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Jörg Engelbrecht
Auf dem Weg von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft.
Reformprozesse in Deutschland im Zeitalter Napoleons


Die Jahre „um 1800" waren in ganz Europa eine Phase des beschleunigten Wandels und einer grundlegenden Neugestaltung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Ganz besonders trifft dies auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu, dessen Ende im Jahre 1806 zusammenfällt mit einer Reihe tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, von denen eine große Zahl deutscher Länder erfaßt wurden. In der Geschichtswissenschaft werden die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts häufig etwas pauschalierend als „Reformzeit" bezeichnet, wobei außer acht bleibt, daß es sich hier um höchst unterschiedliche Reformen handelt, deren gemeinsames Kennzeichen war, daß sie „von oben" durchgesetzt wurden. Durch diese Reformen wurde ein Modernisierungsprozeß in Gang gesetzt, in dessen Verlauf die relative Rückständigkeit Deutschlands gegenüber Westeuropa bis zu einem gewissen Grade wettgemacht wurde, auch wenn die Entwicklung sich in den einzelnen Teilen Deutschlands auf höchst unterschiedlichem Niveau bewegte.

Man kann in Deutschland vier Modernisierungsprozesse erkennen, die sich hinsichtlich ihrer Ausgangslage und ihrer Motive zum Teil grundlegend unterscheiden. Da sind einmal die preußischen Reformen, die sich mit den Namen des Freiherrn vom Stein, Hardenbergs und anderer verbinden; ferner die Reformen in den süddeutschen Rheinbundstaaten Bayern, Baden und Württemberg, in geringerem Maße auch in Hessen-Darmstadt und in Nassau; die Vorgänge in den napoleonischen „Modellstaaten" Berg, Westfalen und Frankfurt und schließlich die soziale und politische Neuordnung im linksrheinischen Deutschland, das sich zwischen 1794 und 1814 direkt unter französischer Herrschaft befand und seit spätestens 1798 als integraler Bestandteil Frankreichs zu gelten hat.

Nur die letztgenannten beiden Reformbewegungen gingen unmittelbar auf die Initiative Napoleons zurück, während im übrigen Deutschland autochthone Modernisierungsimpulse zusammen mit

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dem Vorbild Frankreichs wirksam wurden. Erst aus deren Synthese entstand jene „defensive Modernisierung" (H.-U. Wehler), die dann auch die weitere deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert prägen sollte. Fast unberührt von allen Reformbestrebungen blieb allein die zweite deutsche Großmacht Österreich. Das Scheitern der radikalen aufgeklärt-absolutistischen Politik Josephs II. (1765/80-1790) hatte hier für lange Zeit jede reformerische Politik desavouiert. Die Folgen dieser Politik haben dann wiederum die Entwicklung in nachnapoleonischer Zeit entscheidend beeinflußt, und zwar bis zur Revolution von 1848/49. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", eine Konstante der deutschen Geschichte während der Frühen Neuzeit, blieb also auch bestimmend für die Richtung, welche die Veränderungen der napoleonischen Zeit nahmen.

Allen genannten Reformprozessen ist jedoch gemeinsam, daß sie ohne die französische Expansion in den Jahren nach 1794 undenkbar gewesen wären; jedenfalls hätten sie sich niemals mit einer solchen Dynamik vollzogen. Unter der Wucht der revolutionären Expansion brach das Gefüge des Heiligen Römischen Reiches innerhalb weniger Jahre in sich zusammen, wobei freilich anzumerken ist, daß sich kaum eine Hand zu seiner Verteidigung rührte. Es scheint, als ob die mächtigeren unter den deutschen Fürsten nur auf die Gelegenheit gewartet hätten, um sich der lästig gewordenen Bindungen an Kaiser und Reich zu entledigen, und somit im eigentlichen Sinne erst souverän zu werden. Diese Souveränität nach innen wie nach außen führte zwangsläufig auch zu einem neuen Verständnis von „Staat", der nun nicht mehr länger allein durch die Person des Fürsten repräsentiert wurde, sondern als politische Kategorie sui generis verstanden wurde. Sie führte ferner auch zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Fürst und Untertanen, wobei letztere immer mehr zu „Staatsbürgern" im modernen Sinne wurden. Was der Absolutismus nirgendwo vermocht hatte, wurde während der Reformzeit erreicht: Die ständischen Unterschiede zwischen den Menschen begannen sich aufzulösen und wurden durch neue soziale Strukturen ersetzt. Nicht mehr allein die Geburt bestimmte die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, sondern vielmehr seine individuelle Leistungsfähigkeit und seine ökonomische Potenz. Damit wurden in den Jahren um 1800 bereits wichtige Weichen in Richtung auf die Klassengesellschaft des 19.

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Jahrhunderts gestellt, wenngleich natürlich nicht sogleich und überall die feudalen Elemente verschwanden.

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1. Die Problematik der preußischen Reformen

Am nachhaltigsten blieb Preußen von den überkommenen agrarisch-ständischen Strukturen geprägt. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß die preußischen Reformen sich unter völlig anderen Bedingungen vollzogen als diejenigen im Dritten Deutschland. Zum einen sah sich die preußische Monarchie in den Jahren nach 1807 auf ihre ostelbischen Kernlande zurückgeworfen (Brandenburg, Pommern, Preußen, Schlesien), die - mit Ausnahme Schlesiens - ziemlich homogen geprägt waren. Zum anderen wurden bei den preußischen Reformen nur bedingt französische Vorbilder wirksam. Die innovativen Impulse kamen hier von Männern, die - obgleich großenteils keine gebürtigen Untertanen der preußischen Krone - zuvor schon ihre Erfahrungen im preußischen Staatsdienst gesammelt hatten und von der grundsätzlichen Reformbedürftigkeit des Staates überzeugt waren. Sie waren keine „Revolutionäre" (wie im übrigen auch ihre Kollegen in den anderen deutschen Staaten nicht), sondern sie wollten durch ihre Maßnahmen im Gegenteil dazu beitragen, das politische und soziale System in Preußen durch Reformen zu erneuern, ohne dessen Grundlagen völlig preiszugeben. Dies bedeutete konkret: An der gesellschaftlichen und politischen Dominanz des Adels hielt man fest. Zugeständnisse wurden den Bauern und den Bürgern nur insoweit gemacht, als man dadurch den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen glaubte. Man beseitigte zunächst nur die schlimmsten Auswüchse des feudal-absolutistischen Systems, beispielsweise die Gutsuntertänigkeit der Bauern oder die weitgehende Rechtlosigkeit der Stadtbürger. Doch selbst Eingriffe in Teilbereiche des ständischen Systems mußten notwendigerweise auf das Ganze zurückwirken, so daß sich in einem länger andauernden Modernisierungsprozeß, der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmen sollte, Staat und Gesellschaft in Preußen von Grund auf wandelten.

Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) aus dem Jahre 1794, eine Kodifikation, die auch nach 1815 in Kraft blieb, hatte die prinzipiell ständische Ordnung der Gesellschaft festgeschrieben. Dieses Recht war also kein allgemein und für alle Einwoh-

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ner gültiges, sondern kannte nach wie vor die rechtliche Ungleichheit der Menschen, je nachdem, welchem „Stand" sie angehörten. Ein Bürger wurde infolgedessen rechtlich anders behandelt als ein Bauer, ein Adliger unterlag anderen rechtlichen Bindungen als ein Beamter oder ein Soldat. Wenngleich das ALR unverkennbare Tendenzen zur Nivellierung der ständischen Unterschiede zeigte, blieb doch die Tatsache bestehen, daß sich der König keinem gleichförmigen Untertanenverband, sondern einer vielfältig abgestuften Gesellschaft gegenüber sah. Gleichwohl stellte das ALR insofern einen wichtigen Schritt in Richtung auf den modernen Staat dar, als ihm der Gedanke der Rechtsvereinheitlichung zugrunde lag. Zwar blieben die besonderen Provinzialgesetze weiterhin in Kraft, doch bildete das ALR als subsidiäres Recht gewissermaßen die Klammer, die den Staat zusammenhielt.

Auf dieser subsidiären Grundlage konnten nach dem militärischen Zusammenbruch 1806/07 also auch weitreichende, in der gesamten preußischen Monarchie geltende Reformen durchgeführt werden, was zuvor häufig an der relativen Eigenständigkeit der Provinzen gescheitert war. Ob es sich um die sogenannte Bauernbefreiung, die Einführung einer Städteordnung oder die Reform des Bildungswesens handelte, sie alle wurden in ganz Preußen verbindlich und trugen ganz wesentlich zur Integration des Gesamtstaates bei. Probleme ergaben sich allerdings in den Jahren nach 1814/15. Jetzt zeigte sich, daß die preußischen Reformen sehr stark auf die Verhältnisse in den ostelbischen Territorien abgestellt waren und den Bedingungen in den neuerworbenen Westprovinzen nur unzureichend Rechnung zu tragen vermochten. Hier, im Westen der Monarchie - vor allem in der Rheinprovinz -, prallten nun preußische und französische Reformvorstellungen hart aufeinander. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen Rheinländern und Preußen war dann die Modifizierung des preußischen Rechts durch die Übernahme verschiedener ursprünglich französischer Rechtselemente, die unter der Hand zum „Rheinischen Recht" mutiert waren.

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2. Das von Frankreich annektierte Rheinland

Die wohl radikalste Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse fand nach 1794 in den von Frankreich besetzten linksrheinischen Teilen Deutschlands statt. Nach einer Phase der bloßen militärischen Okkupation und systematischen Ausplünderung des Landes entschloß man sich in Paris gegen Ende des Jahres 1797 zur Integration dieses Gebiets in den französischen Staat. Handlungsleitend war hier die Forderung nach einer „natürlichen Grenze", die der Rhein für Frankreich ebenso darstellte wie die Pyrenäen oder der Atlantik. Die Integration des Rheinlands vollzog sich in mehreren Phasen und wurde schließlich 1801 im Frieden von Lunéville auch völkerrechtlich anerkannt. Die Rheinländer waren damit im Rechtssinn zu Franzosen geworden, das Band mit ihren ehemaligen Herrschern war endgültig zerschnitten. Im Rheinland wurde, anders als in den deutschen Reformstaaten, das französische Gesellschaftsmodell zwischen 1798 und 1801 en bloc übertragen. Der Adel als Stand wurde aufgelöst, die feudalen Lasten wurden ersatzlos abgeschafft und die Bürger in einen einheitlichen Bürgerverband einbezogen, der einem ebenso einheitlichen Recht unterworfen war. An die Stelle der alten ständischen Gesellschaft war somit die staatsbürgerliche getreten, die wenigstens dem Anspruch und der Tendenz nach egalitär verfaßt war.

Von den zahlreichen einschneidenden Veränderungen jener Jahre erwies sich vor allem die Aufhebung der Klöster im Jahre 1802 als besonders folgenreich, ein gesamtdeutscher Vorgang, der gemeinhin als „Säkularisation" bezeichnet wird. Im überwiegend katholischen Rheinland verfügten die Klöster und andere kirchliche Institutionen über gewaltigen Grundbesitz, der annähernd ein Drittel der gesamten Fläche ausmachte. Diese Ländereien wurde jetzt von Staats wegen eingezogen, zu „Nationalgütern" deklariert und bald darauf veräußert. Jedermann konnte den ehemals kirchlichen Besitz erwerben, was zuvor aufgrund des kanonischen Rechts ausgeschlossen gewesen war. Es setzte eine gewaltige Spekulationswelle ein, in deren Verlauf einzelne Immobilien in rascher Folge den Besitzer wechselten und dabei eine immer größere Wertsteigerung erfuhren. Noch entscheidender aber wirkte sich die Tatsache aus, daß Grund und Boden damit in einem nie gekannten Ausmaß frei gehandelt werden konnten. Das

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bedeutete einen radikalen Bruch mit der überkommenen Vorstellung, daß jegliches Land mit Herrschaftsrechten verbunden war.

