche Weiterexistenz Preußens am seidenen Faden. Die Destruktivität der napoleonischen Politik gegenüber Preußen ergibt sich auch aus der Tatsache, daß die franzosenfreundliche Richtung in den politisch und sozial führenden Schichten vor allem aus eingeschworenen Feinden der Reform und der Reformer bestand. (Daneben gab es freilich auch konservative Kritiker der Reform, etwa in dem Kreis um die Christlich-deutsche Tischgesellschaft, die entschieden antifranzösisch orientiert waren.) Gerade in den Jahren 1811/12 gingen innenpolitische Reaktion und außenpolitische Unterwerfungseuphorie in Preußen Hand in Hand, weil deren Vertreter von einer profranzösischen Außenpolitik am ehesten ein Comeback erhofften.

Ein Teil der preußischen Reformpolitiker sah die ‘Regeneration’ des Staates Preußen in einer gesamtnationalen Perspektive (Preußen als Modell für Deutschland) und vor allem in Hinblick auf die bevorstehende Erhebung gegen Napoleon. Dementsprechend kam der Militärreform im Ensemble der Umgestaltungsmaßnahmen ein weitaus höherer Stellenwert zu als in den Rheinbundstaaten. Besonders der Freiherr von Stein, Neithardt von Gneisenau und Carl von Clausewitz waren bedenkenlos bereit, die Dynastie und die staatliche Existenz Preußens für die Befreiung Deutschlands aufs Spiel zu setzen. Bereits 1808 arbeiteten Stein, der letztlich deswegen als leitender Minister zu Fall kam, Gneisenau und Scharnhorst Insurrektionspläne aus, in denen teilweise auch schon die Bedeutung der Verfassungsfrage für die Erhebung angesprochen wurde.

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Nun hätte die antifranzösische, teilweise national-deutsche Gesinnung von „ein paar Handvoll Adliger und paar Häuflein bürgerlicher Intellektueller", die in diesen Jahren einer Äußerung W. I. Lenins zufolge in Preußen Geschichte machten [W. I. Lenin, Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: ders., Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 149f.], allein wenig bewirken können, wenn nicht die objektiven Bedingungen gerade hier der Eröffnung des Befreiungskrieges günstiger gewesen wären als in anderen deutschen Staaten. Der Reformgesetzgebung an sich, die ja in manchen Bereichen hinter der einiger Rheinbundstaaten zurückblieb, wird man dabei keinen überragenden Anteil und nur indirekte Wirkungen zusprechen dürfen, da ihr praktischer Effekt - abgesehen von der Heeresreform - 1812/13 noch viel zu begrenzt war und sie überdies aus der Sicht der unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung keineswegs nur Erleichterungen mit sich brachte. Allerdings war von entscheidender Bedeutung, daß Preußen außerhalb des Rheinbunds bleiben und dadurch (bis 1811) ein höheres Maß an Selbständigkeit gegenüber dem napoleonischen Hegemonialsystem bewahren konnte, wodurch auch die Reformpolitik eine teilweise andere Zielsetzung und Funktion erhielt als im Rheinbund.

Zwar war die Niederlage von 1806/07 von großen Teilen der Bevölkerung als eine nur Armee und Regierung betreffende Angelegenheit aufgenommen worden, doch machten die harten Friedensbedingungen die Ansätze profranzösischer Sympathien auch in der Bevölkerung weitgehend zunichte. Von den gravierenden Gebietsverlusten abgesehen, mußte Preußen nicht nur aus seinem Haushalt direkte Kontributionen zahlen; mannigfaltige Leistungen und Pflichten (Verpflegung, Sachlieferungen, Spanndienste und Arbeitsleistungen für die Besatzungsarmee) griffen auch unmittelbar in das Leben insbesondere der Landbevölkerung ein. Zusammen mit der Kontinentalsperre und dem krisenbedingten Ausufern der Spekulation führten der Friede von Tilsit und das Folgeabkommen von Paris zu einer deutlichen Verschlechterung der materiellen Situation fast aller Sozialgruppen, nicht zuletzt für die aufgrund der Beschränkung des Heeres auf 42.000 Mann in großer Zahl demobilisierten Berufssoldaten und -offiziere. Nur Teilgruppen innerhalb der besitzenden Schichten, etwa

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Heereslieferanten und Bankiers, profitierten von der ‘Franzosenherrschaft’.

Das Jahr 1812 brachte den Höhepunkt der nationalen Unterdrückung Deutschlands, namentlich Preußens, das durch den am 22. Februar mit Frankreich abgeschlossenen Bündnisvertrag zu einem Satelliten Napoleons wurde, und zugleich mit dem Sieg Rußlands im Vaterländischen Krieg die historische Wende zum Zerfall der napoleonischen Ordnung. Preußen mußte ca. 20.000 Mann für den Rußlandfeldzug stellen; mit den ohnehin zur Heeresfolge verpflichteten Truppen der Rheinbundstaaten, den deutschen Soldaten aus den von Frankreich annektierten Gebieten und den deutsch-österreichischen Truppen machten sie rund ein Drittel der rund 600.000 Mann starken Invasionsstreitmacht aus. Darüber hinaus wurde mit Ausnahme von Oberschlesien und einigen Städten wieder ganz Preußen für den Durchzug der französischen und verbündeten Streitkräfte geöffnet und der französischen Generalität die Verantwortung für die Heereslieferungen und die Aufrechterhaltung der Ordnung übertragen; sämtliche Vorräte an Waffen und Lebensmitteln standen den Franzosen zur Verfügung. Der Truppendurchmarsch mit massiven Requisitionen und regelrechten Plünderungswellen ließ die Erinnerung der Preußen an die Jahre 1806 bis 1808 wieder lebendig werden, weckte aber auch in anderen deutschen Staaten offene Antipathien gegen die Franzosen.

Bei den preußischen und national-deutschen Patrioten hatte der Abschluß des Vertrags mit Frankreich Entsetzen ausgelöst. Wenngleich die überwiegende Mehrzahl der Militärs loyal blieb, führte der Bündnisvertrag in der Truppe in bislang nicht gekanntem Ausmaß zu politischen Diskussionen. Neben Offizieren aus Preußen und anderen deutschen Staaten wandten sich auch einige Zivilisten, in erster Linie der Freiherr von Stein und als sein Privatsekretär Ernst Moritz Arndt nach Rußland, wo in Wilna ein ‘Komitee für deutsche Angelegenheiten’ gegründet wurde. Dessen militärischer Arm, die ‘Deutsche Legion’, hoffte vergeblich auf den Abfall größerer Einheiten von den deutschen Bündnistruppen Napoleons. Auch unter Kriegsgefangenen blieben die Rekrutierungserfolge recht bescheiden, was neben der Loyalität gegenüber den jeweiligen Heimatstaaten und ihren Fürsten an der schlechten Behandlung durch die Russen lag. Im praktischen Effekt war der Einsatz von Stein und anderen in Rußland also weitgehend erfolglos; gleichzeitig steigerten sie gerade in dieser Phase ihre

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Befreiungspropaganda bis zu umstürzlerischen Parolen. Aus den Aufrufen zum gesamtdeutschen Volksaufstand waren die angestammten Herrscher verbannt, bis der Beginn der preußischen Erhebung eine neue Konstellation schuf. Napoleons Ende sei besiegelt, meinte Arndt im Sommer 1812, sobald man nur vor dem „großen Aufstand", „vor den großen Revolutionären nicht zittert". [Zitat nach Gustav Adolf Rein, Der Deutsche und die Politik. Betrachtungen zur Geschichte der Deutschen Bewegung bis 1848, Göttingen u. a. 1970, S. 177.]

