FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seiten der Druckausgabe:1-4 = Titelblatt & Inhalt]

[Seite der Druckausg.: 5]


Peter Brandt
Einleitung


Die politisch-sozialen Umgestaltungen in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gehörten zu jenem europäischen Transformationsprozeß, der den Übergang von einer Gesellschaftsformation, der ständisch-feudalen, zu einer neuen, der bürgerlich-kapitalistischen, beinhaltete. Dieser Prozeß verlief weder gleichförmig noch gleichzeitig. Vielmehr wies er, entsprechend den spezifischen Bedingungen in den jeweiligen Ländern, nicht nur im Tempo erhebliche Unterschiede auf.

Wenn im Titel dieses Bandes von der „Moderne" die Rede ist, soll damit weniger auf bestimmte, aus der Entwicklungsanalyse der Dritten Welt entstandene sozialwissenschaftliche und von der Geschichtswissenschaft teilweise übernommene Modernisierungstheorien Bezug genommen werden. Vielmehr wollen wir auf die trotz der Vielgestaltigkeit allgemeine Richtung des beschleunigten sozialen Wandels in der „Sattelzeit" zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts abheben. Erst angesichts der umwälzenden Veränderungen um 1800 konnte sich das Bewußtsein einer gegenüber „Alteuropa" ganz neuen Zeit herausbilden, und aus der Erfahrung des Voranschreitens bzw. Zurückbleibens einzelner Räume oder Sozialgruppen erwuchs ein ständiger Anreiz zum wertenden Vergleich und zur Veränderung. Zentrale Begriffe der politisch-sozialen Wahrnehmung wie „Volk/Nation", „Freiheit" und „Revolution" erlangten eine sozusagen moderne Bedeutung und näherten sich unserem heutigen Verständnis.

Die hier versammelten Beiträge beziehen sich auf die letzten beiden Jahrzehnte des 18. und die ersten beiden des 19. Jahrhunderts, insbesondere auf die ersten zehn bis fünfzehn Jahre nach der Jahrhundertwende in Deutschland. Was „Deutschland" um 1800 bedeutete, war weniger klar, als unser Untertitel das suggeriert. Sofern man damit nicht allein diejenigen Gebiete des deutschsprachigen Mitteleuropa bezeichnen wollte, die weder zu den deutschen wie europäischen Großmächten Österreich und Preußen gehörten, noch nicht-deutschen Staaten angeschlossen waren wie das Elsaß an Frankreich, noch sich frühzeitig verselbständigt hatten wie die Schweiz, konnte „Deutsch-

[Seite der Druckausg.: 6]

land" (oder „Teutschland") sowohl auf das Alte Reich, später den Deutschen Bund, bezogen sein als auch – keineswegs eindeutig – auf den (vermeintlichen) deutschen Sprach- und Kulturraum. Österreich, die Donaumonarchie, gehörte in beiden Fällen mit einem Teil seines Territoriums dazu. (Um die Veränderungen in Österreich zu erfassen, müssen natürlich auch die anderen, nicht-deutschen Teile in den Blick genommen werden.) Erst Bismarcks „kleindeutsche" Reichseinigung von 1867/71 unter preußischer Führung schloß Österreich machtpolitisch und im Bewußtsein der Zeitgenossen aus Deutschland aus, auch wenn bereits für den hier untersuchten Zeitraum eine gewisse gesellschaftliche und politische Sonderentwicklung der Habsburgermonarchie konstatiert werden kann. Jedenfalls waren die Vorstellungen, was unter Deutschland und dem deutschen Volk zu verstehen sei, um 1800 im Fluß, namentlich in der Periode zwischen der Auflösung des Alten Reiches 1806 und der Gründung des Deutschen Bundes 1815.

Page Top

1. Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung

Man hat versucht, den Umbruch in Europa als „Doppelrevolution" zu beschreiben, nämlich als Zusammentreffen der ökonomisch-industriellen und der politisch-konstitutionellen Umwälzung. Die eine ging von Großbritannien aus, wo die Insellage und die stark an Handels- bzw. Exportinteressen orientierte Weltmachtpolitik mit den in ihrer Kombination exzeptionell günstigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen sowie einer Reihe technischer Erfindungen zusammenwirkten und das Einsetzen der Industrialisierung bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bewirkte; ihr Durchbruch erfolgte vierzig bis fünfzig Jahre vor dem selbst in den relativ fortgeschritteneren kontinental-europäischen Staaten wie Belgien, der Schweiz, Frankreich und Deutschland, also außerhalb des hier behandelten Zeitraums. Doch schon von Anfang an beeinflußte die „Industrielle Revolution" Englands als Vorbild für Neuerungen wie als in der gewerblichen Massenproduktion überlegener Handelspartner und Konkurrent das unternehmerische und das wirtschaftspolitische Handeln auf dem Kontinent, namentlich in Deutschland. Dort wurde 1784 in Ratingen bei Düsseldorf die erste mechanische Baumwollspinnerei in Betrieb genommen.

[Seite der Druckausg.: 7]

Deutschland lag um 1800 gegenüber England ökonomisch deutlich zurück, doch hatten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch hierzulande das wirtschaftliche Wachstum und der soziale Wandel deutlich beschleunigt; sie waren infolge der konfessionellen Spaltung, der territorialstaatlichen Zersplitterung, des weitgehenden Ausschlusses vom Welthandel und nicht zuletzt der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lange gebremst gewesen. Im Unterschied zu der relativen Offenheit und Durchlässigkeit in den höheren Schichten der englischen Gesellschaft blieben die ständischen Schranken in Deutschland, nur sehr schwer überwindbar, bestehen. Feudale Agrarstrukturen, das handwerkliche Zunftwesen und eine anachronistische staatliche Verfassung – das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als lockerer lehnsrechtlicher Verband, der kaum Anknüpfungspunkte für die Herausbildung eines Nationalstaats bot – hemmten die Entfaltung der neuen dynamischen Kräfte.

