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Peter Lösche
Abschied von der Klassenpartei - das Ringen der SPD um die Mittelschichten


Abschied von der Klassenpartei - Ringen um die Mittelschichten -Kampf um die Volkspartei: ein Thema, fast so alt wie die SPD selbst, durchgespielt in den verschiedenen Varianten von Theoriebildung, Programmformulierung, Agitation, Wahlwerbung und Zielgruppenarbeit. Dabei hat sich - das sollte das chronologisch geordnete Stak-kato der soeben benutzten Begriffe andeuten - nicht nur das verändert, was jeweils unter "Mittelschichten" begriffen worden ist, sondern auch die Arbeiterbewegung selbst und die Sozialdemokratie haben sich gewandelt. Entgegen ursprünglich vulgärmarxistischen Erwartungen fand eine Polarisierung in Kapital und Arbeit realgesellschaftlich nicht statt, die Mittelschichten sanken nicht in das Proletariat ab, sondern es vollzog sich - zugespitzt formuliert - ein kontinuierlicher Prozeß der Entproletarisierung, der Verbürgerlichung, der Tertiarisierung, der Individualisierung, kurz: gesellschaftliche Ausdifferenzierung fand statt. Doch ich will Geschichte nicht mit Theoriefetzen und Jargon aus Politikwissenschaft und Soziologie zudecken.

Ich vertrete in meinem Beitrag die These, daß der Abschied von der Klassenpartei und die Öffnung zu den Mittelschichten von der Sozialdemokratie bereits in der Weimarer Republik proklamiert worden sind und es entsprechende tastende Versuche gegeben hat, die jedoch allesamt scheiterten. Sie waren erst erfolgreich, ja konnten auch erst dann glücken, als aufgrund fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen jene sozialmoralischen Milieus zu erodieren begannen, die spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die deutsche politische Kultur fragmentiert hatten. Konkret: Die sozialdemokratische Solidargemeinschaft hat sich durch Selbststabilisierung, nämlich durch ein Organisationsnetzwerk, durch bestimmte Einstellungen und Mentalitäten, durch Symbole und Rituale und eine spezifische programmatische Weltsicht, und durch Fremdstabilisierung, nämlich durch die Art der Beziehungen, die das sozialdemokratische Milieu als ganzes zu seiner Umwelt unterhielt, gekennzeichnet durch staatliche Verfolgung, gesellschaftliche Ausgrenzung und Klassenkampf,

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als sozialdemokratisches Milieu im ausgehenden 19. Jahrhundert konstituiert. Die Dialektik von Selbststabilisierung und Fremdstabilisierung gab der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft ihre spezifische Form und ihren besonderen Inhalt. [Fn 1: Zur Dialektik von Selbststabilisierung und Fremdstabilisierung des sozialdemokratischen Milieus vgl. Franz Walter/Tobias Dürr/Klaus Schmidtke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora, Bonn 1993, S. 347ff.]
Erst als diese Dialektik durchbrochen, aufgehoben wurde, konnte der Schritt weg von der Klassenpartei und hin zur Volkspartei getan, konnte erfolgreich um die Mittelschichten geworben werden.

Das Ghetto "Klassenpartei" zu verlassen, war nicht durch bloßen Willensakt, nicht durch noch so große agitatorische und organisatorische Anstrengungen möglich. Vielmehr mußten gesellschaftliche Veränderungen erst den Punkt erreichen, daß die SPD die selbsterbaute und von außen aufgezwungene Wagenburg auch aufgrund interner politischer und sozialer Modernisierung zu verlassen in der Lage war. Konkret auf der politischen Ebene: Es bedurfte des Reformdrucks von außen durch die Wahlniederlagen von 1953 und 1957 und der Existenz einer Reformergruppe in der SPD, damit die Stuttgarter Organisationsreform von 1958 und das Godesberger Programm von 1959 möglich wurden, dies alles sozial basierend auf dem Modernisierungsschub in den 50er Jahren, der sich unter der Decke des Adenauerschen Neo-Biedermeiers vollzogen hatte.

