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Arthur Schlegelmilch
Anfänge und Perspektiven des Verfassungsstaats in Deutschland und im Habsburgerreich zwischen 1780 und 1820


Der folgende Beitrag bietet einen typologisch gehaltenen Überblick zur deutschen Verfassungsgeschichte des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts einschließlich des Habsburgerreichs und seiner toskanischen Peripherie. Dabei wird in der Hauptsache zwischen drei Entwicklungsrichtungen unterschieden: Erstens dem aufgeklärten Modernisierungs-Despotismus josephinischer Prägung, zweitens der überwiegend bürokratisch gesteuerten und vermittelten preußischen Staatsreform sowie drittens dem Typus der süddeutschen Reformstaaten als Mischung aufgeklärt-absolutistischer und -bürokratischer Eigenanteile mit beträchtlichen, teilweise dominanten Einflüssen des revolutionären und napoleonischen Frankreich. Dieses Orientierungsraster dient zugleich als Grundlage für die Vorstellung einiger wichtiger thematischer Schwerpunkte zum Hauptmotiv „Deutsche Verfassungsgeschichte um 1800". Es sind dies das Problem von Kontinuität und Bruch im Prozeß der Herausbildung des bürgerlichen Verfassungsstaats und der Überschreitbarkeit der „Systemgrenze" zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus („Metamorphose des Absolutismus"), das Phänomen der Herausbildung von Surrogat- und Alternativformen zu Konstitutionalismus und Parlamentarismus („Ersatzrepräsentation") oder die Frage nach Komplementarität, Kompatibilität und Widerspruch im Verhältnis von gesellschaftlicher und staatlicher Ebene. In der Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern wird deutlich, daß die üblichen Begriffsschablonen („Aufgeklärter Absolutismus", „Bürokratischer Absolutismus", „Monarchischer Konstitutionalismus", „Scheinkonstitutionalismus" etc.) sowohl empirischer Vertiefung als auch geschichtlicher Differenzierung und vergleichender Relativierung bedürfen, um den Ansprüchen einer modernen Verfassungshistoriographie gerecht zu werden. Somit versteht sich dieser Beitrag nicht zuletzt als Plädoyer für einen über die bloße Verfassungsrechtsgeschichte hinausweisenden, normative und empiri-

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sche Dimension gleichermaßen berücksichtigenden Verfassungsbegriff.

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1. Aufgeklärter Despotismus oder Metamorphose des Absolutismus? Grenzen und Perspektiven habsburgischer Herrschafts- und Verfassungspolitik

Ein erster Überblick über die Epoche des Aufgeklärten Absolutismus in der Donaumonarchie, die ungefähr den Regierungsjahren Maria Theresias (1740-1780), Josephs II. (1765/80-1790) und Leopolds II. (1790-1792) zugeordnet werden kann und üblicherweise mit dem Sammelbegriff „Josephinismus" (Fritz Valjavec) umschrieben wird, läßt vor allem im Bereich der Staats- und Landesverwaltung anhaltende Reformbemühungen erkennen, die so gravierende Einschnitte mit sich brachten, daß ihnen teilweise das Prädikat einer Staats- und Verfassungsreform ausgestellt worden ist. Auf den ersten Blick war ihr Leitmotiv nicht neu, denn es folgte dem klassisch absolutistischen Ziel der Steigerung der finanziellen und militärischen Ressourcen des Staats und der Monopolisierung der Staatsgewalt in der Person des Monarchen - nunmehr verstärkt durch die Notwendigkeit der Integration der im Ergebnis der Türkenkriege, des spanischen Erbfolgekriegs und der polnischen Teilung von 1772 gemachten Gebietsgewinne. Unter verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel bestand das Neue und Weiterwirkende der theresianisch- josephinischen Verwaltungsreformen jedoch darin, daß erstens besonders schwerwiegende Einbrüche in das ständische System und den Landesföderalismus gelangen und zweitens eine neuartige Argumentationslinie zum Zweck der Legitimation und Absicherung der monarchischen Maßnahmen verwendet wurde. Mit beiden Aspekten und den sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen wollen wir uns näher beschäftigen.

Wie in den meisten kontinental-europäischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts gestaltete sich auch die Um- und Neugestaltung der Donaumonarchie als Prozeß eines permanenten und wechselhaften Ringens zwischen den sich ausdehnenden Herrschaftsansprüchen der Krone und den auf Autonomie, Privilegienerhalt und politische Mitsprache bedachten ständisch-feudalen Kräften. Nachdem es der Monarchie auf dem Wege der sogenannten „Dezennalrezesse" seit Mitte des 18. Jahrhunderts gelungen war, das ständische Steuerbewilli-

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gungsrecht so weit auszuhöhlen, daß die Landtage Steuern für zehn Jahre im voraus bewilligen mußten, folgten intensive Bemühungen um die Kodifizierung und Geltendmachung eines neuen, „allgemeinen" und „vernünftigen" Rechts. Das Ziel bestand darin, den eigenständigen „Staat-im-Staat"-Charakter der Länder weiter zurückzudrängen und die Landtage sowie ständischen Landesbehörden als selbständige Herrschaftsträger der mittleren Ebene entweder auszuschalten oder zu Organen des zentralen Verwaltungsapparats umzufunktionieren. Das Land sollte nicht mehr durch seine Stände verkörpert und mit diesen identifiziert werden, sondern seine Existenz und Rechtsstellung allein aus der fürstlichen Landeshoheit ableiten. Im Interesse der allgemeinen Staatsräson mußte es dann auch erlaubt und möglich sein, gewachsene historische Landesgrenzen zu liquidieren, Länder administrativ zusammenzulegen und im Innern neu zu gliedern - man denke etwa an die Aufhebung der böhmischen und österreichischen Hofkanzleien und deren Vereinigung im 1749 gegründeten „Directorium in publicis et cameralibus" mit einer umfassenden Verwaltungsgliederung auf allen Ebenen; ferner an die Zusammenlegung der neuerworbenen Bukowina mit Galizien 1775, die Aufhebung der althergebrachten ungarischen Komitatsverfassung 1784 oder an die vollkommene Abschaffung aller lombardischen Autonomierechte einschließlich der Degradierung des ehemaligen mailändischen Staats zur habsburgischen Provinz („Österreichische Lombardei") im Jahr 1786. Spektakuläres (und hochgradig provozierendes) Sinnbild dieser traditionsverachtenden und nur dem Staatsinteresse verpflichteten Politik war Josephs II. schroffe Weigerung, sich in den traditionellen Krönungsorten Preßburg und Prag mit der ungarischen Stephans- bzw. böhmischen Wenzelskrone krönen zu lassen. Historisch begründete Sonderverhältnisse sollte es im josephinischen Reich nicht mehr geben - nur die Verpflichtung gegenüber dem Staatsganzen zählte.

Einzelne theresianisch-josephinische Rechts- und Verwaltungsreformen waren unbestreitbar progressiv, so die Kodifizierung des Zivil- und Strafrechts (Codex Theresianus 1766, Josephinisches Gesetzbuch 1786, Josephinisches Strafgesetzbuch 1787, Allgemeine Kriminal-Gerichtsordnung, 1788), die Herstellung klarer Instanzenzüge in Bürokratie und Rechtsprechung, die Liquidierung von Sondergerichten, die Entwicklung von Ressortabgrenzungen, die Aufstellung eines einigermaßen transparenten Staatshaushalts. Dennoch beantwortet

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deren bloße Aneinanderreihung nicht die Frage, ob und inwieweit damit ein „organischer" Reformprozeß vom absoluten Fürstenstaat zum bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat eingeleitet worden ist. Dieses Problem bleibt auch dann bestehen, wenn die im gesellschafts-, kultur- und kirchenpolitischen Bereich angesiedelten Reformmaßnahmen in die Betrachtung einbezogen werden. So beeindruckt zwar die im europäischen Vergleich einzigartige Rigorosität des josephinischen Untertanenpatents vom 1. September 1781, mit dem für Böhmen, Mähren, Krain und Galizien die Erbuntertänigkeit („Leibeigenschaft") kurzerhand aufgehoben und damit die Freizügigkeit der Bauern hergestellt wurde, doch versandete schon der nachfolgende Schritt der Ablösung der bäuerlichen Dienstverpflichtungen („Robot") und war in den adlig-gutswirtschaftlich geprägten Ländern der Wenzelskrone, Galiziens und Ungarns an die Ausbildung einer existenzfähigen, breiten bäuerlichen Mittelschicht nicht wirklich zu denken. Das Leibeigenenpatent von 1781 blieb folglich noch weitgehend dem Prozeß der „Sozialdisziplinierung" (Gerhard Oestreich) als Wesensmerkmal frühneuzeitlicher Modernisierung verhaftet, d.h. es zielte weniger auf die Durchsetzung einer individualistischen, leistungsorientierten bäuerlichen Wirtschaftstätigkeit, sondern in erster Linie auf „die Einordnung der Menschen in den Staat und die Gesellschaft, die Unterwerfung unter die Gesetze und auf die Gewöhnung an rational organisierte und regelmäßige wirtschaftliche Tätigkeit." [Eberhard Weis, Aufklärung und Absolu tismus im Heiligen Römischen Reich. Zum Problem des Aufgeklärten Absolutismus in Deutsch land, in: Eberhard Weis, Deutschland und Frank reich um 1800. Aufklärung - Revolution - Reform, hrsg. v. Walter Demel u. Bernd Roeck, München 1990, S. 9-27, hier: S. 23.]

Eines der Hauptziele der Agrarreformen war die steuerliche Nutzbarmachung des Landes für den Staat. Zu diesem Zweck waren seit 1784 auf kaiserlichen Befehl die Erbländer (mit Ausnahme Tirols) durch Geometer vermessen und Ertragsschätzungen der steuerpflichtigen Grundstücke vorgenommen worden. Mit der für 1789 avisierten Einführung eines „Steuer- und Urbarialpatents" sollte die Basis eines von Grund auf erneuerten, seiner Anlage nach antifeudalen Steuersystems geschaffen werden. Da geplant war, die steuerliche Abschöpfung nicht auf dem Bodenbesitz, sondern auf dem Bodenertrag aufzubauen, waren von ihr auch Bauern ohne Eigenland betroffen, die oh-

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nehin schon ihren Grundherren gegenüber abgabenpflichtig waren. Auch wenn Joseph jene an die Grundherren zu leistenden Abgaben ebenfalls zu regulieren suchte, formierte sich massiver bäuerlicher Protest gegen das Besteuerungsprogramm und verband sich mit dem Widerstand des Adels, der in der Abschaffung seiner Steuerprivilegien eine schwerwiegende Rechtsverletzung erblickte, zumal der neue Grund- und Steuerkataster ohne Befragen der Landtage angeordnet worden war. Ein weiterer adelsfeindlicher Affront bestand darüber hinaus in der Bestimmung, daß der Einzug der Grundsteuer durch die Dorfgemeinden, nicht aber durch die Grundherren erfolgen sollte. In Anbetracht der breiten Ablehnungsfront sollte schließlich Josephs II. Nachfolger, Leopold II., bei seinem Amtsantritt 1790 keine andere Möglichkeit sehen, als das „Steuer- und Urbarialpatent" umgehend außer Kraft zu setzen.

Das gescheiterte Experiment der josephinischen Steuerreform stützt gewiß die Position derjenigen Historiker, die, wie zum Beispiel Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte, die Systemgrenzen des aufgeklärten monarchischen Absolutismus hervorheben und einen „scheinbar unaufhebbaren Widerstreit" und eine „gegenseitige Blockade" zwischen „traditionaler Welt und Modernisierungskräften" konstatieren [Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 2. Aufl., München 1989, S. 341.], zumal sich der paternalistisch-autoritäre Grundzug des Josephinismus in den letzten Lebensjahren des Kaisers noch verschärfte und in die Nähe blanker despotischer Repression rückte. Dies zeigte sich namentlich in den zahlreichen, keine Privatsphäre respektierenden kultur-, sozial- und gesundheitspolitischen Interventionen, der voranschreitenden Zentralisierung des Polizeiwesens sowie der anziehenden Zensur. Die Aktivitäten der an keine klaren Rechtsvorschriften gebundenen, neugegründeten Geheimpolizei taten ein übriges, den allfälligen Eindruck des Auseinanderfallens von Aufklärungsideal und Herrschaftspraxis zu verstärken. Als Zwischenbilanz ist mithin festzustellen, daß der Josephinismus nur an wenigen Stellen aus dem Schatten absoluten Machtstrebens und frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung herausgetreten ist. Ausgehend von der zeitgenössischen Denkfigur des Staats als „Maschine", könnte man sagen, daß deren Effektivität durch einzelne Umbau-

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maßnahmen zwar gesteigert wurde, eine grundlegende Neukonstruktion sich aber nicht abzeichnete.