Da mehr als zwei Drittel der Erwerbsbevölkerung ganz oder überwiegend landwirtschaftlich tätig waren und der weitaus größte Teil des gesellschaftlichen Reichtums im Agrarsektor erarbeitet wurde, kam landwirtschaftlichen Innovationen jeder Art eine entscheidende Bedeutung zu. Ohne Umwälzung der Agrarverfassung und der landwirtschaftlichen Methoden war eine gesamtgesellschaftliche Veränderung gar nicht möglich. Das galt für die Rentengrundherrschaft, wo die Verhältnisse für die Bauern meist weniger drückend waren, ebenso wie für die ostelbische Gutsherrschaft. Bei der nach westeuropäischem Vorbild betriebenen, von Wissenschaftlern und Beamten propagierten Intensivierung der Landwirtschaft zeigten sich insbesondere die Domänen- und Gutspächter fortschrittsorientiert, die dabei teilweise durch eine kleine, aber wachsende Zahl bürgerlicher Großgrundbesitzer unterstützt wurden. Allerdings wurde die angesichts der steigenden Agrarpreise günstige Ertragslage nur von einer kleinen Zahl der selbst wirtschaftenden adligen Gutsbesitzer, wie sie namentlich im östlichen Deutschland dominierten, dazu genutzt, zu kapitalistischen Aneignungsformen überzugehen; die meisten waren bestrebt, gerade durch Verstärkung der feudalen Dienste und Abgaben, auch durch Vergrößerung des adligen Eigenlandes, von der Konjunktur zu profitieren. Auch unter den Bauern kam nur eine Minderheit von größeren Besitzern mit besseren Rechten und geringeren Belastungen dazu, einen nennenswerten Gewinn zu erwirtschaften, der wieder

[Seite der Druckausg.: 8]

investiert werden konnte. Drei Viertel der Bauern behielten nach Abzug der „Feudalquote" nicht genügend Einnahmen zurück, um als Produzenten oder Konsumenten einen gewichtigen gesamtwirtschaftlichen Beitrag zu leisten. Darin lag auch der Hauptgrund für ihre Skepsis gegenüber allen Neuerungen.

Die nichtagrarischen Wirtschaftssektoren waren am Ende des 18. Jahrhunderts längst nicht mehr auf die Städte beschränkt, die in der Frühen Neuzeit einen erheblichen Funktionsverlust erlitten hatten. Ihre Einwohnerschaft bestand neben den Inhabern des Bürgerrechts, die in der Regel eine Minderheit bildeten, aus der Masse der „Beisassen" („Schutzverwandten") und aus der wachsenden Gruppe der „Eximierten" bzw. „Gefreiten", zu der auch die staatlichen Beamten und vielfach die Großkaufleute gehörten. Dem Niedergang der meisten alten Reichsstädte standen der Aufstieg einiger Handelszentren wie Hamburg, Frankfurt am Main und Leipzig, vor allem aber Gründung und Wachstum der einzelstaatlichen Residenzen gegenüber. Die Residenzstädte bildeten Zentren kultureller und ökonomischer Aktivität, auch des Bürgertums, die aber ganz auf den Hof ausgerichtet war und daher in der Regel keine feudalismusüberwindende Schubkraft entwickeln konnte. Die Mehrheit der gewerblich Beschäftigten (um 1800 nach Schätzungen knapp ein Viertel der Erwerbsbevölkerung) arbeitete im Handwerk, davon zwei Drittel als selbständige Meister. Zahlenmäßig reichte das ländliche, vor allem im Westen und Süden, schon an das städtische Handwerk heran. In den Städten sahen sich die Zünfte zwar einer wachsenden Konkurrenz durch „Pfuscher" und Freimeister ausgesetzt, behielten aber weiterhin einen entscheidenden Einfluß auf die lokalen Märkte und fungierten somit als ein strukturell konservatives Element.

Neben dem Außenhandel bzw. dem Handel der deutschen Staaten untereinander expandierten im gewerblichen Bereich vor allem die bereits kapitalistischen Betriebsformen der Manufaktur und des Verlags, beide technologisch noch auf handwerklichem Niveau. Der Ausbreitung der im Auftrag eines kaufmännischen „Verlegers" betriebenen, meist ländlichen Heimarbeit, die am Ende des 18. Jahrhunderts stark zunahm, wird heute teilweise die Bedeutung einer „Protoindustrialisierung" zugesprochen. Entscheidend war dabei die Produktion von Massengütern, vor allem Textilien, für den anonymen überregionalen Markt, während die betrieblich zentralisierten und bereits

[Seite der Druckausg.: 9]

arbeitsteilig organisierten Manufakturen, aufgrund merkantilistisch motivierter Konzessionierung gegründet, meist Luxusgüter produzierten. Außerdem entstanden erste Fabriken. In einigen Gewerberegionen wie dem Bergischen Land deutete sich in der Verbindung von günstigen Verkehrsverhältnissen, gewerblicher Tradition, Unternehmertum und qualifizierten Arbeitskräften die Möglichkeit einer eigenständigen Industrialisierung an. Den Übergang zur „Industriellen Revolution" wird man für Deutschland jedoch nicht vor den 1830er oder 1840er Jahren ansetzen können.

Die Jahrzehnte davor lassen sich als Vorbereitungsphase bestimmen, weil die Kapitalisierung der Landwirtschaft, namentlich in Preußen mit dem Einsetzen der Ablösungen in größerem Umfang, an Intensität und Tempo gewann und weil der gewerbliche Sektor – bei nach wie vor höchst bescheidenem, aber zunehmendem Einsatz moderner industrieller Produktionsmethoden – gegenüber dem agrarischen langsam expandierte. Wichtiger noch waren der Aufbau einer adäquaten Infrastruktur und die, von Staat zu Staat mit unterschiedlichem Nachdruck betriebenen, zur Auflösung des grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisses und zur Beseitigung des Zunftzwangs tendierenden ökonomisch-gesellschaftlichen Reformen, die die administrativen Bedingungen für die beschleunigte Industrialisierung schufen, welche dann ihrerseits weitere Reformmaßnahmen nach sich zog. Auch die Bildungseinrichtungen, die Verwaltung und das Rechtswesen, alles im internationalen Vergleich auf hohem Standard, spielten eine positive, allerdings schwer zu messende Rolle. Schon im Aufgeklärten Absolutismus verbessert, machten sie Kernbereiche der Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts aus.