Klassenpartei und Volkspartei: zwei vage Allerweltsbegriffe, sowohl von Historikern und Politikwissenschaftlern wie von deutschen Stammtischstrategen und Journalisten benutzt.

Nach meinem Verständnis bezeichnet Volkspartei eine politische Organisation von Bürgern, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler, Mitglieder und Funktionäre - im Unterschied zur Klassen-Partei - nicht auf eine Schicht oder Klasse primär beschränkt bleibt, sondern mehrere und prinzipiell alle Schichten und gesellschaftliche Gruppen umfaßt, mithin als sozial heterogen - und nicht als homogen - zu gelten hat. Dies bedeutet aber nicht, daß in der Volkspartei sich spiegelbildlich die Sozialstruktur der Wähler wiederholt. Der sozialen Vielfalt entspricht programmatische Breite, Mannigfaltigkeit, Buntheit, auch Widersprüchlichkeit.

Volksparteien sind bemüht, möglichst viele Wählergruppen gezielt und mit den jeweils modernsten Werbemethoden anzusprechen und für sich zu gewinnen. Insbesondere erfolgen Angebote an jene Wählerschichten, die an die eigenen Stammwähler angrenzen und zum

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Wechsel zwischen mehreren Parteien bereit sind. Der Primat volksparteilicher Bemühungen und Anstrengungen liegt darauf, Stimmen in Form von labilen Wählerkoalitionen zu maximieren, und nicht - im Unterschied zu Klassenparteien - darauf, Wähler geistig zu gewinnen und auf Dauer einzubinden.

Schließlich sind Volksparteien nur als Institutionen und Akteure in einem repräsentativ-demokratischen politischen System denkbar, im Fall der Weimarer Republik also eines parlamentarischen Regierungssystems mit starker präsidentieller Komponente, im Fall der Bundesrepublik eines reinen parlamentarischen Regierungssystems vom Westminster-Typus. Dies sagt konkret, daß Volksparteien willens und in der Lage sein müssen, allein oder in Koalition mit anderen Parteien die Regierungsverantwortung zu übernehmen, also Macht auszuüben und die Gewaltenteilung von Regierungsmehrheit (Kabinett und Parlamentsmehrheit) und Opposition zu akzeptieren. Nur Parteien, die - wie Volksparteien und anders als die reine Klassenpartei - keinen absoluten Herrschafts- und Durchsetzungsanspruch haben, können mit anderen Kompromisse schließen, Koalitionen bilden, gemeinsam regieren. [Fn 2: Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 2f.]

Kurt Schumacher, dessen 100. Geburtstages mit diesem Kolloquium gedacht wird, konnte 1945/46 an die volksparteilichen Bemühungen der Weimarer Sozialdemokratie, an ihr Ringen um die Mittelschichten anschließen. Kein Zweifel: In Weimar hat die SPD sich auf den Weg zu einer Volkspartei begeben, sie ist in diesen Bestrebungen aber gescheitert, aus externen wie internen Gründen.

Schon das zuletzt von uns genannte Kriterium für eine Volkspartei, nämlich Bekenntnis zu und Einlassen auf eine parlamentarische Demokratie, war in der Weimarer Sozialdemokratie umstritten. Hatte die Partei nicht ein ambivalentes Verhältnis zur Macht, scheute sie nicht - oder doch große Minoritäten in ihr - davor zurück, Koalitionen zu schließen, in die Regierung zu gehen, den Kanzler zu stellen? Fühlte sie sich nicht in der Rolle der Fundamentalopposition wohler, wie sie sie im Kaiserreich hatte übernehmen müssen? Kompromisse schließen, Erfüllungspolitik, Tolerierungspolitik, Reformpolitik - all dies wurde mit schlechtem Gewissen betrieben.