Wie bereits angedeutet, sind aus dem Blickwinkel der Verfassungsgeschichte nicht nur die konkreten Reformleistungen des österreichischen aufgeklärten Absolutismus, sondern auch deren Begründung von besonderer Bedeutung. Denn diese erfolgte zwar nach wie vor aus fürstlicher Machtvollkommenheit, nun jedoch in einer betont „allgemeinen" und damit auch für den Fürsten verbindlichen Gesetzesform sowie in der Regel mit einer auf „Nützlichkeit" und „Vernunft" abhebenden Argumentation. Mit dem Gottesgnadentum der absolutistischen Staatstheorie, die in ihrer ausgeprägtesten Form im Umfeld des bourbonischen Sonnenkönigs Ludwigs XIV. entwickelt worden war, hatten solche Vorstellungen kaum noch etwas gemein, sondern stützten sich mehr auf das Modell des Herrschaftsvertrags, d.h. der Vorstellung, die souveräne Staatsmacht sei auf dem Wege eines freiwilligen Unterwerfungsaktes vom Volk in die Hände der herrschenden Dynastie gelegt worden. Auch wenn Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651) noch davon ausgegangen war, daß ein solcher Unterwerfungsvertrag einmalig und unkündbar wäre, erwies sich die in der Folge vornehmlich über Christian Wolff vermittelte Vorstellung von der Säkularität und Zweckgebundenheit des Herrscheramts als zweischneidiges Schwert. Während sich damit einerseits radikale Einschnitte in historisch gewachsene ständische Strukturen rechtfertigen ließen, setzte sich die Monarchie andererseits unter massiven und permanenten Rechtfertigungsdruck für ihr eigenes regierungspolitisches Handeln. Damit überstrapazierten die „ersten Diener" ihrer Staaten nicht nur ihre individuelle, persönliche Belastbarkeit, sondern auch ganz allgemein die Leistungsfähigkeit des absolutistischen Systems, verweigerten jedoch beharrlich eine Beschränkung und Teilung der Staatsgewalt, wie sie Montesquieu in seinem De l´Esprit des Lois (1748) nahegelegt hatte.

Diese Konsequenz zog erst Josephs II. Bruder Leopold als Großherzog der habsburgischen Sekundogenitur Toskana und designierter Nachfolger des Kaisers. Nur wenige Wochen vor seiner Inthronisation bekannte er sich in einem als „politisches Glaubensbekenntnis" geltenden Schreiben an seine Schwester Marie Christine von Sachsen-Teschen am 25. Januar 1790 zu der Überzeugung,

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„daß der Souverän, selbst der erbberechtigte, nur der Delegierte des Volkes ist, für das er bestellt ist und daß er diesem alle seine Sorgen, Mühen und Nachtwachen zu widmen hat."

Für die Ausübung und Legitimität fürstlicher Herrschaft ergab sich daraus erstens die Überlegung, „daß jedes Land ein Grundgesetz oder einen Vertrag zwischen dem Volk und dem Souverän haben soll, welches die Autorität und die Macht des letzteren bezeichnet, daß wenn der Souverän dieses Gesetz nicht hält, er tatsächlich auf seine Stellung verzichtet, welche ihm nur unter dieser Bedingung verliehen wurde, und daß man nicht mehr verpflichtet ist, ihm zu gehorchen [...]",

und zweitens die Schlußfolgerung, daß das absolute Regierungssystem überlebt und die Konstitutionalisierung des Staats unausweichlich sei:

„Die begrenzte Monarchie, wo die exekutive Gewalt in den Händen eines Einzigen frei ist und die gesetzgebende Gewalt in denen der Repräsentanten der Nation, ist die beste von allen." [Die Ausführungen Leopolds zit. n. Adam Wandruszka, Leopold II., Bd. 2, Wien München 1963, S. 217f. bzw. Bd. 1, S. 389f.]

Indessen ist es Leopold weder in seinen fast 25 großherzoglichen Regierungsjahren noch in den zwei Jahren an der Spitze des Habsburgerreichs gelungen, die angedachte Umwandlung des absoluten in ein konstitutionelles Verfassungssystem zu vollziehen. Während ein solcher Schritt auf gesamtstaatlicher Ebene angesichts der krisenhaften Umstände des Regierungswechsels von 1790 (Massenerhebungen in den österreichischen Niederlanden; drohende ungarische Rebellion gegen den Wiener Zentralismus; Politisierung der städtischen, v.a. Wiener Bevölkerung) sowie in Anbetracht der Kürze der Leopold noch zur Verfügung stehenden Lebenszeit gewiß nicht im Rahmen des Machbaren lag, spricht dennoch manches dafür, daß das toskanische Großherzogtum ausgangs der 1780er Jahre tatsächlich vor einer Verfassungsrevolution „von oben" stand, nachdem es in der vorangegangenen Dekade gelungen war, den Staatsapparat und die Verwaltung neu zu ordnen, die kirchlichen Angelegenheiten zumindest ansatzweise in landeskirchlichem Sinne umzuorganisieren und die Wirtschaftskraft (und damit auch steuerliche Leistungsfähigkeit) des Landes durch die praktische Anwendung physiokratischer Theorien (Frei-

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handel, Meliorationen vor allem der Sumpfgebiete, Wegebau, Begrenzung und Abschaffung der bäuerlichen Dienstleistungen, Auflösung des Zunftwesens) erheblich zu steigern. In kritischer Distanz zur despotischen Regierungsweise des älteren Bruders hatte Leopold zudem bereits 1782 zusammen mit seinem Minister Francesco Maria Gianni eine verfassungspolitische Alternative erarbeitet, die der von den Theoretikern der Aufklärung erhofften und erwarteten Metamorphose der absoluten in die monarchisch-konstitutionelle Staatsform den Weg ebnen sollte.

Kernpunkte des toskanischen Verfassungsprojekts waren die Anerkennung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie die Bejahung des Gewaltenteilungs- und Repräsentationsprinzips. Die daraus zwangsläufig resultierende Beschränkung der fürstlichen Macht bezog sich, mit Ausnahme des Oberbefehls über das Militär, die Leitung der Universitäten und Akademien sowie wichtiger Ernennungsrechte (Richter, Offiziere, Beamte), auf nahezu alle Grundsatzentscheidungen (Verfassungsänderung, Steuererhebung, jährlicher Staatshaushalt, Kriegführung, Kanal- und Festungsbau), während die Gesetzgebung mit den genannten Ausnahmen an die Zustimmung einer neu zu bildenden toskanischen Abgeordnetenkammer gebunden wurde. Diese sollte über das Recht zur Gesetzesinitiative verfügen, jedoch keinen Einfluß auf die Zusammensetzung der Regierung ausüben, die weiterhin allein vom Großherzog einzusetzen bzw. zu entlassen war. Für die Legislative waren nur neunzehn Abgeordnete vorgesehen - Delegierte der achtzehn toskanischen Provinzen sowie ein Deputierter der mit besonderem Status ausgestatteten Hafenstadt Livorno. Die Auswahl der Abgeordneten erfolgte über Provinzversammlungen, die sich ihrerseits aus Vertretern der jeweils zugehörigen Gemeinden rekrutierten. Somit ergab sich das Bild eines dreistufigen Repräsentationssystems von den Gemeinden über die Provinzversammlungen bis hinauf in die Generalversammlung. Dabei galt das Prinzip des imperativen Mandats, d.h. die Delegierten waren den Wahlkörperschaften gegenüber rechenschaftspflichtig. Die genannten Versammlungen waren nicht als ständische Ausschüsse im klassischen Sinne (Adel, Klerus, Bürger, Bauern) konstruiert, sondern als Vertretungskörperschaften der Grund- und Hausbesitzer („possessori") sowie der Handwerker und Freiberuflichen („artisti stabiliti")

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angelegt: Nicht das Herkommen, sondern Steuerkraft und Berufszugehörigkeit entschieden über das Recht auf politische Mitwirkung!

Sieht man einmal vom Prinzip des „imperativen Mandats" als Merkmal altständischer Repräsentation ab, weist das toskanische Verfassungsprojekt bereits wichtige Merkmale einer frühkonstitutionellen Verfassung auf, teilweise geht es sogar über diese hinaus (Gesetzesinitiativrecht der Abgeordnetenkammer; keine Zweikammer-Trennung der Legislative!). Da die öffentliche Verkündung und damit Inkraftsetzung der toskanischen Verfassung schließlich ausblieb, wurde der Nachweis der Metamorphose des fürstlichen Absolutismus zum Konstitutionalismus niemals erbracht, so daß wir über die Chancen und Perspektiven dieses Verfassungsmodells keine verläßlichen Aussagen machen können. Es verdient aber festgehalten zu werden, daß die Umsetzung nicht an inneren Widersprüchen, sondern an der im Februar 1784 zwischen Leopold und Joseph vereinbarten Erbfolgeregelung scheiterte, die für Leopold bzw. dessen Sohn Franz die Nachfolge des kinderlosen Kaisers vorsah und im Gegenzug eine Fortsetzung der toskanischen Sekundogenitur durch Leopold ausschloß. Außerdem waren zu diesem Zeitpunkt die ersten Fundamente des Verfassungsbaus bereits gelegt worden. So hatte die bereits erlassene Gemeindeordnung nicht nur eine einheitliche, klar gegliederte Behördenstruktur in allen toskanischen Gemeinden eingeführt, sondern mit dem Gemeinderat ein Vertretungsorgan der steuerzahlenden Gemeindeangehörigen geschaffen, das die eigentliche Stadtregierung: Magistrat und Bürgermeister (Gonfaloniere), bei der Wahrnehmung ihrer kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben unterstützte, dabei allerdings nicht gleichrangig mit dieser rangierte. Wie im Verfassungsentwurf wurde auch in der Gemeindeordnung die steuerliche Leistung als Ausweis für politische Mitbestimmung angesehen, indem nämlich nur die Höchstbesteuerten über die Zusammensetzung des Magistrats als des obersten Gemeindeorgans abstimmen durften. Um andererseits jedoch ein übertriebenes Eigenleben der Gemeinden zu verhindern und die Koordinierung und Kontrolle der Kommunalverwaltungen sicherzustellen, wurde als Überwachungsorgan ein „Gemeindekanzler" durch die großherzogliche Regierung ernannt, und zusätzlich entstand mit der „Kammer der Gemeinden" eine Art Gemeindeaufsichtsbehörde, in die der Großherzog kompetente und „unparteiische" Richter und Beamte aus dem Staatsapparat berief.

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Leopolds Gemeindeordnung erntete Beachtung unter Europas Aufklärern und wurde als Teil eines größeren und allgemeinen Verfassungskonzepts weithin anerkannt. Dessen historische Reichweite und Bedeutung ist in der Forschung allerdings kontrovers diskutiert worden. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob der toskanische Reformansatz in seiner Gesamtheit lediglich als Modifizierung absolutistischer Regierung oder bereits als potentieller, nur infolge ungünstiger Rahmenbedingungen blockierter Übergang zum monarchischen Konstitutionalismus zu verstehen sei. In Anbetracht der oben aufgeführten Selbstbekenntnisse und konkreten Bestrebungen kann man gewiß nicht umhin, Leopold die konstitutionelle Perspektive abzusprechen, doch ist in Anbetracht des in vielerlei Hinsicht vorstaatlichen, eher lokal und regional denn zentral geprägten Charakters der Donaumonarchie sowie in Anbetracht einer kaum vorhandenen bürgerlichen Trägerschicht gewiß Skepsis hinsichtlich seiner Übertragbarkeit auf das Gesamtreich angebracht - und dies gilt auch bei Annahme günstigerer äußerer Rahmenfaktoren und einer wesentlich längeren Regierungszeit. Einschränkend ist zudem festzustellen, daß Leopold weder inspirierend noch prägend auf seine Nachfolger wirkte - nicht auf den erstgeborenen Franz und ebensowenig auf dessen jüngeren Bruder Ferdinand, der das toskanische Erbe übernahm. Dagegen blieb der Mythos des Volks- und Bauernkaisers Joseph II. im Kleinbürgertum und in der Landbevölkerung tief verwurzelt, während er als Ideal aufgeklärten Reformkönigtums besonders in der Beamtenschaft nachwirkte.