Page Top

2. Die napoleonische Revolution von außen

Der andere, politische Zweig der erwähnten „Doppelrevolution" schlug direkt auf die deutschen Verhältnisse durch. Unter den in Form, Inhalt und sozialer Trägerschaft recht unterschiedlichen Aufständen und Staatsumstürzen des späten 18. Jahrhunderts fand die nordamerikanische Unabhängigkeits- und Verfassungsrevolution (1775-1783/87) besondere Aufmerksamkeit. Sie war ein Novum und wirkte wie ein Detonator für den Zusammenbruch der alten europäischen Staatenwelt, wo das Zusammentreffen von verschiedenen aku-

[Seite der Druckausg.: 10]

ten Krisenerscheinungen mit der Strukturkrise des Ancien Régime in Frankreich die dortige Revolution hervorbrachte. Wird die interne wirtschaftliche, genauer: industrialisierungsfördernde Bedeutung der Französischen Revolution von der Geschichtswissenschaft betont skeptisch beurteilt, so ist die radikale Überwindung der Reste des Feudalismus durch Schaffung einer völlig neuen Rechts- und Verfassungsordnung sowie einer neuen politischen Kultur unbestreitbar und unbestritten – bei allen Kontinuitätselementen, die selbst in diesem Fall zu verzeichnen sind.

Der welthistorische Rang der Französischen Revolution und ihr besonderer Stellenwert für die deutsche Geschichte ergibt sich indessen, darüber hinaus, vor allem aus ihrer militärischen Expansion nach außen, seitdem die gesetzgebende Nationalversammlung auf die restaurativen Bestrebungen namentlich Österreichs und Preußens mit der Kriegserklärung reagiert hatte (20.4.1792). Im Wechselverhältnis von innenpolitischer Radikalisierung und Revolutionskriegen bekämpfte Frankreich, seit dem Herbst 1792 Republik, eine erste breite Koalition europäischer Staaten und konterrevolutionäre Aufstände im Innern. Bis 1815 hatte Frankreich sieben Koalitionskriege zu bestehen, wobei die daneben stattfindenden Interventions- und irregulären Kriege nicht mitgerechnet sind. Der weltweite Kampf mit England dauerte mit einer Unterbrechung durchgehend an. 1793 rettete sich Frankreich durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht („levée en masse"), also durch den Volkskrieg gegen die Söldnerheere der Invasoren, und die diktatorische Zusammenfassung aller Kräfte in den Händen des jakobinisch dominierten Wohlfahrtsausschusses. Gestützt auf das Bündnis mit der klein- und unterbürgerlichen Großstadtbevölkerung, machte dieser den Terror zu seinem wichtigsten Herrschaftsinstrument, das sich immer mehr verselbständigte. Die wachsende Furcht, bei einer der Hinrichtungswellen, die tatsächliche und vermeintliche Gegner trafen, zu Tode zu kommen, verschaffte zusammen mit dem Ende der akuten Bedrohung von außen im Sommer 1794 der Verschwörung der „Thermidorianer" eine Mehrheit im Konvent für den Sturz und die Guillotinierung des radikal-jakobinischen Führungskreises um Robespierre.

Während das ab Mitte der 1790er Jahre an der Macht befindliche großbürgerliche Direktorialregime im Innern der Opposition der Royalisten einerseits sowie der Linksjakobiner und Frühsozialisten

[Seite der Druckausg.: 11]

andererseits nur mühsam unter Einsatz der Armee Herr wurde, begann in dieser Periode die Politik der Ausdehnung Frankreichs – und damit seiner neuen bürgerlichen Ordnung – mit militärischen Mitteln. Die direkte Angliederung des späteren Belgien (1795) und des zum Reich gehörenden linksrheinischen Gebiets (1797/98) wurde ergänzt durch die Bildung von Tochterrepubliken in den Niederlanden (1794), Italien (1796/97) und der Schweiz (1798). Diese Annexions- und Hegemonialpolitik fand ihre Fortsetzung und Steigerung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, wobei Napoleon als Kaiser (ab 1804) gezielt Familienmitglieder und enge Vertraute an die Spitze abhängiger Fürstentümer stellte.

Napoleon Bonaparte hat die Phantasie der Zeitgenossen ungemein beschäftigt und in Europa Veränderungen bewirkt wie kaum eine andere Einzelpersönlichkeit der Neueren Geschichte. Der geniale und politisch ehrgeizige General stand seit dem Staatsstreich vom 9./10. November 1799 als Erster Konsul an der Spitze der Französischen Republik. Er beendete offiziell die Revolution, suchte gezielt die Versöhnung mit dem alten Adel und speziell den adligen Emigranten sowie der Römischen Kirche, bewahrte aber die Grundlagen der neuen Ordnung, auch nach der Aufrichtung des Kaisertums, und führte zwischen 1804 und 1810 die zentralen Rechtskodifikationen der bürgerlichen Gesellschaft ein. Insofern war Napoleon nicht nur der Überwinder, sondern auch der Vollender der Revolution, und blieb somit in gewisser Weise ihr Exponent gegenüber den Vertretern des alten Europa.