Jahrhundertelang hatte das Prinzip gegolten, daß allein der Besitz von Land - und damit die Ausübung von Herrschaft - zu politischer Mitsprache auf der Ebene des gesamten Territoriums berechtigte. Auf dieser Tatsache gründete sich in ganz entscheidendem Maße die Vorherrschaft von Adel und Kirche, die ihre konkrete Ausprägung wiederum in Gestalt der landständischen Verfassung fand. Bürger und Bauern war es in den meisten Fällen verwehrt, Land zu freiem Eigentum zu erwerben. Wo dies doch vorkam, blieben die daran haftenden Rechte, beispielsweise die niedere Gerichtsbarkeit, das Jagd- und Fischereirecht oder das Recht zur Landtagsteilnahme, davon ausgenommen. Nachdem im Zuge der Entfeudalisierung der Gesellschaft diese Rechte ersatzlos aufgehoben worden waren, handelte es sich bei Grund und Boden demnach nur noch um eine Ware, die dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterlag. Da jedermann berechtigt war, in beliebigem Umfang Nationalgüter zu erwerben, kam eine gewaltige Mobilisierung des Grundeigentums in Gang, in deren Verlauf nun größere Ländereien - darunter auch Besitzungen von emigrierten Adligen - in bürgerlichen und bäuerlichen Besitz übergingen. Dieser Vorgang betraf auch die kirchlichen Gebäude, von denen zahlreiche als Fabrikanlagen Verwendung fanden, andere jedoch auf Abbruch verkauft wurden.

Sieht man die Säkularisation im Zusammenhang mit der Aufhebung aller wirtschaftlicher Beschränkungen, wie sie beispielsweise den Zunftzwang oder die Niederlassungsfreiheit in den einzelnen Gewerben betrafen, kam es im Rheinland in jenen Jahren zu einer durchgreifenden ökonomischen Liberalisierung, was vor allem den Interessen des Wirtschaftsbürgertums entgegenkam. Diese Schicht war es in erster Linie, die vom französischen System profitierte, und entsprechend war hier auch dessen Akzeptanz besonders ausgeprägt. Das Wirtschaftsbürgertum, während des Ancien Régime von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen, sah sich auf einmal als „staatstragende Schicht" hofiert. Da sich politische Mitspracheberechtigung in Frankreich an der Höhe des individuellen Steueraufkommens bemaß, rückten große Teile des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, zusammen mit dem immer noch wohlhabenden (ehemaligen) Adel, in den Kreis der „Notablen", also der aktiv und passiv

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Wahlberechtigten, auf. Zwar blieb der reale politische Einfluß, der auf den verschiedenen Ebenen, angefangen von den Munizipalitäten bis hin zu den Departementsräten, ausgeübt werden konnte, vergleichsweise bescheiden, doch stellte dies einen erheblichen Zuwachs an politischer Partizipation dar, auch wenn man von der Durchsetzung demokratischer Prinzipien noch weit entfernt war.

Vielleicht noch wichtiger für die (wirtschafts-)politischen Einflußmöglichkeiten des Bürgertums wurden jene „semioffiziellen Institutionen" (J.Diefendorf), die während der französischen Zeit eingerichtet wurden. Gemeint sind hier die Handelskammern und ihre Unterorganisationen, die einen nicht unbeträchtlichen Handlungsspielraum eröffneten. Sie wirkten beratend an der politischen Arbeit mit und konnten durch Denkschriften, persönliche Vorsprachen und über zahlreiche informelle Kanäle den wirtschaftspolitischen Kurs der Behörden beeinflussen. Neben den Handelskammern stellten die Gewerbegerichte (Conseils de Prud'hommes) wichtige Instrumente der Wirtschaftslenkung und - was noch wichtiger war - der Sozialdisziplinierung der Arbeitskräfte dar.

Für die Mehrheit der Bevölkerung hatte sich indes weniges zum Besseren verändert. Allem Freiheitspathos der Franzosen zum Trotz wollten die meisten Menschen gar nicht das „Joch des Feudalismus" abschütteln, das am Rhein ohnehin nie besonders drückend gewesen war. Wer zuvor Untertan der Kurfürsten von Köln, Mainz oder Trier gewesen war, der hatte eher die Erfahrung gemacht, daß es sich unter dem Krummstab gut leben ließ. Der Landesherr hatte sich zumeist als gnädiger Landesvater gezeigt und war für die meisten Menschen ohnehin eine Figur, die sie nur aus der Ferne erlebten. Jetzt sahen sie sich einer äußerst effizienten Staatsverwaltung gegenüber, deren Beamte tatsächlich die Kontrolle über sämtliche Lebensbereiche anstrebten. Die Steuern wurden zwar jetzt gerechter verteilt, weil jeder Bürger steuerpflichtig war, dafür überstieg die Höhe der zu leistenden Abgaben aber bei weitem das bislang gewohnte Maß. Dazu kam als weitere Neuerung die Wehrpflicht, die sogenannte „Konskription". Dies war wohl die einschneidendste Neuerung für die eher unmilitärischen Rheinländer. Die ständigen Kriegszüge Napoleons ließen den Bedarf an neuen Soldaten rasch ins Unermeßliche steigen, und entsprechend viele wehrfähige Männer in den vier rheinischen Departements wurden eingezogen. Die Folge war ein hohes Maß an Desertio-

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nen und anderen Formen militärischen Ungehorsams, seltsamerweise in den nördlichen Rheinlanden seltener als am Mittelrhein.

Wenn es dennoch bei diesen Formen des passiven Widerstands blieb und es nirgendwo zu Volkserhebungen oder Unruhen kam, so kann man dies als Indiz dafür werten, daß die Menschen doch zumindest die Tatsache zu würdigen wußten, daß sie von der guten – weil kriegsbedingten - Wirtschaftskonjunktur des französischen Kaiserreichs profitierten. Dem Widerstand gegen die französische Herrschaft waren auch insofern enge Grenzen gezogen, weil der Staat über einen nahezu perfekten Überwachungsapparat verfügte. Im napoleonischen System hat der Begriff des „Polizeistaats" seine erste moderne Ausprägung erfahren. Besonderes Augenmerk schenkte man der Volksstimmung und ihren Schwankungen. Gegen aufkommende Unzufriedenheit wurde indes nicht allein mit repressiven Maßnahmen reagiert, sondern auch mit dem Versuch, ihr propagandistisch gegenzusteuern. Eine besondere Bedeutung erhielt in diesem Zusammenhang der Napoleon-Kult, der als identitätsstiftendes Moment in ganz Frankreich wirksam war. Die Person des Kaisers - wir wissen es von Heinrich Heine - genoß überall im Rheinland eine fast mythische Verehrung, und die staatliche Propagandamaschine tat das ihre, um das Bild des Korsen stets in strahlendem Licht erscheinen zu lassen. Dieser Napoleon-Kult hat die französische Zeit lange überdauert, und seine Spuren lassen sich im Rheinland bis in die Zeit der Reichsgründung hinein verfolgen.