Tatsächlich wurde die Situation für die einheimischen Autoritäten, namentlich in Preußen, seit dem Herbst 1812 bedrohlich. Die Landesbehörden waren während des Aufmarschs zum Rußland-Feldzug zu „bloßen Vollzugsorganen der fremden Machthaber" [Bernd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812, Göttingen 1987, S. 365.] geworden und zunehmend der Kritik der Bevölkerung ausgesetzt gewesen. Ab Anfang Oktober 1812 liefen Gerüchte über den Brand Moskaus um, ab Mitte November meldeten die streng zensierten Zeitungen den Beginn des Rückzugs. Zu diesem Zeitpunkt wurde aus Ostpreußen - und ähnlich aus Berlin - berichtet, „daß nur ein Funke nötig ist, um Flamme zu haben ..." [Zit. nach Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenberg, Bd. 1, Leipzig 1890, S. 4f.] Den allgemeinen und endgültigen Umschwung brachten dann der Rückzug der Reste der Invasionsarmee, die ab dem 10. Dezember die Straßen des preußischen Ostens passierten - die Verluste der Hilfstruppen des Rheinbundes waren besonders schwer -, und das offizielle französische Eingeständnis der Niederlage im 29. Bulletin (am 21. Dezember in Schlesien veröffentlicht). Seit den letzten Tagen des Jahres drängten wichtige Teile des Adels und des Bürgertums in Petitionen und Adressen zum Übertritt auf die russische Seite; die Bevölkerung zeigte immer offener ihre franzosenfeindlichen Gefühle, ohne daß es jedoch in größerem Umfang zu Übergriffen gegen die sich zurückziehenden Soldaten Napoleons kam.

Der Befreiungskrieg begann, nachdem die Konvention von Tauroggen am 30. Dezember 1812 den Seitenwechsel Preußens eingeleitet hatte, faktisch am Anfang Februar 1813 mit dem unter maßgeblicher Mitwirkung Yorcks und Steins zustande gekommenen, eigen-

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mächtigen Beschluß des Landtags von Königsberg, in Ostpreußen das Volk zu bewaffnen. Stein hatte auch einen maßgeblichen Anteil daran gehabt, Zar Alexander davon zu überzeugen, im Anschluß an die Vertreibung der napoleonischen Invasionsstreitkräfte aus Rußland den Krieg nach Deutschland zu tragen - gegen die in großen Teilen der russischen Bevölkerung und Armee vorherrschende Stimmung. Als am 28. Februar das preußisch-russische Bündnis geschlossen wurde, hatten bereits zwei Drittel der preußischen Armee selbständig operiert. Der König und zunächst auch die Regierung hatten in nüchterner Lagebeurteilung wochenlang gezögert, einen definitiven Schritt zu tun, und auch die Bevölkerung war nicht überall gleichermaßen auf den unmittelbar bevorstehenden Krieg eingestellt.

Zweifellos war jedoch sowohl in den gehobenen wie in den ‘niedern Classen’ eine zum Kriegseintritt drängende patriotische Bewegung in Gang gekommen, die seit dem Jahreswechsel ständig an Gewicht gewonnen hatte. Einrückende russische Truppen wurden euphorisch begrüßt. Auch für Preußen sind die empirischen Befunde zwar nicht einheitlich - so blieb die Kriegsbegeisterung in Schlesien und Pommern, vor allem in den polnischsprachigen Gebieten Oberschlesiens und Westpreußens, hinter der in Ostpreußen und der Mark Brandenburg zurück, und die Aufstellung der Landwehr ging nicht überall problemlos vonstatten. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß hier der Krieg tatsächlich „Züge einer Volkserhebung" [Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 84. ] trug. ‚Volkserhebung‘ oder – weiter unten – ‚Volkskrieg‘ bedeutet hier hauptsächlich die Beteiligung großer Bevölkerungskreise am Krieg und ihre weitgehende Identifizierung mit seinen Zielen. In zweiter Linie wird damit auch das teilweise ‚insurrektionsartige Aussehen‘, wie es hieß, der Frühphase und auch die unbestimmt freiheitliche Motivation eines Teils der Kriegsteilnehmer angesprochen.

Die Reaktion der Bevölkerung auf den Aufruf an die Jugend zur Bildung freiwilliger Jäger-Detachements vom 3. Februar, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 9. Februar, die Verordnungen über die Landwehr vom 17. März und über den Landsturm vom 21. April sowie die königlichen Aufrufe ‘An mein Volk!’ und ‘An mein Kriegsheer!’ vom 17. März war insgesamt eindeutig. In dem Aufruf

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‘An mein Volk!’ gab ein preußischer König erstmals seinen Untertanen Rechenschaft über die Ursachen und Ziele des Krieges, betonte die Verbindung von König und Volk und sprach die Preußen zugleich als Deutsche an. Zu berücksichtigen sind hier (trotz einer Art freiwilligen Zwanges) eine vielfach überlieferte Spontaneität und eine große Zahl von Freiwilligen- Meldungen zusätzlich zu den Einberufungen sowie eine generelle Kriegsbereitschaft namentlich der Jugend, außerdem eine überwältigende Spendenfreudigkeit aller Bevölkerungskreise in dem erschöpften Land. Obwohl Demoralisierungserscheinungen in der zweiten Hälfte des Frühjahrsfeldzugs und zu Beginn des Waffenstillstands unübersehbar waren, vermochten auch militärische Rückschläge den Widerstandswillen von Heer und Bevölkerung nicht mehr nachhaltig zu brechen.

„Aller gerechtfertigten Kritik an der Verklärung des Befreiungskrieges [...] ungeachtet bleibt die Erhebung des Frühjahres 1813 ein beeindruckendes, ja faszinierendes Phänomen. Die gleichen Menschen, die Monate zuvor wo nicht ihren König, so doch zumindest seinen Minister zum Teufel gewünscht hatten, strömten zu seinen Fahnen - brachten, obwohl wirtschaftlich ausgeblutet und unlängst noch am Rande der Steuerverweigerung, Millionenbeträge an Spenden auf, um die Rüstung zu finanzieren". [v. Münchow-Pohl, Reform, S. 426.]