Gerade bezogen auf Deutschland wurde aus den Einflüssen seitens Frankreichs erst jetzt die Revolution von außen. Nachdem Kaiser und Reich 1801 offiziell und endgültig das linke Rheinufer abgetreten hatten, sollte eine Reichsdeputation die vertragsmäßige Entschädigung der linksrheinisch Depossedierten festlegen. Aus dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 ergab sich eine territoriale Umwälzung der deutschen Landkarte, deren wichtigste bleibende Elemente die Säkularisierung sämtlicher geistlicher Herrschaften, die Mediatisierung der kleineren und zahlreichen kleinsten Reichsstände und damit die Entstehung arrondierter Mittelstaaten in Süd- und Südwestdeutschland waren. De facto kam das bereits der Zerstörung des Alten Reiches gleich und führte binnen dreieinhalb Jahren auch zu dessen Auflösung.

[Seite der Druckausg.: 12]

Nachdem Napoleon die Armeen Österreichs (1805) und Preußens (1806/07) vernichtend geschlagen und Preußen einen äußerst harten Friedensvertrag aufgezwungen hatte, wurde der Reformdruck auf die deutsche Staatenwelt übermächtig, und in dieser außergewöhnlichen Situation kamen Staatsmänner zum Zuge, die unter anderen Umständen keine Chance gehabt hätten oder zumindest nicht in demselben Ausmaß erfolgreich gewesen wären. In Preußen z.B. wies die neue Führungsgruppe ein Profil auf, das neben und vor den bürgerlichen Beamten zwar durch einen erheblichen Adelsanteil geprägt war, doch handelte es sich dabei meist um Landfremde (wie bei Stein, Hardenberg und Scharnhorst), um Neuadlige (wie Humboldt und Boyen) sowie um bürgerliche, die erst jetzt nobilitiert wurden (wie Gneisenau und Beyme).

Zwischen 1807 und 1812 war das kontinentale Europa, vom Osmanischen Reich abgesehen, zwischen Rußland und Frankreich aufgeteilt, das direkt oder indirekt den größten Teil West-, Süd- und Mitteleuropas kontrollierte. Eine Art bürgerlicher Militärmonarchie preßte die Völker der abhängigen und verbündeten Staaten zum Waffendienst für das Grand Empire und versuchte, die Handels- und Wirtschaftspolitik der europäischen Regierungen den Interessen Frankreichs strikt unterzuordnen. Englands Herrschaft über die Meere und damit seine globale Position blieb trotz aller Siege Napoleons im Landkrieg unangefochten (zweimalige Vernichtung der französischen bzw. französisch-spanischen Flotte bei Abukir 1798 und Trafalgar 1805); der Versuch, mit Rußland einen weiteren potentiellen Gegner auszuschalten und das Russische Reich in den Kontinentalblock einzubeziehen, scheiterte 1812 und leitete das Ende des napoleonischen Herrschaftssystems ein.

Wie die repressiven und destruktiven Aspekte der Hegemonialpolitik Napoleons, die die emanzipatorischen und konstruktiven von Anfang an begleiteten, mehr und mehr in den Vordergrund traten, zeigt die Entstehung und Entwicklung des Rheinbunds. Der Rheinbund wurde im Sommer 1806 von sechzehn Reichsständen auf Veranlassung und unter dem offiziellen Protektorat Napoleons gegründet, wobei die süddeutschen Mittelstaaten den Kern bildeten; später traten dem Rheinbund praktisch alle deutschen Staaten außer Preußen und Österreich bei. Der Hauptinhalt der Rheinbundakte war die – kurze Zeit später vollzogene – Trennung vom Alten Reich und die dem

[Seite der Druckausg.: 13]

„Kaiser der Franzosen" zu leistende politische und militärische Gefolgschaft.

Page Top

3. Bürgerlicher Wandel um 1800

Wie sich Deutschland ohne den Einbruch des revolutionären und napoleonischen Frankreich entwickelt hätte, ist schwer zu sagen. Faktisch löste erst die Revolution von außen die Blockade des notwendigen Entwicklungssprungs durch die staatlichen und sozialen Einrichtungen auf. Es gab, wie wir schon im Hinblick auf die Wirtschaft festgestellt haben, nicht nur fortschrittliche Potentiale, sondern auch realen Fortschritt. Daneben, und teilweise deutlicher spürbar, war die Bewegung außerhalb der ökonomischen Sphäre. Man hat zu recht immer wieder auf die spezifische Bedeutung der überwiegend in Staatsdiensten tätigen Intelligenzschichten, der „gebildeten Stände" im Sprachgebrauch der Zeit, für die Mobilisierung der deutschen Gesellschaft seit Mitte des 18. Jahrhunderts hingewiesen. Dabei ist in erster Linie an die große, pädagogisch orientierte Reformbewegung der Aufklärung zu denken; auch die Protesthaltung gerade von dezidierten Vertretern bürgerlichen Selbstbewußtseins seit dem Sturm und Drang hatte die Aufklärung zur Voraussetzung.

Konstitutiv auch für die deutsche Aufklärung war der Glaube an die befreiende Kraft der menschlichen Vernunft, die Möglichkeit irdischen Glücks und die Identität von Vernunft und Tugend. Der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (I. Kant) bedurfte einerseits der Bereitschaft der Individuen zur eigenständigen Reflexion und andererseits des diskursiven Austauschs der Privatmeinungen in der Öffentlichkeit. Grundsätzlich war der „Bürger" der Aufklärung nicht nur stände-, sondern auch klassenübergreifend definiert, faktisch und bisweilen sogar ausdrücklich schloß er aber die Landbevölkerung, die städtischen Unterschichten und das Kleinbürgertum aus. Der aufgeklärte Bürger sollte sowohl ein „sittlicher", als auch ein „tätiger", auf Leistung im Arbeitsleben wie auf Einsatz für das „gemeine Wohl" orientierter Mensch sein.