Immerhin aber dürften die Reformen und Reformansätze der theresianisch-josephinisch-leopoldinischen Ära in ihrer Gesamtheit maßgeblich dazu beigetragen haben, daß sich parallel zur Französischen Revolution in der Donaumonarchie kein ernstzunehmendes revolutionäres Potential entwickelte und selbst die zahlenmäßig sehr kleine „jakobinische" Opposition überwiegend zu den Grundsätzen des reinen Josephinismus zurückstrebte. Ihr Widerstand richtete sich hauptsächlich gegen die schon unter Leopold, noch mehr jedoch unter seinem Nachfolger Franz voranschreitende Restituierung der Adelsherrschaft in den Ländern, die im übrigen auch von weiten Teilen der Staatsbürokratie mißtrauisch verfolgt wurde. Denn mit ihr drohte nicht nur der Abbau und vielleicht sogar Zusammenbruch des ganzen josephinischen Modernisierungswerks, sondern es geriet auch der

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gesamtstaatliche Aspekt immer mehr ins Hintertreffen. Besonders deutlich zeigten sich diese Gefahren am Beispiel Ungarns, das - entsprechend den Zusagen Leopolds und Franz' - keine Ablösbarkeit der bäuerlichen Frondienste gewährte, die Standesgerichtsbarkeit behauptete und generell nur nach dem Reglement der traditionellen Landesverfassung regiert werden durfte. Das hieß konkret, daß ein vom ungarischen Reichstag gewählter „Palatin" die Stellvertretung des Königs innehatte; ferner mußten alle die inneren Verhältnisse Ungarns betreffenden gesetzlichen Maßnahmen zwischen Krone und ungarischem Reichstag direkt ausgehandelt werden, durften also nicht einfach kraft monarchischer Machtvollkommenheit dekretiert werden. Erst als diese ganz und gar gegen das josephinische Zentralisierungsprogramm gerichteten Zugeständnisse Wiens vorlagen, waren die ungarischen Stände bereit, die Erblichkeit der Stephanskrone im Hause Habsburg sowie die grundsätzliche Untrennbarkeit und Unteilbarkeit der Gesamtmonarchie anzuerkennen.

Wie die Katastrophen von Austerlitz (1805) und Wagram (1809) zeigten, war mit Konzessionen an die Länder und ihre vom Adel beherrschten Landtage zwar die innere Lage des Gesamtstaats einigermaßen zu stabilisieren, nicht jedoch die Großmachtstellung Österreichs zu behaupten. Es bedurfte folglich einer Reformpolitik, die die Modernisierungsimpulse des Josephinismus wiederaufnahm und ergänzte, dabei aber nicht gegen, sondern mit den privilegierten Ständen vorging. Dies war freilich in vielen Bereichen ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, wie die wiederholten und letztendlich mißglückten Ansätze zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Regierungsapparats zeigten. Das von Erzherzog Carl, dem konsequentesten österreichischen Reformpolitiker dieser Zeit, völlig zu Recht geforderte Ministerialsystem mit klaren ressorthaften Kompetenzabgrenzungen und Verantwortlichkeiten versandete schon vor 1809 am Widerstand des gegen jede Zentralisierungstendenz obstruierenden Hochadels, aber auch an den Intrigen und Kleinkariertheiten der sich gegenseitig blockierenden Beamtencliquen. Erzherzog Carls resignierter Rückzug aus der Politik noch im Jahr 1809 wurde sozusagen zum Symbol der Unmöglichkeit einer durchgreifenden Staatsreform im Österreich Franz II. Das heißt aber nicht, daß der habsburgische Kaiserstaat vollends paralysiert gewesen wäre. Wie Johann Philipp von Stadion und (ab 1809) Clemens Wenzel von Metternich bewiesen, konnte man mit

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der richtigen Kombination aus Taktik, Flexibilität und Durchsetzungsvermögen zu konstruktiven Resultaten kommen, wobei allerdings das monarchische, das ständische und das (differenziert-) föderative Prinzip als Grundpfeiler der staatlichen Ordnung unangetastet bleiben mußten. Damit waren zwar der Aufbau eines modernen und effektiven Regierungssystems so gut wie und die Bildung eines gesamtstaatlichen Repräsentationssystems ganz und gar ausgeschlossen, einige Reformen konnten aber weitergeführt werden.

Von wachsender Bedeutung war unter diesen Bedingungen die Rolle des Monarchen als Vermittler zwischen bürokratischem Etatismus und ständischem Partikularismus, zumal Vorschläge zur Institutionalisierung und damit Entschärfung dieses Konfliktfeldes nicht umgesetzt werden konnten. Damit aber hatte sich die Rolle des formal immer noch absoluten Monarchen in der Verfassungswirklichkeit so weit verschoben, daß eigentlich weder von aufgeklärtem Absolutismus noch von bürokratischem Absolutismus gesprochen werden kann, denn das für Variante 1 charakteristische Element der Konzentration nahezu aller Regierungsgeschäfte auf die Person des Monarchen traf für das Österreich zu Kaiser Franz‘ Zeiten ebensowenig zu wie die für Variante 2 erforderliche weitgehend selbständige Machtstellung der Spitzenbürokratie im Regierungssystem.

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2. Die preußische Staatsreform im Spannungsfeld zwischen Krone, Bürokratie und Adelsmacht

Auch im Preußen Friedrichs II. gingen Aufklärung, Absolutismus und Beamtentum eine enge, gleichsam symbiotische Verbindung ein. Und noch mehr als in der Donaumonarchie entwickelte die preußische Spitzenbürokratie das Selbstbewußtsein einer aufgeklärten Reform-elite, die nach dem Tod Friedrichs des Großen für die Fortsetzung der Reformen eintrat und schließlich in der tiefsten Krise des preußischen Königreichs, nach dem militärischen Desaster von Jena und Auerstedt, die Umgestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in die eigenen Hände nahm.

Unter verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel ist zunächst festzustellen, daß Preußen in der Phase des großen Umbruchs nach 1806 den Übergang zur Verfassungsstaatlichkeit nicht vollzog und erst mit der oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 in den Kreis der

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monarchisch-konstitutionellen Staaten nachrückte. Allerdings veränderte sich das innerstaatliche Kräftefeld in den Jahren nach 1806 so gravierend zugunsten der bürokratischen Reformelite, daß in der Forschung üblicherweise von einem neuen Systemtypus, nämlich demjenigen des „bürokratischen Absolutismus" als Nachfolger des „monarchischen Absolutismus" gesprochen wird. [Vgl. z.B. Hans Rosenberg, Die Überwindung der monarchischen Autokratie, in: Karl Othmar von Aretin (Hg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 182-204.] Wie für den ähnlich gelagerten österreichischen Fall wird in diesem Zusammenhang auch auf den Gesichtspunkt der voranschreitenden Verrechtlichung des öffentlichen und privaten Lebens abgehoben und die damit verbundene juristische Einhegung des Absolutismus im Hinblick darauf diskutiert, ob und inwieweit hier bereits von einer Art präkonstitutioneller Vorleistung des Absolutismus auszugehen sei.

Zunächst zur Frage der Kontinuität. Sind die Stein-Hardenbergschen Reformen als stark verdichtete und durch äußeren Druck forcierte Weiterentwicklung längst angelegter Ansätze anzusehen oder handelt es sich dabei um eine grundlegende Umorientierung unter dem Eindruck des Totalzusammenbruchs von 1806 - sozusagen eine „Stunde Null"? Die Meinungen gehen in diesem Punkt auseinander. Während die Befürworter der letztgenannten Position die Neuorientierung am französischen Modell besonders betonen und demgegenüber den alten monarchischen Reformabsolutismus in der Sackgasse sehen, vertritt die andere Seite die Auffassung, daß die Reformen in erheblichem Umfange aus der Tradition des aufgeklärten Absolutismus schöpften und eine evolutionär, wenn auch am Ende steil aufsteigende Linie von den sogenannten „Vorreformen" der 1790er Jahre bis hin zur eigentlichen Reformzeit zu ziehen sei.

Den Schlüssel für die Klärung des Problems haben beide Seiten in dem am 1. Juni 1794 in Kraft getretenen Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) gesehen. So erkennt Hans-Ulrich Wehler hinter diesem Gesetzeswerk mit seinen 19.000 Paragraphen vor allem eine Modernisierungsbarriere zum Zweck der Zementierung des altständischen Gesellschaftsaufbaus [Vgl. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte..., Bd. 1, S. 243.], während die auf Reinhart Koselleck zurückgehende Gegenposition darin eher „einen Kompromiß ... zwischen überkommenem Zustand und zukunftsgerichteter

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Absicht" sieht. [Vgl. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989 [1 1967], S. 25.] Dabei leugnet Koselleck keineswegs die innere Widersprüchlichkeit („Janusköpfigkeit") und Trägheit des ALR, dem er durchaus nicht bescheinigt, eine angemessene, adäquat entwicklungsfähige Rechtsgrundlage für die raschen ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Folgezeit hervorgebracht zu haben. Die entscheidende Innovationsleistung des ALR sieht er im Unterschied zu Wehler aber darin, neue „Horizonte" gewiesen und wichtige Modernisierungsschneisen geschlagen zu haben - und zwar im Hinblick auf die Überwindung der feudalen Ständegesellschaft bzw. den Aufbau einer rechtlich egalitären Staatsbürger- und Eigentümergesellschaft. Das Landrecht sei mithin nicht per se als retardierendes Element auf dem Weg Preußens in die Moderne, sondern als „Kompromiß zwischen überkommenem Zustand und zukunftsgerichteter Absicht", sozusagen als „Wink für die Zukunft", zu verstehen. [Vgl. R. Kosselleck, Preußen zwischen Reform..., S. 23ff., 143ff.; die Zitate auf S. 25 und 44.]

Im Vergleich zum josephinisch-leopoldinischen Österreich fällt auf, daß im preußischen Fall der Reformimpuls zwar ebenfalls noch vom Monarchen (Friedrich II.) ausging, im Zuge der Kodifizierung und gesellschaftlichen Implementation des Gesetzbuchs aber das Eigengewicht und Selbstbewußtsein der Bürokratie in einem solchen Maße anwuchs, daß die monarchische Prägung der Reformen zusehends durch eine bürokratische abgelöst wurde. Diesen Übergangsprozeß begleiteten allerdings zahlreiche Widersprüchlichkeiten, Irritationen, Halbherzigkeiten und Rückschläge. Er war um 1806 weder abgeschlossen noch irreversibel und kann nicht losgelöst von der Person und dem Herrschaftsverständnis des jeweils regierenden Staatsoberhaupts gesehen werden - man denke nur an den insgesamt restaurativen Charakter der Regierung Friedrich Wilhelms II. (1786-1797), auch wenn in seine Zeit die offizielle Einführung des Allgemeinen Landrechts fiel.

Dessen Publikation war unter dem moderneren Titel eines „Allgemeines Gesetzbuch[s]für die preußischen Staaten" eigentlich schon für 1792 vorgesehen gewesen, doch dann stornierte der König das

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Projekt und ließ diejenigen Passagen überarbeiten bzw. tilgen, die potentiell auf eine Einschränkung monarchischer Souveränität und adliger Vorrechte bzw. die verbindliche Fixierung staatsbürgerlicher Untertanenrechte hinauslaufen konnten. Dementsprechend entfielen alle ursprünglich vorgesehenen Formulierungen, die in Richtung Unterordnung des Königtums unter Staatszweck und Gemeinwohl gingen; ferner das ausdrückliche Verbot willkürlicher königlicher Eingriffe in das Justizwesen (Verbot königlicher Machtsprüche in Streitsachen des Zivilrechts, § 6) und ebenso die Auflage, daß „die Gesetze und Verordnungen des Staates die natürliche Freiheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken [dürfen], als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert." (§79).