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4. „Volkskrieg"?

Von rund 280 000 Soldaten, davon 120.000 Mann Landwehr, die Preußen 1813/14 ins Feld schickte - über ein Zehntel der männlichen Bevölkerung -, waren etwa 30.000 Freiwillige. (Für das gesamte deutschsprachige Mitteleuropa und unter Einbeziehung des Feldzugs von 1815 wird man von einer etwa doppelt so großen Zahl Freiwilliger ausgehen müssen.) Während des Frühjahrs- und Herbstfeldzuges 1813 wurden dann auch in den Rheinbundstaaten und in den zeitweise direkt von Frankreich annektierten Teilen West- und Nordwestdeutschlands Freiwilligen-Einheiten aufgestellt, darunter etwa das ‘Banner der freiwilligen Sachsen’ und die ‘Hanseatische Legion’. Die für Preußen kämpfenden Freiwilligen umfaßten solche, die unmittel-

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bar zu den Linientruppen bzw. zur Landwehr gingen, ebenso wie die Freiwilligen Jäger, an die in diesem Zusammenhang vor allem gedacht wird. Der diesbezügliche Aufruf vom 3. Februar 1813 richtete sich an die männliche Jugend im Alter von 17 bis 24 Jahren, vor allem an diejenigen sozialen Gruppen, die bislang vom Militärdienst ausgenommen gewesen waren, also namentlich Angehörige des Besitz- und Bildungsbürgertums. Der Aufruf, der das Privileg erleichterten Dienstes außerhalb der Kampfhandlungen gegen die Auflage anbot, sich selbst auszurüsten, war insofern auch nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 9. Februar zweckmäßig. Eine besondere Kategorie bildeten die Freikorps, von denen das mit Kabinettsorder vom 18. Februar genehmigte Lützowsche mit bis zu 3.900 Mitgliedern am bekanntesten wurde. Von den Freiwilligen Jägern genügte nur der kleinere Teil nach Bildung und Vermögen den Ansprüchen des Freiwilligen-Aufrufs vom 3. Februar. Andere wurden mit Hilfe von Spenden ausgerüstet, darunter viele Studenten.

Unter den preußischen Freiwilligen insgesamt dominierte die städtische Bevölkerung. Dabei fällt insbesondere die Überpräsentierung von zwei Sozialgruppen auf: Die Handwerker und Handwerksgesellen stellten über 40 %, Bauern sowie Tagelöhner und Knechte jeweils etwa 15 %, die „gebildeten Stände" 12 %, darunter die Studenten allein 5 %. Diese letzte Zahl scheint der älteren Charakterisierung der Befreiungsbewegung als einer der akademischen Jugend zu widersprechen, und sie widerspricht ihr auch, sofern damit eine Vernachlässigung des Engagements breiterer Volksschichten verbunden war. 5 % der beruflich erfaßten Freiwilligen bedeuteten indessen rund 20 % der deutschen (nicht allein der preußischen) Studenten. Nimmt man die zeitlich verzögerte Bildung von Freiwilligen-Einheiten in den früheren Rheinbundstaaten hinzu, dürfte sich nach meiner Schätzung nicht viel weniger als die Hälfte der gesamten deutschen Studentenschaft in den Grenzen des späteren Deutschen Bundes an den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 beteiligt haben. Im Unterschied zu Preußen und einigen Teilen Nord- und Mitteldeutschlands war in Süd- und Westdeutschland sowie in Sachsen der Aufbruch eines Teils der Studentenschaft, der älteren Gymnasiasten und des erwachsenen Bildungsbürgertums jedoch nicht eingebettet in eine vergleichbare allgemeine Mobilisierung. Daß es sich dabei nicht um Randphänomene handelte, belegt auch die Existenz von Hunderten von ‘Patriotischen

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Frauenverbänden’ keineswegs nur in Preußen, die, hauptsächlich durch humanitäres Engagement, beim Befreiungskampf mithelfen wollten.

Das Freikorps Lützow wurde speziell für nichtpreußische (meist, aber nicht ausschließlich deutsche) Freiwillige geschaffen. Faktisch waren selbst hier über zwei Fünftel preußische Staatsangehörige. Der Rest kam überwiegend aus Nordwestdeutschland und Mitteldeutschland (darunter die bis 1807 preußischen Territorien). Das Korps sollte mit einer beweglichen, guerillaähnlichen Kampfführung, die regulären Truppen unterstützend, im Rücken des Feindes operieren, um „den überall unter der Asche glimmenden Funken Raum zu schaffen." [W. H. Ackermann an J. Blochmann v. 26.3.1813, in: Georg K. Barth, Der Lützower und Pestalozzianer W. H. Ackermann aus Auerbach i. V., Lehrer an der Musterschule in Frankfurt a. M. Leipzig und Berlin 1913, S. 11. ] Die weitreichenden Erwartungen richteten sich auf die Entfesselung von Volksaufständen in den Napoleon anhängenden Rheinbundstaaten.

Pro forma „königlich preußisches" Freikorps, waren die Lützower nach übereinstimmendem Zeugnis in ihrem Selbstverständnis eine deutsche Formation, die für die „gemeinsame Sache des deutschen Landes" [Zit. nach Friedrich von Ammon, Das Leben Doktor Christian Samuel Gottlieb Nagels, Direktor des Königl. Preußischen Gymnasiums zu Kleve, Ritter des Eisernen Kreuzes, nebst einer Auswahl seiner Reden und Gedichte, Bd. 1, Kleve 1829, S. 76.] kämpfte. Jedenfalls dürfte diese Feststellung für die Angehörigen der Bildungsschichten gelten, die bei den Lützow-Jägern mit einem Drittel einen einmalig hohen Anteil stellten. Neben der gesamtdeutschen Zusammensetzung schufen die irreguläre Kampfesweise mit dem abenteuerlichen Einschlag und die nach traditionellen Maßstäben unmilitärischen Einrichtungen (Ehrengericht, Offizierswahl) und Umgangsformen das Selbstbild vom schwarzen ‘Korps der Rache’, das von dem gezielt genährten Mythos von ‘Lützows wilder, verwegener Jagd’ gestützt wurde.