Die Lösung des bürgerlichen Individuums aus ständischen und korporativen Denktraditionen erweiterte wesentlich den Spielraum subjektiver Erfahrung und autonomen, subjektiven Handelns. Die religiöse Vergewisserung bedurfte einer Ergänzung durch die „Moral",

[Seite der Druckausg.: 14]

deren Bedeutung für die Bewältigung des Alltags von Popularphilosophen und „Moralischen Wochenschriften" (deren spezifisches Gewicht jedoch seit der Jahrhundertmitte zurückging) breit erörtert wurde. Folgerichtig zielte die Kindererziehung, die am Ende des 18. Jahrhunderts mit einem bisher unbekannten Eifer betrieben wurde, in den Familien der neuen bürgerlichen Schichten zunehmend auf die Internalisierung der vorgegebenen Normen, die Ausbildung eines „Gewissens". Wenn sich das neue Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, gekennzeichnet durch die männlich/weibliche Tätigkeitsdifferenzierung und die Entstehung eines affektiv aufgeladenen und zugleich autoritär-hierarchisch strukturierten familialen Raums, auch erst ganz allmählich durchsetzte, so waren es doch wiederum die Gebildeten, die sich zuerst von der Sozialform des „ganzen Hauses" zu lösen begannen.

Die deutschen Aufklärer setzten ihre Hoffnungen lange auf die Einsicht von Herrschern, die vermeintlich ebenfalls von den Gedanken der neuen Zeit ergriffen waren. Sie sahen in ihnen Verbündete. Die Reformtätigkeit des Aufgeklärten Absolutismus ging indessen mehr noch als auf die Initiative des Landesfürsten auf den energischen Einsatz leitender Beamter zurück. In jedem Falle bedurfte sie einer modernen, effektiv arbeitenden Bürokratie. Um so mehr galt das für den reformerischen Verwaltungsstaat der napoleonischen Periode. Zumindest in den Groß- und Mittelstaaten bildete die Beamtung, während sie in dem Treueverhältnis zum Herrscher ein patrimoniales Element sicherte, Züge eines die Ständegesellschaft transzendierenden „allgemeinen Standes" (G.F.W. Hegel) heraus. Leistungswissen und Bewährung durch Arbeit als Kriterien beruflichen Aufstiegs begünstigten die besser ausgebildeten und um 1800 im Staatsapparat zumindest überwiegenden Bürgerlichen. Mehr als irgendwo sonst näherten sich in der Bürokratie die Vertreter des Bürgertums und die des – häufig erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts nobilitierten und in der Regel nichtresidierenden – Adels so weit einander an, daß sie zumindest funktional eine einzige Führungsschicht bildeten, deren Arbeitsweise und Normengefüge im wesentlichen nichtständisch waren.

Die Rationalisierung der Staatsgeschäfte und die damit verbundene Verbürgerlichung des Verwaltungspersonals bedurfte, um letzten Endes emanzipatorisch zu wirken, der Herausbildung einer Öffent-

[Seite der Druckausg.: 15]

lichkeit, wie es sie vorher nicht gab. Sie war untrennbar verbunden mit der Entstehung einer deutschen Kulturnation (Weiterentwicklung der deutschen Hochsprache in Absetzung gegen die dialektverhaftete Volkskultur wie gegen die französisch-sprachige Adelskultur, Entwicklung von Nationalliteratur und Nationaltheater), deren Politisierung dann in die Zeit um 1800 fiel.

Es war hauptsächlich die umfassende Vereinsbewegung, durch die die überständische, zunehmend gesamtnationale Kommunikation der Aufklärung im Schoße der feudalabsolutistischen Ordnung die neue bürgerliche Gesellschaft ausformte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren es neben den Freimaurerlogen zuerst die „Ökonomischen" und „Patriotischen Gesellschaften", die sich um praktische Verbesserungen bemühten, dann die seit den 1770er Jahren aus dem Boden schießenden „Lesegesellschaften", denen es sowohl um die gemeinsame Anschaffung der auch für Vertreter des gehobenen Bürgertums häufig kaum erschwinglichen Literatur als auch um die Diskussion des Gelesenen ging, vor allem Periodika, Sachbüchern und Nachschlagewerken, weniger der Belletristik. Die Gründung von Lesegesellschaften war nur ein Teilprozeß eines allgemeineren Vorgangs, der u.a. die Kommerzialisierung und quantitative Ausweitung der Buchproduktion, des Buchhandels und des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens sowie die allgemeine Veränderung des Leseverhaltens umfaßte. Im frühen 19. Jahrhundert entstanden dann auf landwirtschaftlichem, gewerblichem, karitativem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet weitere Vereinstypen; das Sozietätswesen dehnte sich sozial bis weit ins Kleinbürgertum aus und begann regionale und deutschlandweite Verbände hervorzubringen.

Page Top

4. Vom kontemplativen Revolutionsenthusiasmus zum Staatsneubau durch die Reformbürokratie

„Patriotismus" lautete der Schlüsselbegriff des politischen Selbstverständnisses der Gebildeten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Damit war nicht nur eine Einstellung, sondern auch eine Haltung tätiger Anhänglichkeit gemeint, was den Wunsch nach – wie auch immer - freiheitlicher Gestaltung und bürgerlicher Wohlfahrt in dem jeweiligen Gemeinwesen beinhaltete. Der Patriotismus konnte sich auf die engere Heimat, den Territorialstaat oder die deutsche Kulturnation

[Seite der Druckausg.: 16]

bzw. das noch bestehende Alte Reich beziehen. Politisch bedeutete er in der Regel Landespatriotismus mit einer gleichzeitig kulturnationalen und ausgeprägt kosmopolitischen Tendenz. Bereits für die Zeit seit 1770 läßt sich die Entstehung politischer Strömungen in Deutschland konstatieren, die am Vorabend der Französischen Revolution bereits im wesentlichen ausgebildet waren.