Weiter sah sich Oberjustizrat Svarez, als zuständiger Beamter der eigentliche Spiritus rector des Allgemeinen Gesetzbuches, genötigt, alle Anklänge an die französische Menschenrechtserklärung im nachhinein zu tilgen und auf einen umfassenden Grundrechtekatalog zu verzichten. Zurückzunehmen war überdies das ursprüngliche Konzept, die beratenden Kompetenzen der seit längerem schon bestehenden, aus fachkundigen Beamten zusammengesetzten Gesetzeskommissionen weiter zu stärken und damit de facto ein Vetorecht der Bürokratie bei Gesetzesvorlagen einzuführen. [Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung von Dr. Hans Hattenhauer, 2. Aufl., Berlin 1994. ]

Im Ergebnis präsentierte sich das ALR von 1794 nicht als der von Svarez, Carmer und der aufgeklärten Spitzenbürokratie erwartete Schrittmacher der inneren Staatsbildung. Die ganze Entwicklung wurde mit diesem Gesetzbuch zwar regelhafter, gleichförmiger und berechenbarer, doch blieb ihre Dynamik hinter den Ausgangserwartungen deutlich zurück. Ohne die über den Horizont des aufgeklärten Absolutismus hinausweisenden Intentionen seiner Schöpfer zu leugnen, wird man somit feststellen müssen, daß das Modernisierungspotential des ALR der seit 1789 grundsätzlich veränderten Rahmenkonstellation nicht mehr angemessen war. Der mit den Preußischen Reformen seit 1807 einsetzende Qualitätssprung baute daher zwar auf den Errungenschaften der sogenannten „Vorreformen" auf und wies auch beim Reformpersonal eine Reihe von Kontinuitäten auf, kann aber nicht ohne die schwere Staatskrise von 1806 und die dadurch

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erzwungene Rezeption externer, außerhalb der aufgeklärt-absolutistischen Sphäre liegender Modernisierungsimpulse gedacht werden. Gleichwohl blieb die Leitidee des Allgemeinen Gesetzbuches und des ALR erhalten, auf legalem Wege und unter bürokratischer Führung stufenweise dem ökonomischen, sozialen und politischen Fortschritt den Boden zu bereiten.

Schon eine gedrängte Auflistung der nach Jena und Auerstedt rasch einsetzenden Einzelreformen macht deutlich, daß das Stein-Hardenbergsche Reformpaket dort tiefe und rasche strukturelle Einschnitte anstrebte, wo das ALR allenfalls Weichen zu stellen bzw. „Winke in die Zukunft" zu geben wagte - oder aber überhaupt keine konkrete Modernisierungsabsicht zeigte, wie etwa im Bereich der Agrarverfassung. Immerhin ging es um nicht weniger als:

  • die Reform der Staatsregierung sowie der Verwaltungen der mittleren und unteren Ebenen (Provinzen, Städte, Landgemeinden) mit der Zielvorgabe der Effektivitätssteigerung staatlicher Herrschaft, der Überwindung provinzialer und lokaler Sonderstellungen und der Integration aller Territorien zum preußischen Einheitsstaat;
  • die Befreiung der erbuntertänigen Bauern aus gutsherrlicher Abhängigkeit, die Einführung der Gewerbefreiheit, die Zollreform sowie die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit mit den Zielen der wirtschaftlichen Mobilisierung der Gesellschaft sowie der staatsbürgerlichen (d.h. vor allem steuerlichen und militärischen) Rekrutierung möglichst breiter Bevölkerungsschichten;
  • die Finanz- und Steuerreform mit der Leitvorstellung allgemeiner Steuerabschöpfung, der Konsolidierung des Haushalts und der Staatsschuld;
  • die Heeresreform mit den Zielen der Neuorganisation der Führungsstruktur sowie des Übergangs zum Nations- und Bürgerheer;
  • die Bildungsreform mit dem Ziel des Ausbaus staatlicher Bildungshoheit sowie der Leitidee der wechselseitigen Durchdringung von Staat, Erziehung und Kultur;
  • die „Volksrepräsentation" mit dem Ziel einer engeren Verzahnung von Staat und Gesellschaft.

Bekanntlich war den hier aufgeführten Reformansätzen unterschiedlicher Erfolg beschieden: Die Reorganisation des Offizierskorps, die Humanisierung der inneren Führungs- und Disziplinie-

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rungsstrukturen („Freiheit der Rücken") und die allgemeine Wehrpflicht wurden zu Eckpfeilern der preußischen Führungsrolle in den Befreiungskriegen und trotz aller nachfolgenden Ungereimtheiten zur Grundlage der militärischen Hegemonie Preußens in Mitteleuropa; die neuhumanistisch inspirierte Umgestaltung des höheren Schulsystems und der Universitäten entwickelte eine außerordentlich weitreichende, über das engere bildungsbürgerliche Milieu deutlich hinausweisende gesamtgesellschaftliche Ausstrahlungskraft; die Wirtschaftsreformen von 1807/1810/1818 (Oktoberedikt 1807/Gewerbesteueredikt 1810; Gewerbepolizeigesetz 1811; Zollreform 1818) befreiten Gewerbe und Handel von ständischen und feudalen Barrieren und schufen, trotz vieler Widerstände und sozialer Folgekosten, das Fundament für den immensen Aufschwung der preußischen Wirtschaft vornehmlich in der zweiten Jahrhunderthälfte.

Für andere Reformbereiche sind Einschränkungen zu machen. Dies gilt zunächst und vor allem für die Agrarreform, die zwar die persönliche Befreiung der abhängigen Bauern, aber keine pragmatische Regelung für die Ablösung des gutsherrlichen Obereigentums sowie der hierauf beruhenden Fron- und Dienstverpflichtungen erbrachte und infolge des Wegfalls des Bauernschutzes und der Aufteilung der Allmende oft genug sogar zu einer weiteren Verschärfung bäuerlicher Existenznot führte. Zwar keineswegs wirkungslos, aber höchst unvollständig blieb auch die Neuordnung der Staats-, Provinzial- und Kreisverwaltung; ähnlich die Steuerreform mit Einführung einer allgemeinen, gestaffelten Einkommenssteuer und allgemeiner Vermögens- und Konsumtionszahlung, aber ohne generelle Grundsteuerabgabe, womit der grundbesitzende Adel weiter privilegiert blieb.

Viele Reformmaßnahmen litten unter Zeitdruck und wurden durch die persönlichen Aversionen und internen Machtkämpfe der Hauptakteure zusätzlich belastet. Kritisch ist auch zu vermerken, daß es erst die Bedrängungen des Tilsiter Friedens (Besatzungskosten, Kontributionen, Schuldendienst) und nicht eigenständige, vorwärtsdrängende Entwicklungen waren, die zur Initialzündung der Reformen führten. Doch sollte der Gesichtspunkt des akuten Krisenmangements wiederum nicht überbetont werden. Gerade der Vergleich mit dem ALR macht deutlich, daß die Reformpartei keineswegs nur verbal der Devise der „Revolution im guten Sinne" (Hardenberg) folgte, sondern

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einen grundlegenden und dauerhaften Systemwandel von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft tatsächlich zu vollziehen suchte, wie auch Theodor von Schön, zeitweilig engster Mitarbeiter Steins und späterer Oberpräsident von Ost- und Westpreußen (Provinz Preußen), retrospektiv betonte:

„Einig waren wir unbedingt darin, daß das französische Joch abgeschüttelt und Selbständigkeit erlangt werden sowie daß unser Staat seine verrotteten Institutionen verlassen und angemessene Einrichtungen zum Fortschritt und zur Belebung des Volkes treffen müsse." [Theodor v. Schön, zit. n. Karl Obermann, Bemerkungen über die soziale und nationale Bedeutung der preußischen Reformbewegungen unter dem Ministerium des Freiherrn vom Stein, in: Die Volksmassen - Gestalter der Geschichte. Festgabe für Leo Stern, Berlin (O) 1962, S. 135. ]

Wo möglich, wurde an die Errungenschaften des Aufgeklärten Absolutismus angeknüpft - man denke etwa an die Rationalisierungs- und Zentralisierungbestrebungen im Verwaltungsbereich oder an das schon im ALR fixierte Prinzip der Staatsschule bzw. staatlich genehmigten Schule, doch ließen sich derartige Brücken zwischen Tradition und Moderne nicht allenthalben schlagen: Vor allem in der Wirtschaftspolitik mußte auf gänzlich neues Fundament gebaut werden, auf militärischem Sektor erfolgten radikale Einschnitte, und natürlich ergaben sich auch neue Anforderungen an das politische System. Daß sich die Reformer über die dramatischen verfassungspolitischen Konsequenzen keine Illusionen machten, belegen schon die Rigaer Denkschriften Altensteins (11.9.1807) und Hardenbergs (12.9.1807). Nach Altenstein, später (1808-10) Finanzminister und zusammen mit Alexander von Dohna Leiter des preußischen Staatsministeriums, blieb „nichts übrig, als eine Art von Nationalrepräsentation in die Verfassung zu legen" [Altensteins Rigaer Denkschrift, in: Georg Winter (Hg.), Die Reorganisation des Preußi schen Staates unter Stein und Hardenberg, T. 1: Allgemeine Verwaltungs- und Behörden reform, Bd. 1, Leipzig 1931,S. 364-566, hier: S. 404f.], und auch Hardenberg, seit 1810 Staatskanzler und Nachfolger der Regierung Dohna-Altenstein, unterstrich die Notwendigkeit verstärkter Teilhabe der Bürger am Staat: „Demokratische

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Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist." [Rigaer Denkschrift Hardenbergs abgedruckt bei G. Winter (Hg.), Die Reorga nisation...,T. 1, Bd. 1, S. 302-363.]

Zur erwarteten Errichtung einer preußischen Nationalrepräsentation ist es jedoch nicht gekommen - und zwar weder auf ständischer noch staatsbürgerlicher Grundlage, obwohl vor allem Staatskanzler Hardenberg, hier in Einklang mit dem ansonsten eher traditionell disponierten Stein, energisch drängte und Friedrich Wilhelm III. insgesamt drei „Verfassungsversprechen" abzuringen vermochte. Vor allem aus praktischen Überlegungen sah sich Hardenberg hierzu veranlaßt, denn nicht die Naturrechtstheorie der aufgeklärten Philosophie, sondern der Etatismus war das entscheidende Grundmotiv seiner Reformpolitik. Sein Verfassungsprojekt folgte mithin keinem Verfassungsdogma - Konstitutionalisierung oder gar Parlamentarisierung waren keine vorrangigen oder unverzichtbaren Reformziele. Immer ging es zuerst darum, das Reformwerk und die Schlüsselposition der Reformbürokratie dauerhaft abzustützen. Mit Blick auf die Auswüchse der Französischen Revolution sollte aber auf jeden Fall eine „Demokratisierung" im Sinne der Einführung einer allgemeinen und direkten Volkswahl vermieden werden, denn nur in einem stufenweisen und am Grundbesitz orientierten Delegationssystem erblickte die Reformpartei eine ausreichende Garantie für den von ihr unbedingt gewünschten Erhalt der Monarchie und damit letztlich auch für die langfristige Stabilität ihrer eigenen Machtposition.

Daraus ergab sich ein vornehmlich sach- und kompromißorientierter Umgang mit dem Repräsentationsprojekt, zumal sich schon bald Widerstände einstellten. Hauptproblem war, daß die Mitglieder der ersten, „von oben" geschaffenen Repräsentationsorgane: der „Notabelnversammlung" von 1811 bzw. der „interimistischen Nationalrepräsentation" von 1812, wie gehabt, „altständisch" agierten, d.h. in erster Linie als Sachverwalter spezifischer Gruppeninteressen auftraten. Hardenbergs Reformprogramm, das im Hinblick auf die Integration des Gesamtstaats ständische und provinzielle Privilegien abbauen wollte, konnte hier also weder auf „parlamentarische" Mitwirkung noch Legitimation hoffen. Der Staatskanzler zog daraus umgehend die Konsequenz und brachte das Gendarmerie-Edikt vom

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30. Juli 1812, mit dem er die preußische Kreisverwaltung dem gutsherrlichen Einfluß entziehen wollte, schon gar nicht mehr vor die Versammlung, sondern dekretierte es von oben.

In Anbetracht der anschließenden wütenden Proteste der Nationalversammlung, die in ihrer großen Mehrheit auf der Beibehaltung der Patrimonialgewalt, gutsherrlichen Polizei und öffentlichen Autorität bestand, mochte es in der Tat als ein Akt politischer Klugheit erscheinen, die Stabilisierung und Fortsetzung des Reformwerks allein in den Händen der Beamtenschaft als des in dieser Angelegenheit einzig unparteiischen und „allgemeinen" Stands zu belassen. Hierfür sprach schließlich auch der Umstand, daß „Verwaltung" und „Verfassung" im 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts keine definitorisch klar abgegrenzten Begriffe darstellten und in der Praxis bürokratisches Handeln verhältnismäßig problemlos als Surrogat konstitutioneller Verfahrensweisen gewertet werden konnte.