Anders als die Landwehr, die zunehmend erfolgreich kämpfte, wurde der Landsturm nur selten an militärischen Operationen beteiligt, und die Resultate scheinen, wo das doch geschah, die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines systematischen Partisanenkriegs in Preußen bzw. Deutschland zu bestätigen. Doch lag das Problem des

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Landsturms auch in der Behinderung durch die Armee, durch konservative oder einfach ordnungsliebende Beamte, Gutsbesitzer und Fabrikanten, denen die Volksbewaffnung unheimlich war. Jedenfalls fehlte es in der Regel wohl nicht am Einsatzwillen. Außerdem wirkte wiederholter Alarm, ohne daß ein Einsatz erfolgte, demoralisierend.

Die Ausweitung des Befreiungskrieges zu einem gesamtdeutschen Krieg zwischen August (Eintritt Österreichs) und November (Übertritt der Rheinbundstaaten) erfolgte erst zu einem Zeitpunkt, als die insurrektionelle und die Volkskriegskomponente auch in Preußen weitgehend zurückgedrängt war (Revision der Landsturmverordnung, militärische Zerschlagung des Freikorps Lützow und Ausbotung seiner Reste u. a.). Die Beteiligung der Süddeutschen am Krieg 1813/14 wies nicht nur eine Phasenverschiebung gegenüber dem Norden auf, sondern sie war, selbst dort, wo man – wie das überwiegend der Fall gewesen zu sein scheint - den Erfolg der Alliierten uneingeschränkt begrüßte, viel passiver. Große Teile der Bevölkerung sahen den Krieg weiterhin nicht als den ihren an, auch wenn sie sich von Napoleon abgewandt hatten.

Die von Preußen ganz erheblich abweichende Stimmung spiegelten auch die landesherrlichen Kriegsaufrufe nach dem Übertritt auf die alliierte Seite. Großherzog Carl von Baden begann seinen Aufruf am 20. November 1813 mit einer Rechtfertigung seines bisherigen Verbleibens im napoleonischen Lager und erwähnte seine vergeblichen Bemühungen um Neutralität, nachdem die ‘allwaltende Vorsehung’ „die Siegesfahne den französischen Waffen entrückt" habe. Nun gehe es um die „Erhaltung Badens, die Erkämpfung deutscher Freiheit und Unabhängigkeit", die „Herstellung eines allgemeinen Friedens" und die „Begründung eines dessen Dauer sichernden politischen Gleichgewichts". [Hier zit. nach dem Abdruck in: Mitteilungen der Zentralkartei für Studenten-Stammbücher 25 (1966): 1813. Aufrufe. Zur Erinnerung an Deutschlands Befreiungskämpfer 1813-1815.]

Kaum beteiligt an der mit dem Kriegseintritt verbundenen politischen Mobilisierung war Österreich. Die Intentionen der Regierung Metternich, die davor zurückschreckte, die Volkskräfte zu entfesseln, die streng obrigkeitsorientierten und dynastischen Artikulationen der harmlosen Publizistik und die mutlose Stimmung der Bevölkerung ließen einen Preußen oder, ab Herbst 1813, auch nur West- und Süd-

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deutschland entsprechenden Enthusiasmus nicht entstehen. Den Hintergrund bildete die Niederlage im Krieg von 1809 einschließlich der damaligen Erfahrung, vom außerösterreichischen Deutschland - abgesehen von einigen kleineren Aufstandsversuchen - allein gelassen worden zu sein.

Die Einbeziehung der Steuerverweigerungen, Desertionen, Unruhen und Aufstände des Winters und Frühjahrs 1813, die durchweg das nördliche Deutschland betrafen - ein für den April 1813 geplanter Aufstand in der gesamten Alpenregion wurde von der österreichischen Regierung vereitelt - kann das Gesamtbild nur modifizieren, nicht aber generell in Frage stellen. In Hanau und im Großherzogtum Berg setzten bereits im Januar 1813 Unruhen gegen Aushebungen und Konskriptionen ein. Im Königreich Westfalen, dessen Bevölkerung dem von Napoleon geschaffenen Staat besonders distanziert gegenüberstand, kam es zu Ausschreitungen gegen Gendarmen, Maires, Steuereinnehmer, aber auch gegen Wucherer und Geldverleiher, teilweise Juden, die vermeintlich von der französischen Herrschaft profitiert hatten, und vereinzelt gegen Großgrundbesitzer. In Bayern entzogen sich die jungen Männer in großer Zahl der Rekrutierung - bis an die Schwelle der Rebellion. Die Unruhen der ‘Knüppelrussen’ in den Gewerberegionen des Großherzogtums Berg erhielten eine spezielle Note durch die dortige Arbeitslosigkeit, die eine Folge der französischen Zollpolitik war. Die den Zorn Napoleons erregende, demonstrativ milde Behandlung der Aufständischen durch einheimische Behörden und Gerichte darf zudem als Distanzierung des beamteten Bürgertums zu einem Zeitpunkt angesehen werden, als die totale Niederlage der Franzosen noch keineswegs abzusehen war. Weitere Volksunruhen sind überliefert aus Bremen, Oldenburg, Dresden, Erfurt, Lippe, Hessen-Darmstadt und dem Großherzogtum Frankfurt.

Von anderem Gewicht war der Aufstand, der sich Ende Februar - ausgehend von einem spontanen Aufruhr der Hamburger Unterschichtenbevölkerung - mit Angriffen auf Zollwächter, Steuerverwalter und andere ‘Franzosenfreunde’ nach Lübeck, Stade, Lüneburg usw. ausweitete und nach dem Vormarsch der Russen im März 1813 zum (zeitweiligen) Rückzug der Franzosen aus dem 1810 annektierten Gebiet zwischen Küste, Hamburg, Lüneburg und Oldenburg führte. Die Besitzenden waren an Auseinandersetzungen dieser Art in der Regel nicht beteiligt; sie unterstützten vielmehr die von Napoleon

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eingeführten Bürgergarden, die der Aufrechterhaltung der Ordnung und dem Schutz des Eigentums dienten. National-deutsche Motive sind in den nord- und westdeutschen plebejischen Unruhen allenfalls rudimentär auszumachen.

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5. Politisches Denken in der Befreiung

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß das Denken der großen Bevölkerungsmehrheit, namentlich der Landbevölkerung von national-deutschen und von konstitutionell-liberalen Ideen noch kaum berührt war. Anscheinend spielte ein vages gemeindeutsches Empfinden mit politischer Tendenz bereits eine gewisse Rolle, aber im Vordergrund standen hier eindeutig naive Formen von heimatlichem Landespatriotismus, die meist an die Person des angestammten Herrschers und die Dynastie gebunden und stark religiös gefärbt waren. Im westfälischen Raum hob sich z. B. die enthusiastische, kriegsbejahende Haltung großer Bevölkerungsteile in der Grafschaft Mark, die fast 200 Jahre zu Brandenburg-Preußen gehört hatte, bis sie 1808 dem Großherzogtum Berg zugeschlagen worden war, deutlich von der Zurückhaltung anderer Territorien ab. Und im bayerischen Franken kam es im Frühjahr und Sommer 1813 zu Sympathieäußerungen für die Gegner Napoleons vor allem in den - wenn auch nur kurzfristig - preußischen Territorien Ansbach und Bayreuth.