Dem frühen Liberalismus, dem die meisten politischen Artikulationen der Gebildeten zuzurechnen sind, ging es um die Autonomie des Individuums, die durch die Schaffung einer Sphäre gesicherten und gleichen Rechts gewährleistet werden sollte. Die Forderung nach „Freiheit" richtete sich einerseits mit wachsender Schärfe gegen die feudalen Privilegien des Adels und andererseits auch zunehmend gegen „Fürstenwillkür", insbesondere gegen Eingriffe in die Justiz. Stand das Ziel des Gesetzesstaates noch nicht unbedingt im Widerspruch zu den Bestrebungen des Aufgeklärten Absolutismus, so stellte die auf eine konstitutionelle Reform der Monarchie gerichtete, die Lehre Montesquieus (wie die Rousseaus bei den Radikalen) und die englische Verfassungsentwicklung einbeziehende Debatte, auch wenn das nicht beabsichtigt war, das Einvernehmen der Frühliberalen mit den Fürsten indirekt in Frage. Da in Deutschland die Aufklärung von oben – seitens etlicher Herrscher – und von unten – seitens der die Regierungen unterstützenden, drängenden und, wo nötig, kritisierenden bürgerlichen Öffentlichkeit – zugleich betrieben werde, so meinte man, sei eine irreversible Entwicklung in Gang gekommen. Man war von der relativen geistig-politischen Fortschrittlichkeit Deutschlands in Europa überzeugt und unterstellte eine progressive Entwicklungsautomatik, die durch Unbedachtheiten nur gestört würde. Diese Sicht erklärt auch die bis in die Reihen der Aristokratie hinein anfangs ganz überwiegend positive Aufnahme der Französischen Revolution, die als Folge und Verwirklichung der Aufklärungsphilosophie interpretiert wurde, bei gleichzeitiger Ablehnung eines Umsturzes der Staats- und Gesellschaftsordnung in den deutschen Ländern. Von Kant bis Hegel und von Klopstock bis Schiller feierten die deutschen Geistesgrößen „Galliens Freiheit". Eine gewisse Abwendung von der Französischen Revolution, wenn auch nicht von ihrer liberalen Komponente, war jedoch schon im Herbst 1790 zu registrieren, seit den September-Massakern 1792 und der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793

[Seite der Druckausg.: 17]

erklärte sich die etablierte Intelligenz fast einhellig gegen das revolutionäre Frankreich.

Im Unterschied zu den gemäßigten Liberalen ließen sich die sog. „deutschen Jakobiner" von der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses nicht abschrecken, auch wenn sie diese nicht unbedingt in allen ihren Aspekten begrüßten. Sie bekannten sich bei allen Differenzierungen zur Volkssouveränität, zur egalitären Demokratie und zur Notwendigkeit der revolutionären Aktion. Obwohl auch hier das Bildungsbürgertum vorherrschte, gehörten erstmals Handwerker und Bauern den politischen Klubs („Volksgesellschaften") an, die im westelbischen Deutschland auch quantitativ kein ganz unbedeutender Faktor waren. Die republikanische Welle in der jungen Intelligenz der 1790er Jahre deutet darauf hin, daß die Affinität zu revolutionären Gedanken bei den nichtetablierten, sozial labilen Akademikern stärker ausgeprägt war als im Bildungsbürgertum insgesamt. So fühlten sich die Frühromantiker gerade von dem revolutionären Aktionismus, der die gemäßigten Aufklärer so abstieß, angezogen.

Insgesamt blieben die „deutschen Jakobiner" jedoch als eine Minderheit der Gebildeten von den breiten Volksschichten weitgehend isoliert. Zwar sind für die Jahre vor und während der Französischen Revolution Volksunruhen und –aufstände, teils der städtischen Unterschichten, teils der Agrarbevölkerung, in verschiedenen Regionen Deutschlands, vor allem im Rheinland, in Sachsen und in Schlesien, nachgewiesen. Doch waren sie stets örtlich beschränkt, und es gelang den Revolutionären meist auch nicht, ihnen eine bewußt politische Ausrichtung zu geben.

Ohnehin bedeuteten die Revolutionskriege von Anbeginn nicht nur eine Durchsetzungschance, sondern auch eine schwerwiegende Belastung der revolutionär-demokratischen Strömung. Erstens verschärfte sich der antiaufklärerische Restaurations- und Repressionskurs, der in manchen deutschen Staaten schon vor 1789 eingesetzt hatte. Zweitens begann die gegenrevolutionäre Propaganda, den bürgerlichen Patriotismus der Jakobiner ebenso wie den aufklärerischen Kosmopolitismus als „undeutsch" zu denunzieren, eine Parole, die in dem objektiven Tatbestand Rückhalt fand, daß die deutschen Republikaner auf französische Unterstützung angewiesen waren (obwohl sie von den Militärbehörden faktisch mehr und mehr behindert wurden) und ihre politischen Leitbilder aus Frankreich übernahmen. Drittens litt in den

[Seite der Druckausg.: 18]

von Frankreich besetzten Gebieten gerade die einfache Bevölkerung unter den fremden Truppen, und traditional orientierte Sozialgruppen wie die Zunfthandwerker stießen sich an manchen der liberalisierenden und namentlich der antiklerikalen Maßnahmen.

Doch als die schwachen Ansätze einer von Frankreich abhängigen Revolution von unten abgewürgt waren, begannen mit der territorialen Neuordnung die rheinbündischen und preußischen Reformen von oben, die – in jeweils unterschiedlicher Stärke – alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßten oder erfassen sollten. Im Vordergrund stand in Süd- und Westdeutschland die Integration großer dazugewonnener Gebiete, die Durchsetzung der Staatlichkeit überhaupt; in Preußen ging es zuerst um die Verbesserung der staatlichen Leistungsfähigkeit angesichts der aus der Niederlage und dem Friedensschluß erwachsenden Verpflichtungen. Trotz der offensichtlichen Kontinuitäten zum Aufgeklärten Absolutismus stellten die Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue Qualität dar: Im Unterschied zum 18. Jahrhundert erreichten sie, systematisch aufeinander bezogen, eine solche Intensität, daß sie der neuen, zugleich staatsbürgerlichen und marktkapitalistischen Gesellschaftsordnung weitgehend freie Bahn bereiteten. Sie hatten einen systemverändernden Charakter.