Die avantgardistische Stellung der Bürokratie wurde schließlich mit der Konstituierung eines noch auf den Freiherrn vom Stein zurückgehenden „Staatsrats" am 7. Juli 1817 in feste Formen gegossen, denn neben dem König und den königlichen Prinzen waren es vor allem die Spitzen aus Verwaltung und Militär, die in dieses Kollegium berufen wurden und es dominierten. Eigentlich nur als Beratungsorgan konstituiert, nahm der Staatsrat in der Folge sogar die Züge eines „Beamten-" und „Ersatzparlaments" an, gegen dessen „Rat" weder Friedrich Wilhelm III. noch sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm IV., gesetzliche Verfügungen allgemeinverbindlichen Charakters vorzunehmen wagten. Andererseits aber sprach eine derartige Verkettung von exekutiven und legislativen Aufgaben der klassischen Gewaltenteilungstheorie Hohn und war kaum zu erwarten, daß ein durchgreifender Konstitutionalisierungsprozeß von einem Gremium ausgehen würde, das nur auf Anforderung des Königs tätig zu werden vermochte und damit im Konfliktfall nach Belieben kaltzustellen war. Jedenfalls leistete der Staatsrat keinen wesentlichen Beitrag zur verfassungspolitischen Modernisierung Preußens, sondern figurierte primär als Machtbastion und Interessenorgan einer Staatsbürokratie, deren politisches Profil sich nach den Karlsbader Beschlüssen schnell und tiefgreifend veränderte und die die noch in den staatlichen Institutionen verbliebenen Reformer auf ziemlich verlorenem Posten zurückließ. In Anbetracht dessen erscheint Skepsis angebracht, wenn im

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Hinblick auf die Rolle des Staatsrats und in bezug auf das Preußen der Restaurations- und Vormärzzeit von „vorkonstitutionellen Verhältnissen" gesprochen wird. [So Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, 2. Aufl., Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1967 [1 1957], S. 158.]

Auf der Ebene der Provinzen setzte sich das System des dezentralisierten Einheitsstaats durch, d.h. die weitgehende Eigenständigkeit der Provinzen wurde durch die Einführung von „Regierungen", „Regierungspräsidenten" und „Oberpräsidenten" kräftig zurückgestutzt und ein geordneter Instanzenzug von oben nach unten geschaffen. Doch auch hier gestaltete sich die komplementäre Verknüpfung von Administration und Repräsentation, wie sie Stein schon in seinem Organisationsedikt vom 23.11.1807 als Wunschziel zum Ausdruck gebracht hatte, schwierig. Hierzu hätte es letztlich eines völligen Um- bzw. Neubaus der althergebrachten Ständevertretungen bedurft. Nach langem Hin und Her gelang es zwar, die regional zersplitterten altständischen Organe zusammenzufassen und als Provinziallandtage neu zu konstituieren, doch war darin der ländliche Großgrundbesitz und damit das reformfeindlich-konservative Moment eindeutig überrepräsentiert. Erwartungsgemäß vertraten die Provinziallandtage, als sie zwischen 1824 und 1827 erstmalig zusammentraten, überwiegend sozialkonservative und partikulare Positionen, und erst später, in den 1840er Jahren, wurden sie teilweise zu Foren liberaler Regierungskontrolle. Jedenfalls bestand von Regierungsseite her kein Interesse, die Kompetenzen dieser Gremien über kleinere Selbstverwaltungsangelegenheiten (Landarmeninstitute, Feuer- und Hagelversicherung, Straßenbau etc.) und bestehende Konsultations- und Petitionsbefugnisse hinaus zu stärken. Der vom König schon 1815 angekündigte Vereinigte Landtag („Versammlung der Landes-Repräsentanten") mußte schließlich bis zum Frühjahr 1847 auf seine Einberufung warten.

Keiner Diskussion bedarf das Scheitern der Landgemeinde- und Kreisreform in den östlichen Provinzen Preußens, denn die obrigkeitlichen, öffentlich-rechtlichen Funktionen der feudalen Adelskaste (Patrimonialgerichtsbarkeit, niedere Polizeigewalt, Kirchenpatronat, Gemeindeverwaltung) blieben ebenso erhalten wie die gutsherrliche Dominanz in den Organen der Kreisverwaltung, d.h. den Kreisständen

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und dem Landratsamt. Folglich versandete auch Hardenbergs Gendarmerie-Edikt von 1812, das die Aufhebung des Landratsamts und dessen Ersatz durch einen vom König zu ernennenden, explizit nicht dem einheimischen Adel entstammenden Kreisdirektor vorsah. Nach der offiziellen Restituierung des Landratsamts 1815 wurden zwischen 1825 und 1828 schließlich noch die Kreisordnungen für die acht preußischen Provinzen erlassen - die Vormacht des kreiseingesessenen Adels blieb hierbei ebenfalls unangetastet. So verteidigte der Adel das Besetzungsrecht für das Landratsamt erfolgreich und bekam die Majorität in der Kreisversammlung (Kreistag) garantiert. Erst 1872 sollte es mit der Kreisordnung für die östlichen Provinzen zu einer grundsätzlichen Neuordnung kommen, was jedoch nichts daran änderte, „daß Preußen in Fragen der ländlichen Kommunalverfassung bis in die Zeit der Weimarer Republik zu den rückständigsten Gliedstaaten des deutschen Reiches gehörte." [Manfred Botzenhart, Landgemeinde und staatsbürgerliche Gleichheit. Die Aus einande rsetzungen um eine allgemeine Kreis- und Gemeindeordnung während der preußischen Reformzeit, in: Bernd Sösemann (Hg.) Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen (= Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Beiheft 2), Berlin 1993, S. 85-105, Zitat: S. 87.]

Es bleibt die vielgerühmte Steinsche Städteordnung vom 19. November 1808, die gern als Nachweis für das politisch-gesellschaftliche Modernisierungspotential der preußischen Reformepoche herangezogen wird. Schließlich scheint kaum strittig, daß die „Ordnung für sämtliche Städte der preußischen Monarchie" nicht nur die strikte Unterwerfung der preußischen Stadtgemeinden unter die staatliche Verwaltung beendete und den Stadtgemeinden wichtige Selbstverwaltungsrechte (Haushalt und Steuer, Bauwesen, Armenfürsorge, Kirchen, Schul- und Gesundheitswesen) gewährte, sondern auch das innerstädtische Gemeindeleben entscheidend liberalisierte und als „Modell einer Repräsentativverfassung mit Gewaltenteilung" [Manfred Botzenhart, zit. n. Walter Demel, Vom Aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staats absolu tismus (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 23), München 1993, S. 45.] in Staat und Gesellschaft hineinzuwirken begann. Bei näherem Hinsehen ergeben sich allerdings einige wesentliche Einschränkungen. So ist zunächst kritisch zu vermerken, daß das Gros der Stadtbewohner von

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den Wahlen zur Bürgervertretung (Stadtverordnetenversammlung) und damit auch von der Einflußnahme auf die Exekutive („Magistrat") ausgeschlossen blieb, teils weil sie als „Schutzverwandte" oder „Eximierte" keinen Bürgerstatus innehatten, teils weil sie den Wahlzensus nicht erfüllen konnten. Zum Beispiel werden in der Literatur für die westpreußischen Städte Elbing, Graudenz und Marienwerder Prozentsätze zwischen 4,5 und 7,1 angegeben, und auch Marienburg und Königsberg lagen nur zwischen 8 und 9 Prozent. In dem brandenburgischen Landstädtchen Müllrose waren von 1116 Einwohnern ganze 86 stimmberechtigt! [Zahlenangaben nach Ilja Mieck, Die verschlungenen Wege der Städtereform in Preußen (1806-1856), in: B. Sösemann (Hg.), Gemeingeist und Bürgersinn..., S. 53-83, hier: S. 71f.] Desweiteren bestanden auch unter den Bedingungen der Steinschen Ordnung, die im übrigen nach 1815 überwiegend nicht auf die neu hinzugekommenen Provinzen ausgedehnt wurde, nicht zu unterschätzende staatliche Aufsichts- und Einwirkungsrechte, so die Bestätigung der Magistratswahlen, die Haushaltsprüfung, vor allem aber die Gerichtsbarkeit und die Polizeigewalt, wobei letztere in den größeren Städten durch einen staatlichen Polizeidirektor, andernfalls als Auftragsverwaltung durch den Magistrat als weisungsgebundene Ortspolizeibehörde ausgeübt wurde. Diese Begrenzung der städtischen Freiheits- und Selbstverwaltungsidee hat sich in der Restaurationszeit tendenziell noch verstärkt und schließlich zur Revidierten Städteordnung von 1831 geführt, die zwar den Dualismus zwischen Bürgern und Schutzverwandten nivellierte, andererseits aber den Wahlzensus für das aktive wie passive Wahlrecht noch erhöhte und die Staatsaufsicht intensivierte.

Im Schicksal der Steinschen Städteordnung spiegelt sich das eingeschränkte verfassungspolitische Durchsetzungsvermögen des preußischen Bürgertums zwischen Reformzeit und Revolution. Als übriggebliebenes Fragment einer gescheiterten Gesamtreform brach sie sich an der traditionalen Machtstruktur des Landes, befand sich bald schon im Abwehrkampf gegen das Wiedererstarken der Reaktion und erbrachte keinen „fundamentalen Einbruch in die herrschende Staats- und Gesellschaftsordnung". [So I. Mieck, Die verschlungenen Wege..., S. 55 (mit Bezug auf das gegensätzliche Votum bei August Krebsbach, Die Preußische Städteordnung von 1808, 2. Aufl., Stuttgart 1970, S. 105f.).] Aber auch wenn die Städtereform kei-

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nen „revolutionären Schwung" [I. Mieck, Die verschlungenen Wege..., S. 54.] entfaltete, die Selbstverwaltungspraxis oft nur überkommene Machtstrukturen reproduzierte und das Verhältnis von Staat und Stadt spannungsvoll blieb, so verstärkte sie doch die Bedeutung der kommunalen Sphäre als Plattform bürgerlicher politischer Partizipation. Damit war die Fortsetzung und Verbreiterung von Ansätzen bürgerlichen politischen Engagements gesichert, wie sie sich in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Freimaurerorden, Lesegesellschaften, „Ökonomischen Sozietäten", „Patriotischen Vereinen", Aufklärungsassoziationen und dgl. gezeigt hatten. Waren die Aktivitäten dieser Zirkel noch weitgehend geheimbündlerisch und elitär gewesen, so hatte die Französische Revolution zu einer bemerkenswerten Ausdehnung von „politischer Öffentlichkeit" geführt, die sich im Zuge des antinapoleonischen Befreiungskriegs unter nationalpatriotischem Vorzeichen sogar noch steigerte. Für die Hoffnung, „Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst" zu vereinen [Vgl. Heinrich von Kleist, Katechismus der Deutschen (1809), hier zit. n. Heinrich von Kleist, Katechismus der Deutschen und kleinere patriotische Schriften, Bielefeld-Leipzig 1940, S. 10.], standen damals unzählige Schriften und Erklärungen - einschließlich des Großprojekts „Preußische Reform", dessen Absicht erklärtermaßen darin bestand, Niveau und Breite der allgemeinen politischen Kultur entscheidend anzuheben. Die Zielvorgabe, „die Regierung durch die Kenntnisse und das Ansehen aller gebildeten Klassen zu verstärken, sie alle durch Überzeugung, Theilnahme und Mitwürkung bei den Nationalangelegenheiten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine freie Thätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben ..." [Nassauer Denkschrift, in: Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, Bd. 2, Tl. 1, Nr. 354, S. 380ff; siehe dazu: Gerhard Ritter, Stein: Eine politische Biographie, 4. Aufl., Stuttgart 1981 [1 1931], S. 184f.], erwies sich letztlich jedoch ebenso als Chimäre wie die idealistische Vorstellung einer harmonischen Verknüpfung von Regierung und Volk, die mit besonderem Nachdruck Johann Gottlieb Fichte in seinen im französisch besetzen Berlin 1807/08 gehaltenen „Reden an die deutsche Nation" propagierte. Als Leitbilder wirkten sie jedoch stark prägend auf die weitere Entwicklung politischer Kultur in Preußen und verliehen dieser eine merkwürdig devote und

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harmonisierende Form bürgerlicher Interessenswahrnehmung gegenüber Krone und Staatsbürokratie.