Um über die Feststellung, ein „naiver Monarchismus" sei vorherrschend gewesen, hinauszugelangen, wären eingehende Untersuchungen zur Stimmungs- und Bewußtseinslage erforderlich. Darüber, welche Hoffnungen und Vorstellungen die ‘Volksmassen’ mit ihrer monarchischen Gesinnung verbanden, kann bislang nur spekuliert werden. Immerhin deutet die starke Beteiligung an den Oktoberfeiern 1814 und 1815 (in Erinnerung an die Leipziger Schlacht) mit insgesamt wahrscheinlich Hunderttausenden von Teilnehmern in hunderten Orten Deutschlands darauf hin, daß über das Bildungsbürgertum hinaus zumindest eine erhebliche Minderheit der Bevölkerung zeitweise in den Sog der auf den Befreiungskrieg zurückgehenden Politisierung geriet.

Eine gemeinsame Zielsetzung, die über die Beendigung der französischen Vorherrschaft hinausgegangen wäre, kannte die Unabhängigkeitsbewegung nicht. Sofern unterhalb der Regierungsebene, wo

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sie stark instrumentellen Charakter hatten, überhaupt weiterreichende programmatische Aussagen getroffen wurden, blieben sie in der Regel diffus. Eine klare Scheidung der politischen Positionen war angesichts des rudimentären Standes der öffentlichen Debatte noch nicht vollzogen, politische Positionswechsel waren nicht selten. Religiöse Motive und Begründungen, die vor allem von der Erweckungsbewegung des Protestantismus inspiriert waren, prägten mündliche und schriftliche Äußerungen. Bei den meisten Autoren, von Ernst Moritz Arndt über Joseph Görres bis zu den Gebrüdern Schlegel, waren in unterschiedlichem Mischungsverhältnis emanzipatorische mit illiberalen, auf Modernisierung gerichtete mit rückwärtsgewandten Anschauungen in ein und derselben Person vereinigt, und es bedarf einer je spezifischen, eingehenden Analyse, wie sie hier nicht geleistet werden kann, um die programmatische Relevanz der jeweiligen Aussagen einzuschätzen und Äußerliches von inhaltlich Substantiellem, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Doch lassen sich die Protagonisten im Hinblick auf den gedanklichen Kern ihrer Schriften und auf ihr praktisches Verhalten in aller Regel in eine eher progressive und eine eher konservative oder gar regressive Richtung unterteilen. Die Kriterien für eine solche Zuordnung - Überwindung ständisch-feudaler Strukturen zugunsten von Leistungssteigerung und zugleich Liberalisierung von Staat und Gesellschaft - können sowohl aus den zeitgenössischen Debatten als auch aus der Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne entnommen werden und müssen kein moralisches oder ästhetisches Werturteil einschließen.

Der junge Leopold von Gerlach, der spätere preußische Hochkonservative, beeindruckt von dem Enthusiasmus der sich ab Februar 1813 in Breslau sammelnden Kriegsfreiwilligen, unterschied drei Strömungen: Den „Aristokraten" und ihren Gefolgsleuten stellte er als Gegner des Feudalismus die „Demokraten" gegenüber, die „Ausgezeichnetsten und Kräftigsten unseres Landes", sowie die „Anarchisten", „Studenten, Doktoren, Buchhändler usw. [...] Ihr Anführer ist Jahn". [Hans-Joachim Schoeps (Hg.), Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805-1820, Berlin 1963, S. 95.] Auch wenn es sich hier kaum um klare politische Zuord-

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nungen handelte, sind Gerlachs Beobachtungen und intuitive Aussagen immerhin ein Indiz für die Existenz politischer Differenzierungen nicht nur zwischen Progressiven und Konservativen (‘Aristokraten’), sondern im Ansatz auch zwischen frühliberalen Anhängern der preußischen Reformen (‘Demokraten’) und radikaleren Kreisen (‘Anarchisten’ bei Gerlach, ‘Demokraten’ in der Terminologie des späteren Vormärz). Anders als es oberflächliche Urteile suggerieren, beinhaltete namentlich der ‘volkstümliche’ Nationalismus der Jahre um 1813, vor allen anderen vertreten von Arndt, Fichte und Jahn, eine in der Grundtendenz eindeutige gesellschaftspolitische Stoßrichtung: Er mußte sich im Interesse der inneren Einheit der Nation gegen Duodez-Absolutismus, Legitimismus und Feudalismus wenden. Von den eigentlichen politischen Romantikern wie Adam Müller lassen sich die Volkstümler durchaus unterscheiden, auch wenn ihre Reformvorschläge in dieser frühen Phase ihres Wirkens meist vage blieben.

Nachdem sich kulturnationales Denken schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts in den Bildungsschichten verbreitet hatte - die Heidelberger Romantik gab lediglich einen neuen Schub -, gewann der politische Nationalismus, hauptsächlich in Gestalt des Volkstumsnationalismus, in Auseinandersetzung mit der napoleonischen Vorherrschaft ab 1806 ideologisch feste Formen und eindeutige Bezugspunkte. Große Teile des frühnationalistischen Gedankengebäudes stammten aus den patriotischen Schriften des 18. Jahrhunderts, und seine schnelle Rezeption unter den Gebildeten war nur dadurch möglich. Neu waren die Verknüpfung der verschiedenen Elemente und ihre Konzentration auf einen Punkt: die Nationwerdung des deutschen Volkes unter dem Druck einer Fremdherrschaft, die nicht nur aus ökonomischen und politischen, sondern vor allem aus kulturellen Gründen als bedrohlich, auch für die eigenen Werte und Lebensformen, empfunden wurde. Der Franzosenhaß und die teilweise bis ins Groteske gesteigerte Deutschtümelei einiger Nationalpatrioten sind in dieser Periode letztlich daraus zu erklären. Die Radikalisierung und Politisierung des kulturnationalen Denkens und des national orientierten Patriotismus in den Jahren nach 1806 war in der Selbstinterpretation ihrer Betreiber ein defensiver Akt. Es galt zu hindern, daß „ein Volk seine Eigentümlichkeit verläßt" und, „mißhemmend seine innere Natur, in

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fremde Kreise hinübertaumelt". [Joseph Görres in einem Zeitschriftenartikel vom August 1810, auszugsweise in: Hans-Bernd Spies (Hg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15, Darmstadt 1981, S. 160ff.] Dabei ging es dem Selbstverständnis der Beteiligten nach zunächst und zuerst um die Veränderung des Bewußtseins und Verhaltens und erst in zweiter Linie um institutionelle Um- oder Neugestaltung in der staatlichen (bzw. zwischenstaatlichen) und gesellschaftlichen Sphäre.