Die Reformen schufen aber nicht nur eine moderne Regierungs- und Verwaltungsorganisation, machten die Bürokratie zur politisch herrschenden Schicht und trugen mit der Trennung der Justiz von der Verwaltung einem auch ökonomischen Bedürfnis nach Kalkulierbarkeit Rechnung. Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und unterschiedlichem Erfolg gestalteten sie in den Bereichen der Steuer- und Zollgesetzgebung, der Judenemanzipation, der kommunalen Selbstverwaltung, des Bildungswesens, der Heeresorganisation, der Agrarwirtschaft und des Gewerbes die überkommene Ordnung.

Abgesehen davon, daß die Reformperiode in den west- und süddeutschen Rheinbundstaaten früher begann, dürfte es kaum möglich sein, den modernisierenden Effekt der rheinbündischen Reformen gegenüber den preußischen durchweg höher zu veranschlagen. Während die ständischen Privilegien des Adels in den Rheinbundstaaten weitergehend abgeschafft wurden, ging Preußen in der liberal-kapitalistischen Entfesselung der Wirtschaft auf dem Lande und in den Städten erheblich weiter. Dabei wirkte sich auch die Rezeption der Lehren Adam Smiths vor allem an der Königsberger Universität aus.

[Seite der Druckausg.: 19]

Die kapitalistische Transformation des preußischen Großgrundbesitzes mittels der 1807/11 eingeleiteten „Bauernbefreiung" legte indessen, gegen die Absicht zumindest eines Teils der Reformer, zugleich das Fundament für die bis ins 20. Jahrhundert reichende Hegemonie der „Junker".

Es ist deutlich geworden, daß das Eingreifen der napoleonischen Truppen die große Reformbewegung Deutschlands von 1800 bis 1820 zwar in Gang setzte; doch die jetzt leitenden Politiker auch in den wichtigsten Rheinbundstaaten operierten mit durchaus eigenständigen Konzepten und aufgrund eigenständiger Methoden, die sich aus den oben geschilderten Bedingungen der Jahre um 1800 ergaben. Dabei standen die Reformen in einem unauflösbaren, geradezu paradoxen Widerspruch: Einerseits machten der Druck, der vom internationalen Staatensystem, konkret: von Frankreich, ausging, aber auch inner-
gesellschaftliche Krisenerscheinungen wie der Anachronismus der Reichsverfassung, das zum Bevölkerungswachstum überproportionale Anwachsen der Massenarmut und die drohende Erschöpfung der Energiereserven durch zunehmende Holzknappheit eine staatliche Reorganisation und eine soziale Umgestaltung erforderlich; um den Bedürfnissen der progressiven, antiständischen Kräfte zu entsprechen, hätten die Reformen sogar noch tiefer einschneiden müssen. Andererseits waren die Zahl und das relative Gewicht dieser Sozialgruppen, des Bildungsbürgertums und der Wirtschaftsbourgeoisie, nicht groß genug, um die entschiedenen Reformer zu stützen und voranzutreiben. Am Ende behielt der Adel erheblichen, ja lange noch dominierenden Einfluß, auch wenn er als feudaler Stand keine Perspektive mehr hatte. Der Staat bzw. die Einzelstaaten berücksichtigten von nun an mehr und mehr die Erfordernisse des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, dominierten aber gerade in der Gestaltung von Neuerungen die Zivilgesellschaft. Der Verwaltungs-, Rechts- und zunehmend auch Verfassungsstaat blieb zugleich Obrigkeitsstaat, und das war ein Erbe der Reformära nach 1800 mehr noch als des Absolutismus, was nicht heißt, es hätte nicht mehrfach Möglichkeiten gegeben, dieses Grundmuster der modernen deutschen Geschichte zu verändern, so etwa in der Revolution von 1848/49.

* * *

[Seite der Druckausg.: 20]

Die in diesem Band versammelten Beiträge behandeln einerseits die Vorgänge in der staatlichen Sphäre und andererseits – in deren Gefolge – die Entstehung politischer Vorstellungen und Aktivitäten in der Gesellschaft, konkret: im neuen Bürgertum. Diese Akzentuierung ist nicht willkürlich, denn für die oben angesprochenen wirtschaftlich-sozialen Basisprozesse stellte die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine so einschneidende Zäsur dar.

Deshalb werden Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in dem breit angelegten Überblick von Jörg Engelbrecht einbezogen, aber hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der neu ordnenden Eingriffe des Staates in die außerstaatlichen Bereiche aufgenommen. Im Einklang mit der neueren Forschung und entgegen der borussischen Tradition der Historiographie in Deutschland würdigt Engelbrecht vor allem das Reformwerk in dem von Frankreich annektierten Rheinland sowie in den dem Empire unterschiedlich eng zugeordneten Rheinbundstaaten; dabei werden auch die restriktiven Bedingungen deutlich, unter denen die Reformbürokratie für ihre Ziele arbeitete, und die Belastungen, die sich daraus – teils zwingend und beabsichtigt, teils akzidentell und unbeabsichtigt – ergaben.