Parlamentarismus wurde als Schritt und Mittel auf dem Weg in den Sozialismus angesehen, nicht als eigener Wert - mit vor allem der Achtung und Praktizierung der Menschenrechte - akzeptiert: ein

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instrumentelles Parlamentarismusverständnis also. [Fn 3: Ich stimme hier Heinrich August Winkler zu. Vgl. u. a. Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiter bewegung in der Weimarer Republik 1930 - 1933, Berlin und Bonn 1987, S.123f.]
Und gefühlsmäßig waren in Weimar zudem Neigungen für ein plebiszitäres Regierungssystem vorhanden, die einem Repräsentativsystem mit der relativen Autonomie seiner Institutionen und damit der - zeitlich eingeschränkten - politischen Handlungsfreiheit von Parlament und Regierung widersprachen. Moritz Rittinghausens Vorstellungen von der direkten Gesetzgebung durch das Volk und entsprechende Formulierungen des Eisenacher und Erfurter Programms klangen hier nach. [Fn 4: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 5f.]

Die Weimarer Sozialdemokratie bemühte sich ganz systematisch um die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die zu den alten und neuen Mittelschichten gezählt werden, um Angestellte und Beamte, Akademiker und Intellektuelle, Bauern und Landarbeiter, Handwerker und Gewerbetreibende, auch um die Angehörigen des anderen klassischen sozialmoralischen Milieus, um die Katholiken. Damit war die Partei nicht nur sensibel für realgesellschaftliche Veränderungen, sondern sie versuchte, diese in ihre Organisationspraxis und Politik aufzunehmen. Die Ergebnisse der Volks- und Berufszählung von 1925 zeigten nämlich an, daß die Expansion des industriellen Sektors vorbei war, die Zukunft der Dienstleistungsgesellschaft begonnen hatte. Der Anteil der Industriearbeiter an den Erwerbstätigen war seit 1907 leicht gesunken, der der Angestellten rasant um 11 Prozentpunkte gestiegen. Anfang der 30er Jahre verzeichnete die SPD bemerkenswerte Wahlerfolge bei den Mittelschichten, über 40 % ihrer Wähler kamen aus diesem gesellschaftlichen Segment, sie war bei Angestellten und Beamten relativ erfolgreich, weniger erfolgreich hingegen im selbständigen Mittelstand. Zur gleichen Zeit bildete die (Fach-)Arbeiterschaft immer noch den Kern der Parteimitglieder (59,5 %), aber die Verankerung unter Angestellten und Beamten (14 %) war - insbesondere in einigen protestantisch-urbanen Dienstleistungszentren und in sozialdemokratischen Jugendorganisationen - unübersehbar. Nur wenig hinkte die soziale Komposition der Parteimitglieder der Tertiarisierung der Gesellschaft (16,5 % Angestellte und Beamte unter den Erwerbstätigen) hinterher . [Fn 5: A. a. 0., S. 13ff. ]

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"Ringen um die Mittelschichten" - das stand jetzt auf der Tagesordnung parteiinterner Diskussionen und parteiexterner Bemühungen. Man lese nur die facettenreiche, differenzierte und engagierte Debatte im "Freien Wort" nach: "Die Sozialdemokratie ist die wahre Volkspartei im weitesten Sinne; aber unsere Agitationsausrüstung und unsere Werbemittel entstammen z. T. noch der Zeit der Erweckung der ersten Arbeiter. Demgegenüber sollten wir uns vor Augen halten, daß Paul Levi schon 1920 gemahnt hat: "Wenn es uns nicht gelingt, nach rechts hin im Bürgertum Fuß zu fassen, dann werden wir nicht vorwärts kommen." Diese Erkenntnis hat heute noch ihre volle Berechtigung". [Fn 6: Ferdinand Jericho, Die Totengräber des Kleinhandels, in: Das Freie Wort, 3. Jg., H. l vom 4.1.1931, S. 6f.]
"In jedem Bezirk müssen wir dafür sorgen, daß für die Kreise des Handwerks, der Ladenbesitzer, der Beamten und Lehrer mindestens je einer, möglichst aber mehrere Fachreferenten zur Verfügung stehen." [Fn 7: Fritz Schwahn-Delitzsch, Wir brauchen Spezialreferenten, in: Das Freie Wort, 4. Jg., H. 25 vom 19.6.1932, S. 17.]
"Wir müssen aus unserer verhängnisvollen Isolierung heraus und Anschluß an die Mittelschichten gewinnen. Dazu müssen auch unsere Genossen in der Kirche agitieren, agitieren und nochmals agitieren." [Fn 8: Walter Mühlberg, Partei und evangelische Kirche, in: Das Freie Wort, 4. Jg., H. 32 vom 7.8.1932, S. 24]
So modern, wenigstens für die damalige Zeit, diese Zitate klingen mögen, sie weisen doch zugleich auf parteiinterne Ursachen hin, warum damals - und auch unter Schumacher, wie wir noch sehen werden - die Öffnung zu den Mittelschichten nicht gelang: Man wandte die traditionellen Methoden an, nämlich Agitation und parteiorganisatorische Ausdifferenzierung, man ließ sich aber auf die spezifischen Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Adressaten, der Mittelschichten, nicht ein.