Was die Überlegungen betrifft, die die führenden preußischen Reformer und, in ihrem Gefolge, die Nationalaktivisten in den Jahren 1812 bis 1815 zur Gestaltung der Nachkriegsordnung anstellten, überrascht die auf den ersten Blick beinahe beliebig erscheinende Flexibilität. So soll Jahn 1813 im Lützower Korps die Meinung vertreten haben: „Einen Kaiser müssen wir haben, ein einziges Deutschland muß sein. Ob unser [Preußens] König oder der Kaiser von Österreich die deutsche Kaiserkrone erhält, ist mir einerlei; aber ein einziges Oberhaupt muß sein." Einem anderen Zeugen zufolge wollten die Lützower „ein mächtiges Deutschland [...], in welchem Ein Gott, Ein Kaiser oder König und Ein Gesetz" zu walten hätten. [Zit. nach Ch. E. Langethal, Das Leben Heinrich Langethals, Wien 1883, S. 13; Briefe aus den Feldzügen 1813 und 1814, in: Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine 66 (1886), S. 29.]

Man war realistisch genug zu erkennen, daß die Kräfteverhältnisse nach dem Anschluß Österreichs an die Verbündeten, der Quasi-Garantie für die süddeutschen Rheinbundfürsten und der Zurückdrängung der Steinschen Zentralverwaltung in Frankfurt eine - wie auch immer im einzelnen geartete - Verwirklichung des angestrebten ‘Volksstaates’ nicht zuließen und es nur darum gehen konnte, die Unabhängigkeit nach außen und den politischen Bewegungsspielraum im Innern so zu befestigen, daß der künftigen Entwicklung in diese Richtung die Bahn nicht versperrt würde. Die Unbestimmtheit und das tastende Suchen nach Formen praktischer Politik für die Nachkriegszeit waren indes nur zum Teil das Ergebnis nüchternen Kalküls. Das Erlebnis bzw. die Vorstellung weitgehender Geschlossenheit der Deutschen gegenüber dem Feind beförderte auch die Hoffnung auf eine freiheitliche Neuordnung Deutschlands im Konsens mit Fürsten und Adel, deren Mehrzahl, so hoffte man, durch die Zeitereignisse geläutert wäre. Eine bewußt vorangetriebene Polarisierung innerhalb

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des antinapoleonischen Lagers schien weder opportun, noch entsprach sie der eigenen Stimmungslage. Wenn das schon für die Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung großenteils galt, dann ist für das national-deutsch orientierte Bürgertum insgesamt nichts anderes anzunehmen.

Diese Feststellung ist allerdings sogleich einzuschränken. Von Anfang an gab es bei einzelnen Kriegsteilnehmern Befürchtungen, nach dem Sieg könnten reaktionäre Kräfte wieder erstarken, wenn es den „Schlechten" und „Erbärmlichen" gelinge, das Volk wieder einzuschläfern. Die Vorbehalte der gesellschaftlich führenden Gruppen, namentlich des Offizierskorps und des preußischen Hofes, gegen die national-deutschen ‘Jakobiner’ sowie die abnehmende Bedeutung der Selbständigkeit von Teilen der Bevölkerung für den Gesamtverlauf des Krieges waren geeignet, solche Befürchtungen zu bestätigen. Bereits zum Jahresende 1813 fragte der Berliner Rechtsreferendar und freiwillige Jägeroffizier Friedrich August Mebes in einem Brief: „Wird es wieder ein heiliges römisches Reich geben mit seinen drittelhalbhundert Souveränen und tausend Ministern und mit allem jenem aristokratischen Firlefanz von Kummer- und Jammer- und Domherren, mit jener adligen und bürgerlichen Bande und jenen mittelalterlichen Traditionen? Das in Strömen geflossene Blut ist doch gewiß nicht dafür vergossen worden, daß Deutschland in Zukunft sich wieder eines Kurfürsten von Hessen und anderer solcher Potentaten erfreuen soll! Und doch scheint alles sich so und nicht anders gestalten zu wollen.[...] Ein Land, wo man deutsch spricht, wird es da in Zukunft wohl ferner noch geben, aber schwerlich ein Deutschland." [Briefe aus den Feldzügen 1813 und 1814, in: Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine, Bd. 66 (1886), S. 314f.] Dieser Sorge vor einer Restauration stand indessen die Ratlosigkeit gegenüber, wie eine solche Entwicklung verhindert werden könnte. Die Ablösung der Fremdherrschaft, des napoleonischen Hegemonialsystems, die die nationale Selbstfindung und Abgrenzung der Deutschen erst ermöglichen würde, schien trotzdem nur denkbar durch einen möglichst vollständigen militärischen Sieg über Frankreich.

Die Wehrverfassung wurde ab 1813 zum konkretesten Programmpunkt der Unabhängigkeitsbewegung, deren Vertreter sich vielfach um die Organisierung von Landwehr und Landsturm bemühten - zu-

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erst in Preußen, dann im restlichen Deutschland. Solange kein einheitlicher deutscher Staat existierte, sollten wenigstens die Form und der geistige Inhalt gemeindeutsch geprägt sein. Bereits der Deutschen Legion in Rußland hatte 1812 die Vorstellung zugrunde gelegen, man könne die Einheit Deutschlands über die Schaffung einer gesamtdeutschen Armee einleiten.

Die Idee der Volksbewaffnung enthielt nicht nur ein militärisches und sicherheitspolitisches Konzept, sondern hatte auch pädagogische und gesellschaftspolitische Implikationen. Das Leitbild des freien Bürgers als Krieger war dem des ‘Mietlings’ wie dem des Untertanen diametral entgegengesetzt. Speziell die Söldnerheere des Absolutismus und dessen Eroberungskriege sollten der Vergangenheit angehören. Arndt forderte die Soldaten in einer weit verbreiteten Kampfschrift auf, die Loyalität gegenüber dem deutschen Volk und dem Gesamtvaterland über die Bindung an die Fürsten zu setzen. „Das ist teutsche Soldatenehre, daß der Soldat fühlt: Er war ein teutscher Mensch, ehe er von teutschen Königen und Fürsten wußte." [Ernst Moritz Arndt, Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten, auszugsweise in: Befreiungskriege. Erläuterungen zur deutschen Literatur, Berlin 7 1976, S. 129-131, hier S. 130. ]