Eine abschließende Bewertung der preußischen Reformzeit unter verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel führt zu keinem eindeutigen Befund. Unzweifelhaft erscheint zunächst der Durchbruch der Bürokratie als nunmehr fest etablierter Machtelite im monarchischen Staat, doch ist einzuschränken, daß sich das Ideal der Beamtenschaft als „allgemeiner Stand", d.h. als Verkörperung eines höheren, Staat und Gesellschaft integrierenden Interesses, nicht wirklich durchsetzte. Nachdem Hardenbergs Vorstoß gegen die Junkermacht abgewiesen war und sich nach dem Sieg über Napoleon die allgemeinpolitischen Rahmenbedingungen geändert hatten, liefen die Dinge vielmehr auf ein Arrangement zwischen der alten aristokratischen und der neuen bürokratischen Elite hinaus. Ein solcher Herrschaftskompromiß unter konservativ-liberalem Vorzeichen erlaubte einerseits die Fortsetzung der ökonomisch-sozialen Mobilisierung Preußens auf der Grundlage des im preußischen Beamtenapparat besonders verinnerlichten Smithianismus, beließ andererseits jedoch die staatliche Ordnung auf einem Niveau, das die politischen Privilegien und die lokale Machtsphäre des Großgrundbesitzes nicht entscheidend schmälerte.

Die Kluft zwischen ökonomisch-sozialer Bewegung sowie verfassungs- und machtpolitischer Beharrung bestimmte dann auch das Schicksal des „Jahrhundertprogramms" der Stein-Hardenbergschen Reformen (Walther Hubatsch). Eine „selbständige politische Form und in sich ruhende Ordnung" (Ernst-Wolfgang Böckenförde [Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), Köln 1972, S. 147-170, hier: S. 147.]) haben sie nicht hervorgebracht, sondern lediglich einen fragilen Interessenausgleich, der die Bastionen der Gutsbesitzeraristokratie ebenso garantierte wie er die Machtstellung der Spitzenbürokratie bestätigte. Mit der ursprünglichen Verfassungsidee der Reformzeit, die auf der Vorstellung einer harmonischen, effektiven und entwicklungsfähigen Verschränkung von Staat und Gesellschaft im Geiste des Fortschritts beruhte, hatte die um 1820 erreichte Konstellation nur wenig gemeinsam.

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3. Integrationsdruck und Verfassungsexperimente: Die süddeutschen Staaten zwischen Souveränitätsstreben und Fremdbestimmung

Ausbruch und Verlauf der Revolution in Frankreich haben die aufgeklärt-absolutistische Reformdynamik des theresianisch-josephinischen Österreich gebremst und nahezu zum Stillstand gebracht. In anderer Richtung verlief die Entwicklung in Preußen, doch mißlang auch hier die Ablösung des Absolutismus und wurde erst im Gefolge der Märzrevolution von 1848 der Systemwechsel zum Konstitutionalismus vollzogen. Dagegen brachten zahlreiche deutsche Mittel- und Kleinstaaten nach 1815 geschriebene Verfassungen hervor, und sollten sich insbesondere die drei größten süddeutschen Staaten, Bayern, Württemberg und Baden, in der Restaurations- und Vormärzperiode geradezu als Refugien des zentraleuropäischen Frühkonstitutionalismus erweisen. Es stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung bereits im davor liegenden Zeitabschnitt des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts präformiert wurde und bis zu welchem Grad man für Süddeutschland von einem Mischungsverhältnis zwischen gewachsenen aufgeklärt-absolutistischen und „importierten" Modernisierungselementen sprechen kann. Zu ihrer Beantwortung wollen wir uns zunächst auf die bayrische Entwicklung konzentrieren, da für das bayrische Königreich, mit Datum vom 1. Mai 1808, die erste süddeutsche Verfassungsurkunde vorlag - nach Auffassung Hans-Ulrich Wehlers zusammen mit den wenig später nachfolgenden verfassungsergänzenden „Organischen Edikten" die „erste genuin deutsche Konstitution". [H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte..., Bd. 1, S. 383. Die Konstitution ist abgedruckt und kommentiert bei P. Wegelin, Die bayrische Konstitution von 1808, in: Schweizer Beiträge, 16 (1958), S. 142-206; die organischen Edikte finden sich in: Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Königreichs Bayern, 5 Bde., 1809/1813. ]

Zahlreiche Formulierungen der bayrischen Verfassung von 1808 beinhalten Anklänge an Aufklärung und Spätabsolutismus, insbesondere dort, wo es um die Durchsetzung innerer staatlicher Souveränität und die Ausschaltung von Zwischen- und Sondergewalten geht. So wird schon in der Präambel davon gesprochen, daß der „allgemeine Staatszweck" nur durch Einheit und Gleichförmigkeit zu erreichen sei und in § II („Hauptbestimmungen") eine für das altständische Verfas-

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sungsverständnis vernichtende Konsequenz gezogen: „Alle besondern Verfassungen, Privilegien, Erbämter und Landschaftliche Corporationen der einzelnen Provinzen sind aufgehoben." [Vgl. Konstitution für das Königreich Bayern, in: Die bayerische Staatlichkeit, bearb. von Rolf Kiessling und Anton Schmid (= Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft, Abt. III, Bd. 2), München 1976, S. 73-79. Dieses und alle folgenden Zitate aus der Verfassung finden sich ebda.]

Die folgenden Passagen zur Notwendigkeit „ein und dasselbe[n]Steuersistem[s]für das ganze Königreich" (§ II) und der unbedingten Gleichbehandlung aller Staatsbürger (auch des Adels) „in Rücksicht auf die Staatslasten" (§ V) sind deutliche Hinweise darauf, daß in Bayern, nicht anders als in Preußen und den anderen Einzelstaaten, Finanz- und Verfassungspolitik untrennbar verknüpft waren. Denn mit den - sofern überhaupt noch bestehenden - altständischen Vertretungen waren die exorbitanten Haushaltslöcher nicht zu stopfen, und ebensowenig war an eine kraft monarchischer Machtvollkommenheit erzwingbare Steuerabschöpfung der Untertanen zu denken, die unvermeidliche Erhöhung und Ausweitung des staatlichen Steuerdrucks durch den Aufbau einer neuen und möglichst allgemeinverbindlichen Rechtsordnung abzusichern und die zu erwartenden Widerstände gegebenenfalls durch Errichtung von Repräsentationsorganen der steuerzahlenden Staatsbürger abzudämpfen. Anders als im revolutionären Frankreich wurde bürgerliche Repräsentation somit nicht „von unten" erkämpft, sondern von der Staatsspitze aus - subsidiär, präventiv und limitiert - im Sinne eines Akklamationsinstruments und Sicherheitsventils implementiert.

Mit Prioriät wurde dagegen das Programm der Neustrukturierung und Erweiterung des Verwaltungsapparats und damit der Durchsetzung der Staatsgewalt nach innen verfolgt. In Fortsetzung und Ergänzung entsprechender Vorarbeiten des mit Max Joseph 1799 ins Ministeramt gekommenen Maximilian Joseph von Montgelas sah die Konstitution von 1808 eine exekutive Spitze aus fünf Departements vor - und zwar „jene der auswärtigen Verhältnisse, der Justiz, der Finanzen, des Innern und des Kriegs-Wesens"; diesem Regierungsorgan stand ein „geheimer Rath" zum Zweck der „Berathschlagung über die wichtigsten inneren Angelegenheiten des Reiches" zur Seite, welcher neben den Ministern „zwölf oder höchsten sechzehen [vom König ernannten] Glieder" umfaßte. Auf mittlerer Verwaltungsebene war die

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Errichtung von Kreisen unter Leitung je eines „königlichen General-Kommissärs" geplant; zu diesem Zweck wurde das Land in unverkennbarer Nachahmung des französischen Departementsystems in fünfzehn, nach Flüssen benannte Kreise gegliedert. Während der Aufbau der oberen und mittleren Verwaltungsebenen zentralistisch-hierarchisch (direktorial) erfolgte und Justiz und Verwaltung strikt voneinander getrennt wurden, konnte dieses Prinzip jedoch auf der unteren staatlichen Verwaltungsebene aus Kostengründen nicht voll umgesetzt werden. Die in ihrem Wirkungsbereich auf jeweils ungefähr 12.000 Einwohner konzipierten sogenannten „Landgerichte" vereinigten Polizey (= Verwaltung) und Justiz in der Hand eines von zwei Assessoren unterstützten staatlichen Landrichters, der in seinem juristischen Wirkungsfeld durch die Fortexistenz der adligen Patrimonial- und Ortsgerichte nicht unerheblich beschränkt wurde. Somit gelang es in der Rechtsprechung nicht, einen allgemeinen und einheitlichen Instanzenzug von unten nach oben aufzubauen, immerhin aber waren die adligen Sondergerichte formal in die neue Gerichtsverfassung eingliedert, und es wurde allerorts im Namen des Königs Recht gesprochen.

Schon in einer als Ansbacher Memoire in die Geschichtsbücher eingegangenen Denkschrift von 1796 hatte Montgelas die Errichtung eines effizient nach Sachressorts organisierten, zentralistischen Verwaltungssystems zum Programm erhoben und diesen Plan seit 1799 im Dienst des Kurfürsten bzw. Königs gezielt vorangetrieben. Es war allerdings vorauszusehen, daß die Widerstände der alten Regional- und Lokalgewalten erheblich sein würden, und daß die Münchener Zentrale einer höchst zuverlässigen und leistungsfähigen Staatsdienerschaft bedürfen würde, um sich Autorität zu verschaffen. Dabei erwies es sich als außerordentlich vorteilhaft, mit der von Nikolaus von Gönner ausgearbeiteten „Haupt-Landes-Pragmatik über die Dienstverhältnisse der Staatsdiener vorzüglich in Beziehung auf ihren Stand und Gehalt" schon relativ frühzeitig (1.1.1805) ein neuartiges Beamtenrecht geschaffen zu haben, das die öffentlich-rechtliche Natur des Beamtenverhältnisses klar umschrieb und an die Stelle fürstlicher Willkür, Käuflichkeit und Korrumpierbarkeit der Ämter transparente und rationale Kriterien setzte. Durch „Privilegierung und Disziplinierung" entstand eine aus der übrigen Bevölkerung herausgehobene Sonderklasse, an der sogar das Generalprinzip der Unaufhaltsamkeit

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der Justiz Halt machte, denn im Fall eines Beamtendeliktes konnte ein geheimrätlicher Dispens davor schützen, vor Gericht gestellt zu werden. Andererseits sah sich die Beamtenschaft vielfältigen Qualifizierungsanforderungen und Disziplinierungsdrohungen, wie zum Beispiel der Dienstversetzung, Degradierung und dem Pensionsverlust, ausgesetzt. Die wichtigsten Privilegien waren lebenszeitliche Anstellung, angemessene Besoldung, Pension und Hinterbliebenenversorgung.

Wie bereits angedeutet, erwies sich die Konstitution von 1808 in denjenigen Passagen am wenigsten überzeugend, in denen es darum gehen sollte, dem Zentralismus der Staatsbürokratie die Vertretung und Teilhabe der Bürger an die Seite zu stellen. Zwar war geplant, die künftige bayrische „National-Repräsentation" von unten nach oben aus gewählten Deputierten der Kreisversammlungen zu bilden, doch war erstens sowohl der für die Abgeordneten der Kreisversammlungen als auch diejenigen der Nationalversammlung geltende Zensus sehr hoch angesetzt und oblag zweitens die endgültige personelle Ausgestaltung der Kreisversammlungen ausschließlich dem König. Damit war aber auch die Zusammensetzung der Nationalkammer, die vom König einmal jährlich einberufen werden mußte, monarchisch präjudiziert. Zudem waren die Kompetenzen der Abgeordneten durchweg gering und blieben sogar noch hinter denjenigen der altbayrischen Ständetage zurück. Es fehlte das Recht auf Gesetzesinitiative, die Deputierten hatten nur in Ausnahmefällen (als Kommissionsmitglieder) Rederecht und konnten keine für die Regierung verbindlichen Beschlüsse fassen. Von Gewaltenteilung im Sinne einer echten und substantiellen Mitwirkung des Parlaments an der Gesetzgebung konnte also nicht die Rede sein!