Zugespitzt formuliert: Organisationsborniertheit und proletarische Ideologie mußten auf jene Wählergruppen, denen man Angebote machte und die man gewinnen wollte, abstoßend wirken. Danach blieb das Proletariat das Subjekt des historischen Prozesses und der Heilsbringer des Sozialismus, während die ökonomische Konzentration weiter fortschritt und der abstürzende Mittelstand ins Proletariat hinabsank. [Fn 9: Lösche/Walter, a. a. 0„ S. 64.] Dieser volksmarxistische Verbalradikalismus war jedoch nicht künstlich aufgesetzte Ideologie, sondern fand in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit der Weimarer Republik ihren konkreten Bezug, in einer Realität, die durch Klassenjustiz,

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Klassenwissenschaft und Klassenkampf von oben gekennzeichnet war. [Fn 10: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 64f.] in der Wirklichkeit der Klassengesellschaft blieb das Bedürfnis erhalten, sich in proletarischen Kategorien auszudrücken, als Klasse zusammenzuschließen und im Organisationsnetzwerk Halt und Heimat zu finden. Für diese Entwicklung können die großen ökonomischen Krisen der Weimarer Republik, die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise, in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Allgemein formuliert: Die sozialmoralischen Milieus schotteten sich gegeneinander ab; die politisch-kulturelle Zerklüftung der Weimarer Gesellschaft in mit ideologischen Absolutheitsansprüchen ausgestattete Lager hat die Reform und Öffnung der Sozialdemokratie erschwert und schließlich verhindert. Bemühte sich die SPD, Wähler und Mitglieder aus Schichten, Konfessionen und Regionen zu gewinnen, die ihr bislang verschlossen waren, so stand sie vor dem Problem, an die Grenzen anderer Milieus, anderer ihr oftmals feindlich und aggressiv gegenüberstehender kollektiver Meinungen, Ressentiments, Einstellungen und Verhaltensweisen zu stoßen. Aber auch Interessen und Erwartungen von Arbeiterbewegung und Mittelschichten standen konträr zueinander: Der selbständige Mittelstand widersetzte sich aus ureigensten ökonomischen Interessen dem 8-Stunden-Tag, dem Arbeitsschutz, den Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften, generell sozialdemokratischer Sozialpolitik. Handwerker und Bauern waren durch Sozialisierungsforderungen abgeschreckt worden, entsprechende Ängste wirkten fort, als diese von der Sozialdemokratie fallen gelassen worden waren. Angestellte und Beamte wurden in ihren Aufstiegs- und Karriereerwartungen von der SPD frustriert, die - selbst im roten Preußen - zögerte, bewußt und gezielt als Patronageorganisation aufzutreten, die nicht nur die Kommandohöhen, sondern auch die Unteroffizierspositionen der staatlichen Bürokratie besetzte.

Die fatale Dialektik von Selbststabilisierung und Fremdstabilisierung der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft wirkte also in der Weimarer Republik, obwohl die Sozialdemokratie sich in den Revolutionsmonaten 1918/19 sozial durchaus geöffnet hatte und das "Görlitzer Programm" u. a. als Folge der tatsächlich vollzogenen kurzfristigen sozialen Verbreiterung interpretiert werden kann und obwohl gerade die Parteiführer, z. B. so konträre Persönlichkeiten wie Otto Wels und Rudolf Hilferding, auf Seiten der Reformer standen, die die SPD zu den Mittelschichten zu öffnen bemüht waren.