Klare Verfassungsforderungen wurden, soweit bekannt, 1813/14 aus den Freiwilligen-Einheiten oder seitens der Publizistik nicht erhoben. Befreiungsnationalisten wie Arndt und Jahn wünschten die, allerdings meist nicht präzise definierte, Mitwirkung einer quasi-parlamentarischen, teilweise ‘ständisch’ konstruierten Volksvertretung. Ganz ohne Widerhall dürften solche konstitutionellen Forderungen nicht geblieben sein. Dagegen spricht schon das - gewiß ambivalente und unklare - sog. Verfassungsversprechen des preußischen Königs vom 22. Mai 1815, während des letzten Feldzugs gegen Napoleon. Die Geschichte der Französischen Revolution war unter den gebildeten Kriegsteilnehmern auch den Jüngeren nicht unbekannt, und abweichende Modelle, wie die der Königreiche Großbritannien und Schweden, waren in den nationalpatriotischen Zirkeln schon vor 1813 diskutiert worden. Die Verfassungsfrage lag in der Endphase der antinapoleonischen Kriege sozusagen in der Luft. Sie wurde in weiten Teilen Europas aufgeworfen und drang direkt oder indirekt bis in offizielle Regierungsproklamationen der Kriegsgegner Napoleons vor.

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Die spanische und die sizilianische Verfassung von 1812 gehörten ebenso in diesen Zusammenhang wie die norwegische von 1814.

Wichtiger noch: Auch ohne explizite Berücksichtigung konstitutioneller Elemente ließen - namentlich in Preußen - obrigkeitliche, kirchliche und publizistische Verlautbarungen ein neues, „regeneriertes Modell" [Graf, Gottesbild, S. 102. ] der Monarchie erkennen, in dem der gemeinsame Dienst für das Vaterland und ein allgemeines Staatsbürgertum sich gegenseitig bedingten und das erfolgreiche Zusammenwirken im Krieg - wie unbestimmt auch immer - eine Verheißung für die Nachkriegszeit enthielt. Viel stärker als etwa in England richteten sich in Preußen und anderen deutschen Staaten nicht nur konservative, sondern auch reformerische und emanzipatorische Erwartungen auf den Monarchen, der trotz aller verbalen Hochschätzung so quasi zu einem Vertreter der Interessen und des Willens der ‘Nation’ wurde.

Bei aller Vorsicht wird man behaupten dürfen, daß erhebliche Teile der Bildungsschichten, besonders in Nord- und Mitteldeutschland, von national-deutschen politischen Auffassungen beeinflußt wurden. Für die Mehrheit selbst des Bildungsbürgertums blieb wohl ein Landes- oder Staatspatriotismus bestimmend. Dieser konnte, wie teilweise in manchen der früheren Rheinbundstaaten, eine Abgrenzung gegenüber gemeindeutschen Zielen beinhalten; er stand dazu aber nicht unbedingt im Widerspruch und wurde vielfach auch nicht als widersprüchlich empfunden. Das gilt namentlich für Preußen, wo landes- und nationalpatriotische Motive 1813/14 weitgehend als im Einklang miteinander stehend wahrgenommen werden konnten.

Die spezifisch preußische Form staatlichen Patriotismus ließ am ehesten Spielraum für Übergänge sowohl vom Partikularen zum Gesamtnationalen als auch von obrigkeitsstaatlichen zu partizipatorischen Bezügen. Auch Inhalt und Verlauf der Verfassungsbestrebungen nach 1813/14 sprechen dagegen, einzelstaatlichen und gesamtdeutschen Patriotismus - in Preußen wie anderswo - diametral gegenüberzustellen. Es waren außerhalb der Regierungen zum großen Teil dieselben Personen und Gruppen, die die politische Mitwirkung durch Verfassungsgebung in den verschiedenen deutschen Staaten befürworteten und die für die konstitutionelle Ausgestaltung des Deutschen

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Bundes eintraten. Unabhängig von der Frage, ob der von den Regierungen der süddeutschen Verfassungsstaaten intendierte, je eigene, separate Nationsbildungsprozeß jemals die Chance hatte, sich gegen die gesamtdeutsche Nationsbildung politisch durchzusetzen (man wird eine solche Möglichkeit nicht a priori ausschließen dürfen), gibt es somit objektive und subjektive Gründe, die konstitutionellen Entwicklungen in den süd- und teilweise mitteldeutschen Reformstaaten als einen Teil der Nationswerdung der Deutschen insgesamt zu begreifen.

Die erhebliche Spannbreite der politischen Positionen spiegelte sich in der Lyrik der Befreiungskriege, die neben der Flugschriften- und Zeitungspublizistik eine wichtige Rolle für die gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung spielte. Wohl zu recht gehen neueste Forschungen davon aus, daß gerade die landespatriotischen Dichtungen geeignet waren, die breiten Volksschichten zu erreichen, teilweise mit ausgesprochen restaurativer Ausrichtung wie im früheren Kurhessen. Unter den Dichtern mit national-deutscher Aussage erlangte Ernst Moritz Arndt mehr als jeder andere Zugang zum ‘einfachen Volk’; von Prosa und Lyrik aus seiner Feder wurden teilweise mehr als zehntausend Exemplare in Umlauf gebracht. Aber selbst für die territorialstaatlich-konservative Lyrik ist zu bedenken, daß sie an einer Diskussion partizipierte, die „durch Gefühls- und Bewußtseinsbildung zur politischen Mündigkeit führt" und zum „Aufbau einer politisierten öffentlichen Meinung" beiträgt. [Weber, Lyrik, S. 207 (hier bezogen auf Preußen).]



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6. Der Charakter der Befreiungskriege

Das für Deutschland einzige eindeutige Ergebnis der Kriege von 1813/14 und 1815 war die Wiederherstellung und Sicherung der Unabhängigkeit der deutschen Einzelstaaten nach außen und ihre Zusammenfassung im Deutschen Bund. Diese Errungenschaft, die Unabhängigkeit, ist nicht als gesellschaftspolitisch unerhebliche Äußerlichkeit abzutun, sondern sie schuf eine der grundlegenden Voraussetzungen eigenständiger staatlich-nationaler und bürgerlich-kapitalistischer Entwicklung im deutschsprachigen Mitteleuropa. Um dieses Resultat - Unabhängigkeit von Frankreich und anderen Mächten - zu

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erzielen, war, neben der internationalen Koalition, in Deutschland selbst ein breites antihegemoniales Bündnis erforderlich gewesen. Es ist schwer vorstellbar, daß es ohne die Fürsten und ihre stehenden Heere möglich gewesen wäre, Napoleon 1813 aus Deutschland zu vertreiben und 1814 den Krieg gegen ihn zu gewinnen.