Es ist deswegen gegen die Verfassung des bayrischen Königreichs von 1808 nicht zu Unrecht der Vorwurf des Scheinkonstitutionalismus erhoben und eine Parallele zu der als napoleonisches Machtinstrumentarium geltenden Konstitution des Königreichs Westfalen vom 7.12.1807 gezogen worden. Dies im übrigen auch unter dem Aspekt der Verfassungspraxis, denn beide Verfassungen wurden in ihren repräsentativen Teilen überhaupt nicht oder nur ganz unvollständig realisiert. So fanden die avisierten Wahlen zu den bayrischen Kreisversammlungen niemals statt, und dementsprechend kam es zu keinem Zeitpunkt zur Einberufung der Nationalkammer, während die

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sogenannten westfälischen „Stände" zwar zweimal, 1808 und 1810, zusammentraten, dabei aber nur als Akklamationsorgan für Beschlüsse des vom König dominierten „Staatsrats" fungierten.

Dennoch wäre es falsch, die bayrische Konstitution von 1808 aus dem Geist der Französischen Revolution bzw. des postrevolutionären napoleonischen Scheinkonstitutionalismus abzuleiten. Das Hauptbestreben Montgelas‘ bestand darin, für Bayern einen eigenen Entwicklungsweg zu kreieren, der sich zwar moderner (französischer) Techniken bediente, seinem Wesen nach aber auf den Errungenschaften des aufgeklärten Absolutismus aufbaute und ein souveränitätsbedrohendes Übergreifen französischer und rheinbündischer Einflüsse auf Bayern unbedingt vermeiden wollte. Zwar geht es in Anbetracht der auffälligen Adaption des westfälischen Repräsentationssystems wohl zu weit, für Montgelas-Bayern vom „Prototyp eines Staates des aufgeklärten Absolutismus" zu sprechen, wie es Ernst-Rudolf Huber in seiner Deutschen Verfassungsgeschichte tut [Vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte..., Bd. 1, S. 91.], doch war das Übergewicht bürokratisch-absolutistischer Elemente in Bayern deutlich genug ausgeprägt, um den eigenständigen Charakter des Systems und damit die Handschrift Montgelas‘ nach wie vor deutlich erkennen zu lassen. In diesem Sinne typisch war auch das Streben nach rechtlicher Fixierung und institutioneller Verankerung des Bündnisses von Monarchie und Bürokratie. Dem späteren preußischen Staatsrat von 1817 ähnlich, firmierte der oben erwähnte bayrische „Staatsrat" als Vertretungsorgan der Spitzenbeamtenschaft und stellte damit eine Art von bürokratischem „Parlamentsersatz" zum Hauptzweck der Verhinderung monarchischer Despotie dar.

Insgesamt war das bayrische Konstitutionalisierungsprogramm in noch stärkerem Maße als das preußische darauf angelegt, die Integration und Modernisierung des Landes dem staatlichen Verwaltungsapparat zu überantworten und das Parlament auf die bloße Akklamationsfunktion zu reduzieren. Von 'Verfassung' im Sinne einer wirklichen Interaktion und Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat mag man insofern kaum sprechen. Zwar trifft es zu, daß die 1808 festgeschriebene Verknüpfung von Repräsentation und Eigentum einen Modernitätssprung aus dem ständischen in das materielle bürgerliche Wertesystem darstellte, indem nämlich nur noch Eigentum

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und Steuerleistung und nicht mehr ständisches Herkommen den Zugang zum aktiven und passiven Wahlrecht eröffneten. Doch wurde der hier aufblitzende Gedanke der Verkopplung von Staat und Bürgertum (auf Kosten von Adel und Prälatenstand) durch die völlig marginalen Mitwirkungsrechte der Repräsentanten wiederum entwertet. Eine weitere Schmälerung der konstitutionellen Entwicklungsmöglichkeiten Bayerns ergab sich bei der Behandlung der Städte und Märkte, denn auch auf dieser Ebene ging es ausschließlich um die Zurückdrängung der altständischen Kräfte und die Durchsetzung der Staatsautorität, nicht um den Aufbau von Selbstverwaltungs- und Mitbestimmungsstrukturen. Als Konsequenz stellten sich die unvermeidlichen Symptome der Überzentralisierung, Überbürokratisierung und bürokratisch-polizeistaatlichen Gängelung ein.

Die Entstehung einer nach vorne weisenden, von „Gemeingeist und Bürgersinn" getragenen Verfassungskultur war unter den dreiviertelabsolutistischen Bedingungen der Konstitution von 1808 nahezu ausgeschlossen, so daß es im Grunde wenig machte, daß die Nationalrepräsentation kein einziges Mal einberufen wurde. Zur Keimzelle der Konstitutionalisierung Bayerns hätte sie nach Lage der Dinge kaum werden können. Der diktatorisch-scheinkonstitutionelle Einschlag der bayrischen Verhältnisse läßt es kaum zu, von einer gelungenen „Synthese von Aufgeklärtem Absolutismus und westeuropäischem Konstitutionalismus" (Elisabeth Fehrenbach) zu sprechen. [Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Verfassungs- und sozialpolitische Reformen und Reformprojekte in Deutschland unter dem Einfluß des napoleonischen Frankreich, in: Historische Zeitschrift, Bd. 228 (1979), S. 288-316, hier: S. 293. Fehrenbach spricht freilich vorsichtig von der „Chance", eine solche Synthese herzustellen.] Gewiß ist der Münchener Beamtenelite um Montgelas zu bescheinigen, mit bemerkenswertem Erfolg die Stabilisierung des neugegründeten und territorial beträchtlich erweiterten Königreichs betrieben und sich dabei zahlreicher Errungenschaften von 1789/99 zweckmäßig und pragmatisch bedient zu haben. Auch ist zuzugeben, daß zum Zeitpunkt 1808 eine ausreichende bildungs- und besitzbürgerliche Basis fehlte, um sozusagen „von der Mitte aus" und am Adel vorbei ein gesellschaftlich fundiertes Verfassungswerk zu schaffen. Und vermutlich stellte die „Revolution von oben" die einzige praktikable politische Handlungsoption dar, als sich Napoleons Schatten über

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Bayern legte, der Modernisierungsdruck stieg und die Zeit für „organische" Reformen knapp wurde. Mithin spielte der französische Einfluß „die Rolle eines Katalysators, der die Reformen in Staat und Gesellschaft möglich, notwendig und dringend werden ließ." [Eberhard Weis, Der Einfluß der Französischen Revolution und des Empire auf die Reformen in den süddeutschen Staaten, in: Francia, 1 (1973), S. 569-583, hier: S. 583.] Doch fehlte der Modernisierungsdiktatur Montgelas‘, der zwischen 1809 und 1817 gleichzeitig drei (von fünf) Ministerämtern in seiner Person vereinigte, der politische Wille zur Schließung der Lücke zwischen Verfassungsnorm und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ein überzeugendes gesamtgesellschaftliches bürgerliches Emanzipationsprogramm hat es in Montgelas-Bayern nicht gegeben; die Verfassungspolitik blieb in zu starkem Maße auf die Verwaltung konzentriert, und im Verhältnis von Staat und Gesellschaft mehrten sich vor allem in der Endphase die Anzeichen für Verkrustung und Stagnation.

Die meisten der am bayrischen Beispiel vorgestellten Modernisierungsfelder finden sich in vergleichbarer Ausprägung und Tendenz auch in den beiden anderen großen süddeutschen Staaten, Württemberg und Baden; mit gewissen Abstrichen zeigen sie sich auch in Hessen-Darmstadt und Nassau. Diese Analogien erklären sich in erster Linie aus der in etwa gleichartigen Rahmenkonstellation seit 1802/03 und der sich daraus ergebenden „Nötigung zur Reform" (Nipperdey), d.h. erstens durch die Territorialverschiebungen im Umfeld des Reichsdeputationshauptschlusses und zweitens durch die Einbeziehung in den französisch dominierten Rheinbund. Während somit die Grundtendenz der Entwicklung durch die Vorgaben der „großen Politik" weitgehend präjudiziert war, ergaben sich aufgrund der geographisch-politischen Gegebenheiten (Größe des Kernterritoriums, Ausmaß der Territorialgewinne, Nähe zu Frankreich) sowie aufgrund des jeweiligen Entwicklungsstandes zum Zeitpunkt der Konfrontation mit der Moderne gewisse Variationen. So etwa fiel der territoriale Zugewinn für Württemberg und Baden erheblich höher als für Bayern aus und zwang zu besonders drastischen Integrationsmaßnahmen.

Im württembergischen Fall kam als besondere Schwierigkeit hinzu, daß sich das Herzogtum (seit 1803 Kurfürstentum; seit 1806 Königtum) verfassungsrechtlich gesehen zunächst noch im Stadium des ständisch-monarchischen Dualismus befand, d.h. die Landstände ver-

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fügten über Mitspracherechte in praktisch allen wesentlichen politischen und finanziellen Belangen. Da dem Landtag („Landschaft") vornehmlich daran gelegen war, ständische Traditionen und Privilegien zu verteidigen, war die Konfrontation mit dem Regenten vorprogrammiert, denn dieser setzte zur Erreichung einer zügigen gesamtstaatlichen Integration auf Zentralisierung, Bürokratisierung und staatsbürgerliche Nivellierung. Der Kurfürst agierte allerdings zunächst vorsichtig und unterstellte nur die Entschädigungsgebiete als „Neuwürttemberg" einer bürokratisch-absolutistischen Sonderverwaltung mit Sitz in Ellwangen. Erst nach dem Sieg Napoleons und der mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten im Dritten Koalitionskrieg fühlte er sich schließlich stark genug für die innenpolitische Machtprobe. Per Staatsstreich setzte er in den letzten Dezembertagen 1805 die altwürttembergische Ständeverfassung außer Kraft und ordnete die Übertragung der neuwürttembergischen Verfassungsverhältnisse auf den Gesamtstaat an. Am 27. Dezember wurde den im Landschaftsgebäude in Stuttgart anwesenden Ständevertretern die Aufhebung der ständischen Repräsentation mitgeteilt, die landschaftlichen Beamten auf den König vereidigt und deren Akten und Kassen versiegelt; am Neujahrstag 1806 folgte die feierliche Proklamation der württembergischen Monarchie.

Mit Friedrichs Staatsstreich aus Staatsräson war im württembergischen Königreich der Weg frei für einen zügig voranschreitenden Prozeß nachholender Modernisierung. Wie in allen Reformstaaten bedurfte es hierzu des Aufbaus eines gut organisierten Verwaltungsapparats sowie einer loyalen und qualifizierten Beamtenschaft. Beide Strukturleistungen wurden auch in Württemberg erbracht, doch trat hier wie im gesamten Reformwerk die Persönlichkeit des Monarchen ungleich stärker als anderswo hervor. Von bürokratischem Absolutismus im Sinne Montgelas-Bayerns konnte in Württemberg nicht die Rede sein; vielmehr agierte Friedrich als aufgeklärter Despot in der Tradition Friedrichs des Großen und Josephs II. Alle wesentlichen Modernisierungsimpulse gingen nicht nur formal, sondern real vom König aus, der in keiner Phase seiner Regentschaft in die zweite Reihe rückte. Friedrichs Beamte traten entweder dienend oder beratend in Erscheinung - auch im Rahmen des am 1. Juli 1811 eingerichteten „Staatsrats", der als Sachverständigengremium nur auf Anforderung

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des Königs zusammentreten konnte und damit dem ähnlich machtlosen napoleonischen Conseil d‘état nachempfunden war.

Bezeichnend für den patriarchalischen Regierungsstil des „schwäbischen Sultans" war dessen ungewöhnlich aggressive Adelspolitik. Die in der Rheinbundakte vorgesehene Respektierung der mediatisierten Standesherren wurde in Württemberg nicht befolgt. Dagegen zitierte der König Anfang 1807 sämtliche Oberhäupter der mediatisierten Familien zur persönlichen Huldigung nach Stuttgart - für die Betroffenen ein wahrhaft „widerwärtiges Ereignis", dem sie sich auf den Tag genau vier Jahre später nochmals zu unterziehen hatten. Gegen den Geburtsadel richteten sich im übrigen auch Friedrichs energische Bemühungen um den Aufbau einer loyalen Meritokratie durch großzügige Standeserhöhungen für verdiente Militärs und zivile Funktionsträger aus dem Bürgertum. Die sich daraus ergebenden Aufstiegsmöglichkeiten sind aber nicht als Teil eines umfassenderen Verbürgerlichungskonzepts anzusehen. Vielmehr trug das Königreich überwiegend patriarchalisch-polizeistaatliche Charakterzüge, die den persönlichen Freiheitsraum der Untertanen stark einschränkten. Die Pressezensur war hart und unnachgiebig, die Unterstellung der Kirchen unter den Staat rigoros, die Bildungs- und Universitätspolitik allein dem Staatszweck untergeordnet und die Wirtschaftspolitik noch weit vom frühliberalen Laissez-faire-Prinzip entfernt.