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Jene Weimarer Ansätze und Bemühungen, die Mittelschichten für die SPD zu gewinnen und die Partei zu einer Volkspartei fortzuentwickeln, gingen im Dritten Reich, in den Konzentrationslagern, in den informell im Land weiter bestehenden Organisationsnetzwerken und in der Emigration nicht verloren. Nur ein Beispiel: Es war Erich Ollenhauer, später als Parteisoldat, Apparatschik und Biedermann geschmäht, der im Dezember 1942 in einer programmatischen Rede vor der "Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien" die Konturen einer künftigen sozialdemokratischen Volkspartei absteckte: "Es liegt im Wesen einer demokratischen und freiheitlich orientierten sozialistischen Partei, daß sie ständig danach streben muß, immer neue Schichten der Bevölkerung für ihre Ansichten und Aufgaben zu gewinnen und sie von der Richtigkeit ihrer Vorstellungen und Zielsetzungen zu überzeugen [...] Die neue Partei muß bereit sein, ohne doktrinäre Enge, die Führung dieser Kräfte im Volke zu übernehmen und sich zum Zentrum des Kampfes für eine gerechte und soziale Ordnung für alle Volksschichten zu entwickeln. Sie kann es nur werden, wenn sie gegenüber weltanschaulichen, religiösen und anderen philosophischen Motivierungen einer fortschrittlichen sozialen Einstellung des einzelnen tolerant ist." Weimarer und englische Erfahrungen standen Pate, als Ollenhauer in der gleichen Rede Überlegungen vortrug, wie ein parlamentarisches Regierungssystem zu funktionieren habe. Er plädierte für ein Mehrheitswahlrecht; skizzierte eine Sperrklausel, um der Parteienzersplitterung vorzubeugen, sowie ein Verfahren, das dem konstruktiven Mißtrauensvotum nahe kam; und er forderte für die neue Sozialdemokratie, Bürokratie und politische Führung voneinander zu trennen, nahm also gedanklich die Stuttgarter Organisationsreform von 1958 vorweg, die dann gegen ihn durchgesetzt wurde. [Fn 11: Hierzu Brigitte Seebacher-Brandt, Ollenhauer. Biedermann und Patriot, Berlin 1984, S. 264, 269 und Lösche/Walter, a. a. 0., S. 108.]

Schumachers programmatische Reden nach 1945 und seine Forderungen, die SPD zur Massenpartei zu machen und "den Mittelstand" zu gewinnen, fielen also nicht voraussetzungslos aus dem blauen Himmel Hannovers, sondern sie standen in einer historischen Kontinuität und waren aus dem aktuellen sozialen und politischen Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden. Immer wieder betonte Schumacher, die SPD solle allen aufbauwilligen und nicht belasteten Personen offenstehen: Erweiterung der Klassengrenzen, Gewinnung von Intellektuellen, Mittelständlern und Bauern, Offenheit gegenüber