Auch wenn an der Jahreswende 1813/14 die französische Herrschaft im Rheinland zusammenbrach und bald darauf Preußen, Bayern und Hessen die „Wacht am Rhein" übernahmen, so hat doch die fast zwanzigjährige Zugehörigkeit zu Frankreich in diesem Raum tiefe Spuren hinterlassen. Die feudalen Strukturen waren hier restlos zerschlagen worden, und es schien ausgeschlossen, das Rad der Geschichte einfach zurückzudrehen.

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3. Die napoleonischen Modellstaaten am Beispiel des Großherzogtums Berg

Die Entwicklung im linksrheinischen Deutschland findet eine gewisse Parallele in den sogenannten napoleonischen „Modellstaaten" des Rheinbundes, also in Berg, Frankfurt und Westfalen. In diesen nach

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1806 neugebildeten Ländern wollte Napoleon eine politische und soziale Ordnung schaffen, von deren Existenz er sich eine Vorbildfunktion auch für die übrigen deutschen Staaten erhoffte. Dabei stand zwar das französische Modell Pate, doch handelte es sich bei den hier stattfindenden Modernisierungsprozessen andererseits nicht um eine bloße Übernahme, sondern im Einzelfall auch um eine behutsame Adaption an die vorgefundenen Gegebenheiten. Dies gilt besonders für das 1806 geschaffene Großherzogtum Berg.

Berg war ein Kunststaat, der sich aus zahlreichen ehemals selbständigen Territorien zusammensetzte, darunter als Kernraum das namengebende Herzogtum, das rechtsrheinische Kleve sowie die Grafschaft Mark. Für das Großherzogtum als gewerblich verdichtete Zone - es dominierten die Textilindustrie und das Kleineisengewerbe - war der französische Absatzmarkt von besonderem Interesse. Frankreich wiederum hatte Bedarf an den in Berg produzierten Gütern, vor allem an Uniformstoff und Waffen. Trotz der im Prinzip rigiden Schutzzollpolitik des Kaiserreichs gelang es den bergischen Fabrikanten, ein Wirtschaftsabkommen mit Frankreich abzuschließen, wonach ihre Produkte bei der Einfuhr nach Frankreich zollbegünstigt waren, ein Vorteil, der den übrigen rechtsrheinischen Exportindustrien verwehrt blieb. Nicht zuletzt verband Napoleon damit die Absicht, die bergische Industrie als mögliche Konkurrenz zur britischen zu stärken. Zu den Neuerungen, von denen die bergische Wirtschaft profitierte, gehörte die Einführung der Gewerbefreiheit, was wiederum die Bildung großer Betriebseinheiten und, damit verbunden, die Möglichkeit zur Produktionssteigerung förderte.

Die Periode unmittelbar nach der Schaffung des neuen Staates war demnach für Berg eine Zeit der wirtschaftlichen Prosperität und der Vollbeschäftigung, nachdem die Industrie in den Jahren zuvor kriegsbedingt schwere Verluste hatte hinnehmen müssen. Es gab also auch hier von seiten des Wirtschaftsbürgertums zunächst keinen Grund, mit dem neuen System unzufrieden zu sein. Das änderte sich, als die Zollbegünstigung im Verkehr mit Frankreich und Südeuropa ab Ende 1807 schrittweise ersatzlos aufgehoben wurde und die Wirtschaft nachfolgend in eine schwere Rezession geriet. Jetzt wurde deutlich, daß es sich bei der Konjunktur der voraufgegangenen Zeit um eine kurze Scheinblüte gehandelt hatte. Die Folge war eine in diesem Ausmaß bislang nicht gekannte Arbeitslosigkeit, was wiederum zur

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Abwanderung vieler qualifizierter Arbeitskräfte auf das linke Rheinufer führte.

Die Lage der arbeitenden Bevölkerung in den Jahren ab 1810 wird man sich nicht dramatisch genug vorstellen dürfen, denn sie entbehrte jeglichen Schutzes durch die zuvor bestehenden, von den Franzosen jedoch ersatzlos aufgehobenen Zunftorganisationen. Angesichts des Massenelends versagten aber auch die traditionellen karitativen Einrichtungen, die sich vorwiegend in kirchlicher Trägerschaft befanden, und der Staat war noch nicht in der Lage, ein wirksames Wohlfahrtswesen zu organisieren. In dieser Situation sah sich das Bürgertum aufgerufen, sich verstärkt im Bereich der Armenfürsorge zu engagieren, was namentlich in Barmen und Elberfeld, den Zentren der bergischen Textilindustrie, mit großem Erfolg geschah. Viel mehr, als die schlimmste Not zu lindern, vermochte allerdings auch diese bürgerliche Initiative nicht. Das sogenannte „Elberfelder System" unterstützte allein in dieser Stadt regelmäßig an die 1.000 Personen, wobei es sich überwiegend um Alte und Kranke handelte, die Masse der Arbeitslosen also überhaupt noch nicht erfaßt war.

Anders als im Linksrheinischen, wo der Grad der Akzeptanz des französischen Systems recht hoch war, empfanden die Menschen im Großherzogtum Berg das neue Regime eher als Fremdherrschaft, zumal in den Jahren ab 1810. Nahezu alle Reformbemühungen der Verwaltung blieben zudem in Ansätzen stecken und konnten während der Existenz dieses Staates nicht mehr realisiert werden; vom „Modellstaat Berg" war nicht viel zu merken. Als mit dem Scheitern des französischen Rußlandfeldzuges das Ende der napoleonischen Herrschaft abzusehen war, brach sich deshalb an zahlreichen Orten des Großherzogtums der aufgestaute Unmut gewaltsam Bahn. Die Schwerpunkte der Aufstände vom Januar/Februar 1813 lagen, wie kaum anders zu erwarten, in den Gewerberegionen des Bergischen Landes.