Während Württemberg wegen seines nachholenden reformabsolutistischen Interims zwischen ständischer und konstitutioneller Verfassungsordnung einen verfassungsgeschichtlichen Sonderfall darstellt, besteht im Falle Badens die Hauptbesonderheit darin, daß hier zwei deutlich voneinander abgrenzbare, sich ablösende Modernisierungswege auszumachen sind. So erfolgte zwischen 1802 und 1809 zunächst ein zwar beschleunigter, aber noch in der Kontinuität des überkommenen patriarchalischen Absolutismus stehender erster Modernisierungsschub mit recht halbherzigen Reorganisationsmaßnahmen im Verwaltungsbereich, zögernden Entfeudalisierungsschritten und einer vorsichtigen Mediatisierungspolitik. Hauptexponent dieser Richtung war Hofratsdirektor Friedrich Brauer, der dafür plädierte, „möglichst das Alte, und wo es verschieden ist, aus ihm das Beste

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beizubehalten, es aber in seinen Benennungen und Formen dem Zeitgeist anzupassen, [...]" [Brauer zit. n. Lothar Gall, Gründung und politische Entwicklung des Großherzogtums bis 1848, in: Josef Becker (Hg.), Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 11-36, hier: S. 18.]

Brauers Rezept eines schrittweisen Übergangs in die Moderne blieb jedoch hinter der allgemeinen Entwicklungsdynamik der Zeit zurück - noch dazu in einem Staat, dessen Territorium zwischen 1802 und 1806 um das Vierfache und dessen Bevölkerung um das Sechsfache angewachsen war. Eine einheitliche organische Fortentwicklung aus gemeinsamer Wurzel war unter solchen Bedingungen praktisch ausgeschlossen. Hinzu kamen der ständig wachsende französische Kontributionsdruck und ein entsprechend katastrophales Haushaltsdefizit. Es zeigte sich, daß man um eine grundlegende Neuordnung der steuerlichen Abschöpfungsstrukturen und damit der allgemeinen Verwaltungs- und Regierungsorganisation nicht herumkommen würde, zumal auch die einflußreichen französischen „Berater" am Karlsruher Hof in eben diese Richtung drängten. Dies war die Stunde des bis dahin im Schatten Brauers stehenden Freiherrn Sigismund von Reitzenstein, dessen Programm darauf hinauslief, Baden durch eine möglichst weitgehende Adaption der französischen Errungenschaften zum modernsten und führenden Rheinbundstaat umzuformen.

Das von Reitzenstein durchgesetzte Novemberedikt 1809 war gewissermaßen ein Meilenstein des bürokratisch-absolutistischen Zentralismus, ein „napoleonisches Imperium im kleinen" (Sauer) mit allen seinen Stärken und Schwächen. Es teilte das Land in zehn Verwaltungskreise ohne Rücksicht auf historisch gewachsene Bindungen. An der Spitze jedes Kreises stand nach dem Vorbild der französischen Präfekten ein „Kreisdirektor" mit weitreichenden Exekutivbefugnissen nach unten, aber strikter Weisungsgebundenheit gegenüber der Zentrale. Diese figurierte unter der Bezeichnung „Kabinett" und setzte sich aus fünf „büromäßig" organisierten Fachministerien zusammen, an deren Spitze der nur dem Großherzog unterworfene Kabinettsminister stand. Der gegenseitigen Abstimmung der Minister, aber auch der Verhinderung fürstlicher Willkür dienten erstens die Ministerialkonferenz (an ihre Stelle trat 1811 ein Staatsrat mit ähnlichen Funktionen) und zweitens ein Geheimer Rat, der sich aus drei (bürgerlichen) Geheimen Kabinettsräten, darunter Friedrich Brauer,

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zusammensetzte und unmittelbaren Einfluß auf den Monarchen ausübte. Justiz und Verwaltung wurden bereits 1809 getrennt, noch bis 1813 blieb die Patrimonialgerichtsbarkeit erhalten, danach fiel auch dieses standesherrliche Privileg, das ohnehin nur noch als Amt im Namen des Königs ausgeübt worden war.

Die badische Adelspolitik war weniger feindselig als die württembergische, doch wurden auch im Großherzogtum zahlreiche Vergünstigungen, wie das adlige Steuerprivileg, die Zoll- und Akzisefreiheit, die Befreiung vom Militärdienst oder auch das Kirchen- und Schulpatronat, abgebaut und Schneisen in das ständische Gesellschaftsgefüge mit beachtlichen Folgewirkungen geschlagen. Die andere Seite der Medaille waren die übliche polizeistaatliche Gängelung der Untertanen, wobei es in Baden zu dem ziemlich einzigartigen Phänomen der Zulassung nur noch einer Zeitung im gesamten Großherzogtum kam. Die Einführung der vollständigen Gewerbefreiheit mit Aufhebung der Zunftverfassung wagte man auch in Baden nicht. Der größte Schwachpunkt war jedoch, wie überall im Rheinbund, das Fehlen einer glaubwürdigen und funktionsfähigen Landesrepräsentation, die man eigentlich brauchte, um, wie Großherzog Karl Friedrich in einem „Verfassungsversprechen" am 5. Juli 1808 betont hatte, „das Band zwischen uns und dem Staatsbürger noch fester wie bisher geknüpft [zu] wissen." [Zit. n. Paul Sauer, Napoleons Adler über Württemberg, Baden und Hohenzollern. Südwest deutschland in der Rheinbundzeit, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1987, S. 165.] Ohne diese Sicherung nach unten standen der in wenigen Jahren errichtete Staatsapparat und die „von oben" durchgesetzte Gesellschaftspolitik letztlich auf tönernen Füßen und blieben von französischer Protektion abhängig. Dies gilt für den „Kunststaat" Baden als „Kind der Revolution" und „durch und durch revolutionäre Schöpfung" (Lothar Gall) mehr noch als für alle anderen Rheinbundmitglieder, doch standen im Grunde alle Reformstaaten des Südens mehr oder weniger vor dem Zwang, die „von oben" durchgesetzten revolutionären Veränderungen „von unten" zu legitimieren und damit eine tragfähige Grundlage für ihre Fortexistenz zu schaffen. Dabei bestand die besondere Schwierigkeit darin, einerseits auf die überwundenen landständischen Ordnungen keinesfalls zurückgreifen zu können, um die Kräfte der adligen und klerikalen Reaktion nicht zu stärken, andererseits jedoch noch nicht über eine ausreichend breite, am

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Fortbestand des Reformwerks unmittelbar interessierte bildungs- und besitzbürgerliche Bevölkerungsschicht als gleichsam natürliches Fundament zu verfügen. Die Ergänzung der „administrativen" durch die „parlamentarisch-repräsentative" Repräsentation stieß damit an strukturelle Grenzen, deren forcierte Überwindung nur durch eine aktive Förderung des bürgerlichen Elements zu erreichen war.

Hier genau lag der Schwachpunkt der süddeutschen Reformen der napoleonischen Zeit, die zwar große Erfolge bei der Zerschlagung altständischer Strukturen verbuchen konnten und vornehmlich im Zivil- und Strafrecht wichtige Vorleistungen auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft erbrachten, jedoch auf dem im engeren Sinne verfassungspolitischen Gebiet an der Systemgrenze zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus haltmachten.

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4. Fazit

Das Hauptziel aufgeklärt-absolutistischer Modernisierungspolitik bestand durchweg in der Stabilisierung, Stärkung und Ausweitung der Staatsmacht nach innen und außen. Hieraus ergab sich ein ambivalentes Reformprogramm, das einerseits auf die Destruktion derjeniger Strukturen und Kräfte abzielte, die sich dem Programm der Durchsetzung innerer staatlicher Souveränität in den Weg stellten, und das andererseits die Konstruktion einer neuen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung anstrebte. Bis zur Jahrhundertwende wurden diese Maßnahmen überwiegend aufklärungsphilosophisch begründet und blieben abstrakten Rationalitäts-, Allgemeinwohl- und Glückseligkeitsvorstellungen verhaftet. Ab 1789 mußten sie sich am Werk der französischen Nationalversammlung messen und später mit dem napoleonischen Gesellschafts- und Staatsmodell konfrontieren lassen. Unter den Bedingungen der zusammenbrechenden Reichsverfassung erwies sich die Nähe zum napoleonischen Hegemonialsystem als Standortvorteil im Kampf gegen die alten Zwischengewalten, lokalen Autonomien und Sonderprivilegien - einerseits weil der Integrations- und Reformdruck in den halbkünstlichen süddeutschen Staaten besonders stark war, anderseits weil unter französischem Protektorat besonders rigoros vorgegangen werden konnte - man denke an den von Napoleon gedeckten Staatsstreich Friedrichs von Württemberg Ende 1805. Für die Zukunft erwies sich eine harte Adelspolitik als

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Glücksfall, denn obwohl in Bayern, Württemberg und Baden weniger als in Preußen für den Aufbau einer bürgerlich-liberalen Gesellschafts- und Verfassungskultur getan worden war, konnten sich die feudalen und kirchlichen Standesherren von den Schlägen der napoleonischen Ära nicht mehr erholen und mußten dem Konstitutionalismus den Weg freimachen.

Anders die Situation in Preußen, wo eine gewisse Zurückdrängung des Adels ansatzweise zwar versucht, in Anbetracht der Schwäche des Königtums und der unvergleichlich stärkeren Machtbastionen der Junker praktisch jedoch undurchführbar blieb - erinnert sei an das Beispiel der gescheiterten Landgemeindereform. Da eine radikale Umwälzung der bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht möglich war, setzte man, wo möglich, auf eine Kombination von drastischen Modernisierungsmaßnahmen einerseits (Heeresreform, Verwaltung der obersten und mittleren Ebene, Gewerbefreiheit) mit mittel- und langfristig angelegten Entwicklungsprogrammen andererseits. Letztere zielten auf die Förderung und gesamtgesellschaftliche Implementation des bürgerlichen Elements in die zunächst weiterbestehende feudalaristokratische Grundstruktur - man denke an die Steinsche Städteordnung, die Humboldtsche Bildungsreform und den Wirtschaftsliberalismus. In manchen Punkten war dieses Reformpaket erfolgreich; es scheiterte jedoch in der Absicht, den grundsätzlichen Dualismus zwischen feudaler Tradition und bürgerlicher Lebenssphäre zu überwinden. Beide Welten blieben letztlich unverbunden und in ihren politischen Werthaltungen strikt voneinander getrennt. Der idealtypischen Formel von „Gemeingeist und Bürgersinn" fehlte der zugrundeliegende „common sense", den auch die Staatsbürokratie, die sich zum unparteiischen Schiedsrichter im Interesse des Ganzen stilisierte, nicht zu vermitteln vermochte. Dies waren alles in allem ungünstige Voraussetzungen für ein Verfassungskonzept der wechselseitigen und harmonischen Durchdringung von Staat und Gesellschaft, zumal spätestens ab 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen deutlich wurde, daß die Zeit nicht, wie Stein, Hardenberg, Humboldt und manch anderer geglaubt hatte, für, sondern gegen Verfassung und Repräsentation arbeitete.

Dem geringsten Reformdruck sah sich die Habsburgermonarchie ausgesetzt - einmal, weil hier wesentliche reformerische Vorleistungen durch die aufgeklärten Monarchen Maria Theresia und Joseph II.

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bereits erbracht worden waren, zum anderen, weil die von Napoleon ausgehende Gefährdung der österreichischen Großmachtstellung nicht den Grad der existentiellen Bedrohung Preußens erreichte. Zu einer planvollen Weiterentwicklung der Errungenschaften des theresianisch-josephinischen aufgeklärten Despotismus ist es unter diesen Bedingungen nicht gekommen, vielmehr zeigten sich Tendenzen ständischer und partikularer Restauration. In diesem Sinne bezeichnend war die Wiedereinführung des altständischen Tiroler Landtags 1816, nachdem dieser noch unter bayrischer Herrschaft aufgelöst worden war. Ähnlich verhielt es sich im Fall des neugewonnenen Salzburg, das 1826 eine landständische Verfassung nach traditionell erbländischem Muster erhielt. Vom klassischen Leitprogramm konservativer Reform, das Neue aus dem Schoß des Alten zu entwickeln, blieb das österreichische Kaiserreich noch weit entfernt.

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