Demgegenüber ist der Anteil der dem Krieg eigenen Elemente von Volkserhebung und Volkskrieg viel schwerer zu gewichten, zumal diese spätestens mit dem Beginn des Herbstfeldzuges auch bewußt zurückgedrängt wurden (was wiederum aber nur aufgrund ihrer relativen Schwäche möglich war). Die materielle Überlegenheit der antinapoleonischen Koalition im Herbst 1813, deren Teilnehmer militärstrategisch und -technisch inzwischen viel von dem Kontrahenten gelernt hatten, machte einen Sieg über Frankreich früher oder später wahrscheinlich, falls das Bündnis zusammenhielt. Das durfte nach den Erfahrungen der vorausgegangenen beiden Jahrzehnte aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Von dem Nimbus des Unbesiegbaren war Napoleon selbst nach dem Rußland-Feldzug noch einiges geblieben, bis die Leipziger Schlacht auch psychologisch insofern einen Umschwung herbeiführte. Man darf die Bedeutung der nichtkonventionellen Komponenten des Krieges also nicht auf die Ebene der militärischen Entscheidungen reduzieren. In den kritischen Monaten, als sich die Frage des Kriegseintritts Preußens entschied und als es darauf ankam, nach den ersten Niederlagen im Frühjahrsfeldzug, Heer und Bevölkerung zum Durchhalten zu motivieren, erhielten die außerobrigkeitlichen Faktoren - vorübergehend - ein sehr großes Gewicht.

Noch relevanter für die Einschätzung der Befreiungskriege ist aber eine andere Überlegung: Keineswegs bedeutete das Kriegsende 1814 bzw. 1815 als solches schon den Übergang von einer reformerisch geprägten, tendenziell progressiven Epoche der europäischen und namentlich deutschen Geschichte zu einer restaurativ geprägten, tendenziell reaktionären Epoche, wenngleich - so ist einzuräumen - eine schrittweise Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse schon seit dem Herbst 1813 zu konstatieren ist, deutlicher dann ab 1816. Namentlich in Preußen erstarkten mit dem Ende der Staatskrise die höfischen Kreise, während dezidierte Reformer zurückgedrängt wurden. Doch handelte es sich noch nicht um einen unumkehrbaren Trend. Daß der soziale Wandel ungeachtet dessen in den kommenden

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Jahrzehnten weiterging und wesentliche Reformen weiterwirkten, ist ohnehin unbestritten. Von einer weitgehenden Restauration läßt sich im Königreich Hannover und im Kurfürstentum Hessen sprechen; restaurative Tendenzen unterschiedlicher Stärke zeigten sich auch in anderen deutschen Territorialstaaten.Die einschneidende Wende der politischen Entwicklung Deutschlands liegt jedoch nicht 1814/15, sondern einige Jahre später, markiert durch den Kongreß von Aachen, die Karlsbader Beschlüsse und die Wiener Schlußakte sowie die Ausschaltung der führenden Reformer und schließlich den Tod Hardenbergs in Preußen.

Eine solche Periodisierung betont erstens die Kontinuität im preußischen wie im rheinbündischen Deutschland von der napoleonischen Zeit über die Befreiungskriege bis in die frühe Nachkriegsperiode und hebt zweitens auf die relative Offenheit der Situation ab 1813 bzw. ab 1815 ab. Gewiß ließ die auf dem Wiener Kongreß festgelegte Ordnung eine konsequente Anwendung des Nationalstaatsprinzips durch Selbstbestimmung nicht zu. Aber sie bedeutete auch nicht einfach die Rückkehr zur klassischen Kabinettspolitik und schon gar nicht die Verwirklichung des Gedankens der historisch-dynastischen Legitimität. Diese wurde eher funktional gehandhabt. Entscheidend war das Ziel der Fürsten und ihrer meist aristokratischen Politiker, nach zweieinhalb Jahrzehnten revolutionärer Unruhe durch die Herstellung eines europäischen Gleichgewichts den Frieden längerfristig zu sichern und damit einen erneuten Ausbruch der Revolution zu verhindern. Daß dabei auch spezifische Großmachtpositionen ausgebaut werden sollten, ging in den Wiener Kompromiß mit ein.

Der Kernbestand der in napoleonischer Zeit erfolgten Veränderungen blieb erhalten, namentlich in Frankreich selbst (Charte Constitunionelle von 1814, die zumindest de facto liberaler wirkte als die napoleonische Verfassung von 1804). Eine rechtsstaatlich-konstitutionelle Ausgestaltung der inneren Verfassung der Staaten wurde, sieht man von peripheren Regionen wie Skandinavien ab, nirgendwo vorangetrieben, in den ersten Nachkriegsjahren aber auch nur dort verhindert, wo sie mit den friedens- und gleichgewichtspolitischen Maximen kollidierte, so bei der Ablösung der französischen durch die österreichische Vorherrschaft in Italien.

Die Frage lautet in unserem Zusammenhang nicht, ob die europäische Ordnung des Wiener Kongresses hätte überdauern können - als

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Metternichsches System sicher nicht -, sondern ob sie den Kräften des Neuen, den kapitalistischen, staatsbürgerlichen, konstitutionellen und nationalpatriotischen Kräften, von vornherein unüberwindliche institutionelle Hindernisse entgegensetzte. Für den Deutschen Bund, jenen unauflösbaren Staatenbund mit bundesstaatlichen Zügen, wird das – trotz entsprechender Intentionen - heute bestritten. Metternichs Einfluß war in den ersten Jahren nach 1813/14 noch nicht erdrückend, und die Repressionswelle der 1820er Jahre setzte sich nicht aufgrund der Fehlkonstruktion des Deutschen Bundes, sondern aufgrund der Veränderung der innerstaatlichen Kräfteverhältnisse, hauptsächlich in Preußen zugunsten der Reaktionspartei, durch. Das Zustandekommen der süddeutschen Verfassungen in den Jahren 1818 bis 1820, ermöglicht durch den Artikel 13 der Bundesakte, macht aber deutlich, daß zumindest bis Karlsbad über Deutschlands weiteren Weg noch nicht definitiv entschieden war. Eine gesamtpreußische Verfassung wäre für Metternich sicherlich schwer erträglich gewesen; sie wurde faktisch aber nicht von außen zu Fall gebracht, sondern scheiterte im Innern. Die 1813/14 aufgeblühte Publizistik und die Ansätze eines nationalen politischen Vereinswesens (Turnbewegung, Burschenschaft) standen zwar schon einige Zeit und in wachsendem Maß unter obrigkeitlichem Druck, waren in ihrer Dynamik aber noch keineswegs gebrochen, als Zensur und Verbot sie 1819 trafen. Auch diese Überlegungen sprechen dafür, die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts als eine einzige, wenn auch in sich klar gegliederte Epoche des Umbruchs und des reformerischen Aufbruchs zur politischen Nationsbildung in Deutschland, die Befreiungskriege als einen integralen Bestandteil und in mancher Hinsicht auch Höhepunkt dieses Prozesses zu begreifen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

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