Der endgültige Zusammenbruch des Großherzogtums Berg am Jahresende 1813 wurde von den meisten Menschen zwar einerseits begrüßt, weil damit endlich friedliche Zeiten anzubrechen schienen, man gab sich aber andererseits keinen Illusionen über einen etwa bevorstehenden wirtschaftlichen Wiederaufschwung hin. Tatsächlich stellte die „Franzosenzeit" für die rechtsrheinischen Gewerbegebiete eine tiefe Zäsur in ihrer Entwicklung dar. Es fehlte an Kapital, um die dringend notwendige Mechanisierung der Industrie voranzutreiben,

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und es fehlten qualifizierte Arbeitskräfte, die größtenteils ins Linksrheinische abgewandert waren. Unter diesen Umständen war man kaum in der Lage, der britischen Industrie Paroli zu bieten, die sich nach dem Fortfall der Kontinentalsperre anschickte, den europäischen Markt mit billigen Erzeugnissen zu überschwemmen.

Als langfristig bedeutendstes Ergebnis der großherzoglichen Zeit - und hier berühren sich wiederum die links- und die rechtsrheinische Entwicklung - bleiben die weitgehende Entfeudalisierung der Gesellschaft und der damit verbundene Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums festzuhalten. Ihren politischen Ausdruck fand diese Tatsache dann nach 1815 in Gestalt des rheinischen Liberalismus, dessen Träger sich aus eben jenen Schichten rekrutierten, die vom französischen System in besonderer Weise begünstigt worden waren. Dabei ist freilich darauf hinzuweisen, daß der Liberalismus im Rheinland seine geistigen Wurzeln nicht erst in der Zeit der französischen Besetzung hatte, sondern teilweise bereits in den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime grundgelegt worden war. Von daher erklärt sich auch, daß der Liberalismus im Rheinland weit eher wirtschaftspolitisch orientiert war als sein Pendant in Süddeutschland.

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4. Die süddeutschen Reformstaaten am Beispiel Bayerns

Einen ganz eigenen Charakter weisen die Reformen in den süddeutschen Rheinbundstaaten Bayern, Württemberg und Baden auf, deren Ergebnisse aber nicht weniger radikal ausfallen als im übrigen Deutschland. Zudem ist festzuhalten, daß in Süddeutschland das Ende der napoleonischen Ära nicht dieselbe Zäsur darstellt wie beispielsweise im Rheinland. Hier waren es nämlich nicht die Franzosen, welche die Veränderungen durchsetzten, sondern Beamte, die aus dem Lande selbst stammten und deren reformerische Konzepte zum Teil bereits während des Ancien Régime entwickelt worden waren.

Aber es kam nach 1803 noch ein weiteres Moment hinzu, das in ganz entscheidendem Maße nach Veränderungen in Staat und Gesellschaft verlangte. Während Preußen als Folge des verlorenen Krieges gegen Napoleon auf seine ostelbischen Kernterritorien zurückgeworfen wurde, die ihrer Struktur nach relativ homogen waren, hatten die süddeutschen Staaten zwischen 1803 und 1806 eine erhebliche Gebietserweiterung erfahren. Man sah sich deshalb dort vor enorme

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Integrationsprobleme gestellt, die zwangsläufig zu einer sozialen und politischen Dynamisierung führten. Das Beispiel des Königreichs Bayern mag dies veranschaulichen.

Das alte Kurfürstentum Bayern hatte nur Ober- und Niederbayern sowie die Oberpfalz umfaßt, Gebiete mit einer geschlossen katholischen Bevölkerung. Nach 1803 wurde das bayerische Staatsterritorium jedoch um die gemischtkonfessionellen Gebiete Frankens und Ostschwabens sowie um die ehemaligen Reichsstädte wie Regensburg, Nürnberg oder Augsburg erweitert. Die neugewonnenen Untertanen mußten möglichst rasch in den bayerischen Staat integriert werden, der seinerseits dafür seine bislang behauptete katholische Exklusivität aufgab und die Angehörigen aller Konfessionen einander gleichstellte. Was aus heutiger Sicht nicht sonderlich bemerkenswert erscheint, kam den Zeitgenossen durchaus revolutionär vor, zumal gleichzeitig auch jahrhundertelang bestehende Bindungen aufgelöst wurden. Aus Menschen, die zuvor Untertanen einer klösterlichen oder adligen Grundherrschaft gewesen waren, wurden nach der Säkularisation der Klöster und der Mediatisierung der adligen Herrschaften auf einmal Staatsuntertanen. Dies betraf etwa ein Drittel der Einwohner Bayerns. War den Menschen zuvor ihre Obrigkeit ganz konkret in Gestalt eines Abtes oder eines Adligen erschienen, so sahen sie sich mit einem Mal einer abstrakten Staatsobrigkeit gegenüber, repräsentiert durch lokale Beamte.

Auch die Lockerung ökonomischer Zwänge und Bindungen wirkte sich zunächst nicht unbedingt positiv aus. Mit der neuen „Freiheit", die sich damit verband, konnten die wenigsten etwas anfangen. Im Gegenteil: Die Freiheit brachte den meisten zunächst ein erhöhtes Maß an Unsicherheit, denn sie wurden damit auch aus einem Schutzverhältnis entlassen. Jahrhundertelang hatte das Prinzip der „gerechten Nahrung", also eines nach ständischen Vorstellungen auskömmlichen Lebens, gegolten. Jetzt wurden Konkurrenz und Profitmaximierung mehr und mehr die neuen ökonomischen Leitbilder, ohne daß man so recht wußte, nach welchen Regeln sich die Marktverhältnisse gestalteten, oder wie man sich ihrer erfolgreich bedienen konnte. Zu allem Überfluß gab es auch in der Regierung kaum Beamte, die zu einer kompetenten Wirtschaftspolitik in der Lage gewesen wären. Dies alles trug dazu bei, daß Bayern in ökonomischer Hinsicht - an-

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ders als im Bereich der politischen Verfassung - ein rückständiges Land blieb.