Gegenüber Engelbrechts Aufsatz zeichnet sich Arthur Schlegelmilchs Beitrag durch eine thematisch eingeschränkte Fragestellung aus. Er untersucht, zeitlich bis weit in die Epoche des Aufgeklärten Absolutismus zurückgreifend und nicht nur Preußen, sondern auch Österreich (einschließlich der nicht zum Reich gehörenden Territorien der Habsburger) einbeziehend, die Anfänge des Verfassungsstaats in Deutschland bis etwa 1820, als sich die erste Welle der Konstitutionalisierung (die noch nicht Parlamentarisierung bedeutete) an der Offensive der gegenrevolutionär-gegenreformerischen Kräfte unter Führung Metternichs brach. Die Donaumonarchie hatte unter Joseph II. die radikalste Variante des Aufgeklärten Absolutismus erlebt; der Josephinismus und die Regierung Leopolds in der Toscana dürfen als historisches Experiment für seine progressiven Potentiale gelten. Von deren Einschätzung hängt u.a. ab, wie hoch man den Stellenwert der rheinbündisch-preußischen Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts einschätzt. Es geht Schlegelmilch nicht um traditionelle Verfassungsrechtsgeschichte, sondern um den systematischen Vergleich von Verfassungswirklichkeiten.

[Seite der Druckausg.: 21]

Mein Aufsatz über die antinapoleonischen Befreiungskriege Deutschlands 1813/14 und 1815 greift ein Thema auf, das von der traditionellen Historiographie bis in die letzte Nachkriegszeit hinein ausgiebig behandelt worden ist und auch in der DDR starke Beachtung gefunden hat. Im Zuge der (überfälligen) gesellschaftsgeschichtlichen Erweiterung der westdeutschen Geschichtswissenschaft seit den 1960er und 1970er Jahren wurde die große Bedeutung der Befreiungskriege - sowohl hinsichtlich ihrer objektiven, faktischen Relevanz als auch hinsichtlich ihrer Nutzung als ein zentraler (und umstrittener) nationaler Geschichtsmythos der Folgezeit – allzu stark relativiert. Ich möchte die früheren, letztlich aus den Frontstellungen der Zeitgenossen übernommenen Entgegensetzungen von Revolution und Reform, von Rheinbund und Preußen, von „Franzosenherrschaft" und „deutscher Erhebung" überwinden und die Befreiungskriege in den größeren Zusammenhang des innovatorischen Gehalts der napoleonischen und frühen nachnapoleonischen Periode stellen. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage nach ihrem Anteil an der gemeindeutschen Nationsbildung. Gewiß war die Befreiungsbewegung von 1813 mit allen ihren widersprüchlichen Erscheinungsformen eine Reaktion auf Napoleon und die französische Vorherrschaft, aber in einem dialektischen Sinn: Anders als in den 1790er Jahren antwortete man auf die revolutionäre Etablierung der bürgerlichen Nation und einer neuen Kriegskultur in Frankreich nicht mehr vorwiegend rückwärtsgewandt, sondern mit eigenen, neuartigen Konzepten, die das französische Vorbild vielfach nur schwer verbergen konnten.

Die darauf folgenden beiden Fallstudien sollen die um und nach 1800, vor allem ab 1813 zu verzeichnende Politisierung von immerhin beträchtlichen Teilen der deutschen Bevölkerung darlegen. Dabei zeigt Mahmoud Kandils Aufsatz, wie die imperialen und militärisch-expansiven Wesenszüge des napoleonischen Systems die unmittelbaren Lebensinteressen breiter Volksschichten permanent verletzten und zudem den freien Diskurs der Gebildeten ebensowenig zuließen wie der „Despotismus" alten Typs. Der Widerstand gegen das im Auftrag Napoleons verwaltete Großherzogtum Berg wird von Kandil zu recht überwiegend dem sozialen Protest und nicht der entstehenden Nationalbewegung zugeordnet, auch wenn jener de facto zur Schwächung und – im Herbst 1813 – zur Auflösung der französischen Herrschaft beitrug. Die Studie Kandils bietet ein anschauliches Beispiel dafür,

[Seite der Druckausg.: 22]

wie wir uns, bezogen auf diese Zeit, kollektive Selbsttätigkeit von „Volksmassen" vorzustellen haben.

In dem vor 1806 (und wieder nach 1813) preußischen Teil des Großherzogtums Berg, in der Grafschaft Mark, war mit dem „Hermann" eines der „vaterländischen" Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte angesiedelt, das Peter Brandt untersucht. Ungeachtet der begrenzten Originalität der meisten Artikel veranschaulicht der Inhalt des „Hermann" in all’ seiner Vielgestaltigkeit das politische und soziale Denken einer regionalen bürgerlichen Elite zwischen Befreiung und Restauration. Die im „Hermann" geführten Debatten waren Teil einer politischen Mobilisierung in der Gesellschaft, die doch erheblich weiter reichte, als man lange Zeit angenommen hat. Die These, daß man für das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durchaus von dem ersten Stadium einer National- und Verfassungsbewegung sprechen kann, gewinnt an Plausibilität, wenn Phänomene wie die Expansion des Presse- und Vereinswesens allgemein mit dem südwestdeutschen Gemeindeliberalismus und den Anfängen des organisierten gesellschaftlichen Nationalismus in Beziehung gesetzt werden.

Schließlich ist ein Beitrag aufgenommen worden, der dem für den „Geist von 1813" charakteristischen Phänomen der politischen Sinnstiftung durch Mythenbildung nachgeht. Am Beispiel der zur Lichtgestalt verklärten Königin Luise von Preußen analysiert Patricia Drewes die Prägung der Legende durch ihre Entstehungsbedingungen und ihre Umformung von einem vorwiegend bürgerlich-reformerisch ausgerichteten zu einem vorwiegend royalistisch-konservativen Mythos im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die Ausführungen von Frau Drewes eröffnen uns den Zugang zu den tieferen Schichten der politischen Mentalität des Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die bei anhaltender Loyalität zum Herrscherhaus doch von relativ modernen Leitbildern bestimmt war.

Mein Dank gilt abschließend den anderen Beiträgern, die ihre Aufsätze extra für dieses Heft verfaßt haben, Stephanie Berggötz für die Hilfe bei der redaktionellen und technischen Erstellung der Druckvorlagen sowie Dieter Dowe und der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Aufnahme dieser Sammlung in die Reihe.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2000

TOC Next Page