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den Trägern des Geistes, dem Mittelstand, den Kleinbauern, ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, die sich im Dritten Reich nicht kompromittiert hatten, vor allem aber der Jugend. [Fn 12: Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 221; Protokoll SPD-Parteitag 1950, S. 80; Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945-1965, Berlin und Bonn 1982, S. 46 (Neuauflage 1996).]
Eindringlich auf dem Parteitag im Frühjahr 1946 in Hannover: "Sehen Sie unsere geschichtliche Aufgabe. Das wäre die Gewinnung des deutschen Mittelstandes." [Fn 13: Protokoll SPD-Parteitag 1946, S. 47.]
Die Sozialdemokratie sollte "viele Wohnungen für viele Arten von Menschen kennen", gleich aus welchen Motiven jemand ihr beigetreten sei. "Mag der Geist des kommunistischen Manifestes oder der Geist der Bergpredigt, mögen die Erkenntnisse rationalistischen oder sonstwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben, oder mögen es die Motive der Moral sein: für jeden, für die Motive seiner Überzeugung und deren Verkündigung, ist Platz in unserer Partei. Ihre geistige Einheit wird dadurch nicht erschüttert." [Fn 14: Zitiert nach Fried Wesemann, Kurt Schumacher, Frankfurt am Main 1952, S. 109. Vgl. hierzu auch Klotzbach, a. a. 0., S. 58.]
Die Sozialdemokratie werde nur zur Volkspartei werden, wenn sie sich vom starren Dogmatismus, auch dem Marxismus als Dogma, freihalte. Der Marxismus als Methode hingegen erschien Schumacher unangreifbar. [Fn 15: Hierzu Julius Braunthal, Kurt Schumacher und die Sozialistische Internationale. In: Arno Scholz und Walther G. Oschilewski (Hrsg.), Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. I, Berlin 1954, S. 510ff.]
Dies alles war nicht neu, ist auch vor 1933 zu hören gewesen. Neu war der Nachdruck, mit dem Schumacher die Pluralität und Gleichrangigkeit geistig-weltanschaulicher Begründungen, sich zur Sozialdemokratie zu bekennen, vertrat.1 [Fn 16: Hier stimme ich Klotzbach, a. a. 0., S. 58, zu.]
Aber Schumacher schien selbst zu spüren, daß seine Botschaft, sein "Ringen um die Mittelschichten" (um unser Thema aufzunehmen), in der Partei, konkret: bei den Delegierten des Nürnberger Parteitages, nicht richtig ankam. "[...] ich habe den Eindruck, als ob der Beifall zwar an der richtigen Stelle gekommen ist, aber als ob nicht alle Beifallspender gemerkt haben, welcher Auffassung sie den Beifall gezollt haben. Wir wollen doch die Politik der Partei und den Charakter der Partei, einer Partei mit altem Namen als einer Partei mit neuem Gesicht, aber zum neuen Gesicht Formung und nicht Schminke und Puder." [Fn 17: Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 221.]
Daß Schumachers Nachricht die Partei nicht

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erreichte, lag an ihm selbst, an der Partei und an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit.

Schumacher appellierte zwar an die Mittelschichten, er warb um sie als "Erweiterung der Arbeiter", sprach in diesem Zusammenhang von der "Partei aller Schaffenden", aber er gewann keinen empirisch und politisch gesättigten Begriff von den Mittelschichten, anerkannte nicht deren relative Autonomie, sah nicht deren je spezifische Einstellungen, Mentalitäten, Verhaltensweisen. Der Parteiführer blieb abstrakt, sprach zumeist undifferenziert von "dem Mittelstand", unterschied nicht einmal zwischen altem und neuem Mittelstand, sprach davon, ungelenk und schematisch, daß die SPD an die "Wähler mehrerer Klassenteile appellieren" müsse, "da nach den statistischen Unterlagen selbst die absoluten Stimmen der Arbeiterklasse nicht ausreichen würden, um ihr" eine Mehrheit zu sichern. [Fn 18: Kurt Schumacher, Die Wandlungen um den Klassenkampf, in: ders., Reden und Schriften, Berlin 1962, S. 297.]
Ähnlich schablonenhaft charakterisierte Schumacher die deutsche Nachkriegsgesellschaft 1946 so: "Heute haben wir ein Volk, bei dem etwa 25% noch alles, was sie einst hatten, besitzen, ja noch mehr dadurch, daß sie einen Wertzuwachs erfahren haben. 25% haben fast nichts, aber doch die Möglichkeit, die allerschlimmsten Nöte des Lebens durch persönliche und menschliche Vermittlung auszugleichen, aber 40% haben gar nichts". [Fn 19: Protokoll SPD-Parteitag 1946, S. 38.]
Vom "Mittelstand", von den Mittelschichten, hatte Schumacher eine eher diffuse Vorstellung, die Kaufleute, Gewerbetreibende, Bauern irgendwie einschloß. [Fn 20: Klotzbach, a. a. 0., S. 58.]
Eine spezifische, materielle Politik für die Mittelschichten, die anschloß an deren Mentalitäten und Einstellungen und differenziert gar nach einzelnen Berufssegmenten gewesen wäre, formulierte er nicht. [Fn 21: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 109.]
Vielmehr waren seine Appelle an den Mittelstand vom Willen zur politischen Umgestaltung geleitet, sie waren politisch intentional. [Fn 22: Vgl. hierzu Waldemar Ritter, Kurt Schumacher. Eine Untersuchung seiner politischen Konzeption und seiner Gesellschafts- und Staats auffassung, Hannover 1964, S. 172 und Klotzbach, a. a. 0., S. 59.]