Angesichts der damals weitverbreiteten Verstörung der Menschen war es wichtig, daß sich der Staat als Garant der neuen Ordnung präsentierte und seinen Bürgern jenen Schutz versprach, den sie zuvor in ihrer ständisch geprägten Lebenswelt besessen hatten. Es waren also nicht zuletzt auch propagandistische Aufgaben, die hier zu bewältigen waren. Der neue Staat mußte seinen Bürgern als gemeinsames Haus erscheinen, mit dem sie sich identifizieren und in dem sie sich einrichten sollten. Der Monarch war dabei so etwas wie der Hausvater, wobei nicht zufällig der Begriff „Landesvater" in jenen Jahren eine besondere Konjunktur erlebte. Er sollte die kühle planerische Rationalität, die hinter dem neuen Staatsaufbau stand, ein wenig mildern und paternalistisch verschleiern. In eben diesem Sinne ist auch die sich damals ausbildende politische Festkultur zu verstehen, wobei das bekannteste Beispiel das seit 1810 bestehende Oktoberfest ist, das 1819 zum „Bayerischen Nationalfest" mutierte, im gleichen Jahr übrigens, in dem die „Cannstatter Wasen" vom württembergischen König gestiftet wurde.

Die bayerische Reformpolitik wurde im Jahre 1808 gekrönt durch den Erlaß einer geschriebenen Verfassung, die das Werk des leitenden königlichen Ministers, des Grafen von Montgelas, war, der auch schon in den Jahren zuvor die Richtlinien der bayerischen Politik im wesentlichen bestimmt hatte. Gegenüber den bislang durchgeführten Reformen brachte die Konstitution vom 1. Mai 1808 - weitgehend eine Adaptation der westfälischen Verfassung von 1807 - nichts Neues, stellte aber die konsequente Fortführung des bislang beschrittenen Wegs dar. Sie faßte noch einmal zusammen, was bisher schon erreicht worden war: die Schaffung eines einheitlichen Staatsrechts, die Garantie der bürgerlichen Grundrechte (Schutz des Eigentums, Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Religionsausübung), die staatsbürgerliche Gleichheit usw. Die neue „Nationalrepräsentation", der von vornherein nur ein sehr begrenztes Mitspracherecht bei der Verwendung von Staatsausgaben zugedacht war, trat allerdings niemals zusammen. Erst in der erneuerten bayerischen Verfassung des Jahres 1818 ist dann die Bildung eines Zweikammerparlaments realisiert worden, das - mit gewissen Modifikationen - in dieser Form bis 1918 überlebt hat.

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Es waren also erste tastende Versuche, mit denen man sich in Süddeutschland an die Staatsform der konstitutionellen Monarchie heranwagte. Auch das Königreich Württemberg (1819) und das Großherzogtum Baden (1818) gaben sich je eigene Verfassungen. Allerdings führte – abgesehen vom Großherzogtum Berg - nur Baden das französische Rechtssystem ein. Damit setzte sich auch hier das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit durch. Wo es zu ersten bescheidenen Formen politischer Partizipation des Bürgertums kam, blieb diese an den Nachweis eines hohen Vermögens gebunden. Immerhin war dies ein Fortschritt gegenüber der Gesellschaft des Ancien Régime, in der die Möglichkeit zu politischer Mitsprache in der Regel an adlige Herkunft gebunden war. Die alte geburtsständische Gesellschaft war somit auch hier in eine Notablengesellschaft umgewandelt worden, in der sich Adel und Großbürgertum die politische Verantwortung teilten. In den wenigen Jahren zwischen 1794 und 1815 wurden die Weichen für die weitere deutsche Geschichte gestellt, wurden jene politischen und sozialen Zielvorstellungen formuliert, deren Umsetzung dann die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beherrschen sollte. Dies gilt freilich in erster Linie für die einzelnen deutschen Staaten, weniger für Deutschland als Ganzes. Es blieb das Kennzeichen der deutschen Entwicklung, daß der Staat nach wie vor der Partikularstaat war. Deutschland als Staatsnation zeichnete sich zwar schon in den Köpfen einzelner Intellektueller in Umrissen ab, doch standen die Chancen für die deutsche Einheit in jenen Jahren denkbar schlecht. Es bedurfte der Durchgangsphase der napoleonischen Epoche und später des Deutschen Bundes, um die deutschen Staaten einander anzunähern und die politischen wie sozialen Verhältnisse überall so zu gestalten, daß die Bildung eines deutschen Gesamtstaats möglich wurde.

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5. Veränderungen im sozialökonomischen und wirtschaftspolitischen Bereich

Die politischen Reformen bedurften tiefgreifender wirtschaftlicher Transformationen, um die Entwicklung unumkehrbar zu machen. Deutschland war um 1800 noch im wesentlichen ein Agrarland mit wenigen gewerblich-protoindustriellen Inseln. Als solche sind vor allem das Rheinland, Schlesien und Sachsen anzusprechen. Hier gab

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es bereits ein leistungsfähiges Exportgewerbe (überwiegend Textil-
industrie), das seine Produkte in ganz Europa, zum Teil auch schon in Übersee, vermarktete. Im übrigen Deutschland bildete das zünftig verfaßte Stadthandwerk den Kern des Gewerbes. Auch hier war es die „Franzosenzeit", in der es gelang, die Grundlagen für eine sozial-ökonomische Neuorientierung zu schaffen. Wenngleich die Anfänge der Industriellen Revolution im engeren Sinn nicht vor den 1830er Jahren zu erkennen sind, waren doch die strukturellen Voraussetzungen dafür in jenen Jahren gelegt worden.

Auch hier gilt, was für den Bereich der Politik bereits festgestellt wurde: Die Impulse kamen nicht ausschließlich aus Frankreich, sondern waren zum Teil bereits vor der Französischen Revolution erkennbar geworden. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß nicht Frankreich, sondern Großbritannien das wirtschaftlich führende Land in Europa war und infolgedessen – vor allem auf technologischem Gebiet - Vorbildcharakter hatte. Daß Wirtschaftsförderung ein hochrangiges Staatsziel war, hatten die führenden Beamten des Ancien Régime mehrheitlich erkannt. Einer durchgreifenden Modernisierung des ökonomischen Sektors standen aber unter den alteuropäischen Bedingungen zahlreiche Widerstände entgegen. In erster Linie ist hier an das Zunftwesen zu denken, dessen wirtschaftliche Vorstellungen sich mit kapitalistischen Marktbedingungen schwer vereinbaren ließen. Außerdem behaupteten die Zünfte vielerorts ein hohes Maß an Autonomie und entzogen sich allen staatlichen Eingriffen. Sie übten faktisch die Gewerbeaufsicht aus, kannten ihre eigene Gerichtsbarkeit und regelten die Zugangschancen zum Handwerk in eigener Verantwortung. Weit mehr als bloß wirtschaftliche Zusammenschlüsse, bildeten die Zünfte in Wahrheit Lebensgemeinschaften, denen nicht zuletzt auch die moralische Kontrolle ihrer Mitglieder sowie die Versorgung ihrer Familien in Notzeiten oblag. Von einem freien Arbeitsmarkt zu sprechen, wie er für das Entstehen einer modernen Industriegesellschaft unverzichtbar ist, verbietet sich unter diesen Umständen von selbst, auch wenn die Zünfte vielfach schon seit längerem einen deutlichen Funktionsverlust erlitten hatten.

Erst die ersatzlose Aufhebung der Zünfte in französischer Zeit, wie sie in den von Frankreich annektierten Gebieten, teilweise auch in den deutschen Reformstaaten vorgenommen wurde, machte den Weg frei zur Durchsetzung kapitalistischer Markt- und Arbeitsverhältnisse.

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Diese Maßnahme wurde keineswegs einhellig, wie man vermuten könnte, von den Vertretern des fortgeschrittenen Gewerbes begrüßt. Zum einen bedeutete die Vertragsfreiheit der Arbeiter auch, daß diese den Arbeitsplatz wechseln oder erhöhte Lohnforderungen stellen konnten. Zum anderen waren die wirtschaftlichen Leitvorstellungen keineswegs am Ideal „grenzenlosen Wachstums" orientiert. Noch bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurde in Unternehmerkreisen über die industrie- und handelspolitischen Zielvorstellungen debattiert, wobei es im Kern um die Frage ging, ob man dem englischen Vorbild der ungehemmten industriellen Entfaltung folgen oder lieber eine „klassenlose Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen" (L. Gall) anstreben sollte. An einer durchgängigen Mechanisierung der Industrie, wie sie in Großbritannien schon weit fortgeschritten war, hatte man in Deutschland zunächst kein Interesse. Zum einen gab es Arbeitskräfte in ausreichendem Maße, zum anderen fehlte den Unternehmern auch die erforderliche Kapitalausstattung, um Maschinen anzuschaffen. Der Übergang zur Fabrikindustrie ist in Deutschland erst später vollzogen worden; es blieb bis zum Beginn der 1830er Jahre bei dezentralen Produktionsformen.

Nach wie vor bestanden zahlreiche die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands behindernde Zollschranken, die auch nach der Gründung des Rheinbundes beibehalten wurden. Zu einer Zollunion der Rheinbundstaaten ist es zu keinem Zeitpunkt gekommen, und sie wurde wohl auch von den leitenden Politikern gar nicht angestrebt. Liberale und freihändlerische Ideen, beispielweise die von Adam Smith, mögen damals in intellektuellen Zirkeln diskutiert worden sein, Auswirkungen auf die staatliche Wirtschaftspolitik hatten sie, außer in Preußen, noch kaum. Nach wie vor war man in den meisten deutschen Staaten von merkantilistischen, staatswirtschaftlichen Vorstellungen gelenkt, die in erster Linie auf Autarkie, nicht aber auf wirtschaftlichen Austausch mit anderen Ländern gerichtet waren. Insofern stießen alle reformerischen Bestrebungen auf ökonomischem Sektor bald an ihre Grenzen.

Ein spezielles Problem, das namentlich wiederum die Exportgewerbe betraf, stellte die prohibitive Zollpolitik des französischen Kaiserreichs dar. Lediglich die linksrheinisch gelegenen deutschen Gewerbe, die seit 1801 offiziell Bestandteil Frankreichs waren, konnten die Vorteile des französischen Zollsystems voll ausschöpfen; ihnen

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standen nicht nur der gewaltige innerfranzösische Markt offen, sondern auch die Absatzgebiete in Italien und Spanien, die sich ebenfalls unter französischer Dominanz befanden. Der Rest Deutschlands sah sich völlig davon isoliert, wozu noch als weiteres exporthemmendes Element die Kontinentalsperre kam. Nicht nur englische Waren unterlagen dem Verbot der Einfuhr auf das europäische Festland, auch deutsche Erzeugnisse, die den englischen glichen - vor allem Textilien und Stahlwaren - fielen unter die Kontinentalsperre und wurden konfisziert, sobald sie in den französischen Einflußbereich gelangten. Die Folge dieser protektionistischen Politik der Franzosen war ein blühender Schleichhandel, der aber seinerseits nicht in der Lage war, die unterbrochenen wirtschaftlichen Beziehungen zu kompensieren, und aufgrund der erheblich zurückgegangenen Produktion eine bis dahin nie gekannte Massenarbeitslosigkeit in den gewerblich geprägten deutschen Regionen.

Auch nachdem 1815 die Beschränkungen sämtlich weggefallen waren, besserte sich die Lage des deutschen Gewerbes keineswegs. Nun überschwemmten nämlich die Engländer den kontinentalen Markt mit ihren Erzeugnissen, deren Preise deutsche Unternehmer kaum unterbieten konnten. Hier, in der weiter fortbestehenden Massenarbeitslosigkeit, liegt eine der wesentlichen Ursachen für das Phänomen des Pauperismus, der bis in die 1830er Jahre hinein das drängendste soziale Problem in Deutschland war.