In manchem fiel der sozialdemokratische Parteivorsitzende nach 1945 wieder in den Agitationsstil, in die Symbolik und in die Polarisierung zurück, die für Zwischenschichten eigentlich keinen Raum ließen, wie sie für die Weimarer, ja die Wilhelminische Sozialdemokratie typisch waren. Er bevorzugte das scharf kontrastierende Schwarz-Weiß, suchte nicht nach den vielen Grauschattierungen,

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stellte Gut und Böse, demokratische Arbeiterbewegung und das klerikal-reaktionäre Bürgertum, Klasse und Klasse gegenüber. [Fn 23: Kurt Schumacher, Demokratie und Sozialismus zwischen Osten und Westen, in: ders., Reden und Schriften, a. a. 0., S. 66; Wesemann, a. a. 0., S. 229; Lösche/Walter, a. a. 0., S. 109.]
Er hielt es nicht für richtig, zur Gewinnung der Mittelschichten traditionelle sozialistische Begriffe, die nach wie vor gültig wären, so vor allem den Begriff "Klassenkampf", über Bord zu werfen. [Fn 24: Willy Albrecht, Kurt Schumacher. Ein Leben für den demokratischen Sozialismus, Bonn 1985, S. 41.]
Entsprechend war Schumachers Rhetorik geladen mit antibürgerlichen Affekten. Er hielt an der besonderen historischen Mission der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung fest, ohne diese allerdings ge-schichtsteleologisch, vielmehr damit zu begründen, daß das liberale Bürgertum in den 20er und frühen 30er Jahren versagt habe.

Dogmatische Züge schimmerten bei Schumacher durch, wenn er glaubte, daß die Mittelschichten vom "Großbesitz" über die Sozialdemokratie getäuscht worden seien und es den "Großkapitalisten" deswegen vor 1933 gelungen sei, den Mittelstand politisch auf ihre Seite zu ziehen. [Fn 25: Kurt Schumacher, Konsequenzen deutscher Politik, in: ders., Reden und Schriften, a. a. 0., S. 39; Arno Scholz, Leben und Leistung, in: Arno Scholz und Walter G. Oschilewski (Hrsg.), Turmwächter der Demokratie, Bd. I, a. a. 0., S. 107.]
Er versicherte den Handwerkern, kleinen Händlern, Bauern, daß sie "nicht unter der Bedrohung der Enteignung" ständen, versuchte ihnen Ängste vor der Sozialisierung zu nehmen. "Es ist nicht die Tatsache des Eigentums schlechthin, welche die Klassen trennt, sondern sein Umfang, seine Intensität und die Methoden seiner Anwendung. Es ist die kapitalistische Ausbeutung, welche die Klassengrenzen zieht. Überall, wo der Eigentümer aufgrund seiner eigenen Arbeitskraft, der Arbeitskraft seiner Familie oder weniger Hilfskräfte seinen handwerklichen oder bäuerlichen Betrieb bewirtschaftet, ist das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung nicht gegeben. " [Fn 26: Kurt Schumacher, Konsequenzen deutscher Politik, in: ders., Reden und Schriften, a. a. 0„ S. 39.]
Den kleinen Eigentümern müsse also klar gemacht werden, daß sie nicht zur Klasse der "Besitzverteidiger", sondern zu der der "Besitzlosen" gehörten [Fn 27: Albrecht, a. a. 0., S. 41.] , also sozialistische Aufklärung statt großkapitalistischer "Täuschungspropaganda". Die eigentliche politische (und nicht nur sozialwissenschaftliche) Frage, warum "der Mittelstand" sich täuschen ließ, warum er die "Täuschungspropaganda" goutierte und die

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sozialistische Aufklärung nicht annahm, stellte Schumacher jedoch nicht.