Deutliche Fortschritte hatte man bereits während des Ancien Régime im Bereich der Landwirtschaft erzielen können. Zwar blieb die Versorgung einer rasch wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nach wie vor ein Problem, aber Hungerkrisen, wie sie seit dem Hochmittelalter zyklisch aufgetreten waren, wurden seltener. Der Rückgang der Agrarkrisen hing im wesentlichen mit den Ertragssteigerungen durch verbesserte Anbau- und Düngemethoden zusammen. Entsprechende Verfahren wurden durch aufgeklärte Sozietäten propagiert und der Landbevölkerung zur Nachahmung empfohlen, wovon eine reiche Literatur zeugt. Es waren nicht so sehr die geringen Erntemengen, die zu regionaler Lebensmittelverknappung und Teuerung führten, sondern die Schwierigkeit, die anderenorts vorhandenen agrarischen Überschüsse zu den Menschen in den unterversorgten Gebieten zu transportieren. Hier hat erst der Bau der Eisenbahn ab 1835 dauerhaft Abhilfe schaffen können. Einen tiefgreifenden strukturellen

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Wandel auf dem Lande brachten sicherlich die Reformen der Agrarverfassung, von denen die Mehrzahl der deutschen Länder erfaßt wurde, wenngleich sich dieser Prozeß unterschiedlich akzentuiert darstellt. Wie schon angedeutet, erlebten viele Bauern ihre rechtliche „Befreiung" persönlich keineswegs als uneingeschränkt positiven Vorgang. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß sich die Agrarreformen über Jahrzehnte hinzogen und in den meisten deutschen Staaten erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen waren. In Mecklenburg sollte es sogar noch bis 1918 dauern, ehe die Reste der feudalen Strukturen beseitigt waren.

Die lange Dauer dieses Prozesses erklärt sich aus der Vielfalt der Fragen, die sich mit den Agrarreformen verbanden. Die ländlichen Rechtsverhältnisse waren von Region zu Region unterschiedlich und in der Regel höchst kompliziert. Nur dort, wo die Bauern bereits während des Ancien Régime als persönlich frei anzusprechen waren - also vor allem in Nordwestdeutschland -, gestaltete sich die Ablösung der noch bestehenden feudalen Lasten durch Geldzahlungen problemlos. Schwieriger war es im Verbreitungsgebiet der sogenannten Gutswirtschaft, wobei in erster Linie an die Gebiete Ostelbiens zu denken ist. Hier wurden zwar die bestehenden Formen persönlicher Unfreiheit (Personallasten) ersatzlos aufgehoben, aber die sogenannten Reallasten (Abgaben und vor allem Arbeitszwangsdienste), d.h. diejenigen, die sich aus der Grundherrschaft ergaben, sollten nur gegen Geldzahlungen abgelöst werden.

In Preußen, das den größten Teil des ostelbischen Gebiets ausmachte, wurde der Anstoß zur Bauernbefreiung durch das sogenannte „Oktoberedikt" des Jahres 1807 gegeben, nachdem bereits die staatsuntertänigen Domänenbauern in den Genuß der persönlichen Freiheit gekommen waren, und dann durch das „Regulierungsedikt" von 1811. Intendiert war hier nicht nur die Ablösung der Fronen und sonstigen Dienste, sondern auch der freie Grundstücksverkehr, der bislang noch zahlreichen Einschränkungen unterlegen hatte. Diese Maßnahmen konnten aber wegen der fehlenden finanziellen Möglichkeiten der Bauern nicht unmittelbar greifen, und so zog sich die Umwandlung der Agrarverfassung hier sehr in die Länge. Die Schulden, die zahlreiche Bauern bei den bisherigen Gutsherren machten, um das von ihnen bewirtschaftete Land zu erwerben, erzeugte neue Abhängigkeiten, nunmehr unter kapitalistischen Vorzeichen.

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Aber auch im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen, den französischen Modellstaaten, wurde die Entfeudalisierung der Agrarverfassung in vielen Regionen verzögert. Hier waren es vor allem die Beamtenschaft, die sich immer noch mehrheitlich aus Adligen rekrutierte, und der napoleonische Neuadel, die den Ablösungsprozeß hintertrieben und der eigentlich angestrebten Besitzmobilität entgegentraten. Nach 1815 konnte in diesen Gebieten (z.B. im Paderborner oder im Münsterland) die gesellschaftliche und ökonomische Vorherrschaft des Adels problemlos restituiert werden.

Die politischen Reformen sind den sozialen und ökonomischen vorausgegangen. Dies war der eigentliche „Geburtsfehler der Moderne" in Deutschland. Es gab um 1800 noch kein selbstbewußtes und ökonomisch erfolgreiches Bürgertum, das sich selbst an die Spitze des Modernisierungsprozesses hätte stellen können, wie dies selbstverständlich in Frankreich und in Großbritannien der Fall war. Die zweifellos umwälzenden Vorgänge, die Deutschland in jenen Jahren durchmachte, waren „von oben" durchgesetzt, und folglich eignete ihnen auch ein im Kern defensiver Charakter. Es war die Beamtenschaft, welche die Entwicklungsrichtung vorgab, allzu stürmische Veränderungen abbremste und versuchte, alles unter politischer Kontrolle zu halten. Mochte der ökonomische Fortschritt sektoral eine starke Dynamik entfalten, so entsprach dem noch kaum ein entsprechendes politischsoziales Bewußtsein des Wirtschaftsbürgertums. Die politischen Vorstellungen des Bürgertums blieben, auch dort, wo sich französischer Einfluß - wie im Rheinland - ganz unmittelbar hatte entfalten können, in erster Linie wirtschaftlichen Kategorien verhaftet. Ansonsten waren die Träger des ökonomischen Fortschritts eigentlich ganz zufrieden, wenn sie der Staat von bestimmten Ordnungsaufgaben entlastete und vor allem für Ruhe unter den „niedern Classen" sorgte. Dafür nahm man nach 1815 auch die Umdeutung der durchgeführten Reformen in konservativrestaurativem Sinne billigend in Kauf. Republikanismus oder gar Demokratie standen bei den Repräsentanten des frühliberalen Bürgertums noch nicht auf der Tagesordnung.

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