Schumachers schematisches Geschichts- und Gesellschaftsverständnis kam auch darin zum Ausdruck, daß er "starr an der These der Unausweichlichkeit und politischen Notwendigkeit des Zerfalls der Union", der CDU, festhielt. Er sah Deutschlands Zukunft gefährdet, wenn diese Partei "nicht in den rechten Besitzbürgerflügel und den in christlich-sozialem Verantwortungsbewußtsein handelnden linken Flügel auseinanderbreche. " [Fn 28: Klotzbach, a.a.O., S. 112.] Der sozialdemokratische Parteivorsitzende unterschätzte die Selbsterneuerungskräfte der Mittelschichten, sah nicht deren spezifische ökonomische, soziale, politisch-kulturelle und auch politische Rolle, die es ermöglichte, in der christdemokratischen Union als Bindeglied zwischen auseinanderstrebenden Interessen und Flügeln zu fungieren.

Schumachers besonderer und durchaus auch originärer Beitrag zur sozialdemokratischen Politik gegenüber den Mittelschichten war seine apodiktische nationale Orientierung, mit der er wohl in der Tat verschiedene Gruppen im Bürgertum, auch Jüngere, anzusprechen vermochte.

Die aggressive Klassenkampfrhetorik des Parteivorsitzenden, seine starre deutschland- und europapolitische Haltung, die bürokratisch anmutenden Planungs- und Sozialisierungsforderungen seiner Partei verfehlten hingegen die Stimmungslage außerhalb der sozialdemokratischen Traditionsschichten, gerade auch der Mittelschichten. Was eine Bekannte an Schumacher schrieb, nachdem sie zwei seiner öffentlichen Reden gehört hatte, in denen er die Beamtenfrage angesprochen hatte, galt auch für andere Angehörige der Mittelschichten:

"Wir wollen und müssen doch die Beamtenschaft für uns gewinnen. Ihre Äußerungen haben sie nur empört und sie in ihrem empfindlichen Selbstgefühl gekränkt. Viele, die vor Ihrer Rede schwankten, ob sie SPD wählen sollten, werden es nun m. E. nicht tun, weil sie sich als Stand nicht genug ästimiert fühlen." [Fn 29: Curt Garner, Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit? Die Ausein andersetzungen um die Zukunft des deutschen Berufsbeamtentums nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Hans-Erich Volksmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München und Zürich 1995, S. 625.]

Die Diskussionen auf den Nachkriegsparteitagen und in der Nachkriegspartei verliefen ganz ähnlich, Parteivorsitzender und Funktionäre stimmten in ihrem Verbalradikalismus überein. Proklamationen

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erschienen polarisierend, waren letztendlich steril, von Geschichtsteleologie und kaum begründeten Zukunftserwartungen bestimmt. Zwar wurde die Öffnung zu den Mittelschichten fast schon rituell gefordert, aber man konnte sich von den überkommenen Dogmen nicht lösen. Zielgerichtetes Werben um die Mittelschichten fand nicht statt, es mangelte an Verständnis für die spezifische soziale, ökonomische, mentale und politische Situation der verschiedenen Mittelstandsgruppen.

Zwar polemisierten Schumacher und andere Parteiführer vehement gegen den Wiederaufbau der alten facharbeiterlich-milieuverengten Sozialdemokratie, eben Neubau statt Wiederaufbau. Und tatsächlich schien sich in den ersten Nachkriegsjahren durchaus eine Öffnung der SPD zu einer linken Volkspartei anzubahnen: Die Partei zog Flüchtlinge, einige Jüngere, auch Angehörige des öffentlichen Dienstes dort an, wo sie kommunal an der Macht war. Sieht man jedoch genauer hin, regional und lokal sowie im zeitlichen Ablauf differenzierend, dann ergibt sich zunächst für die unmittelbare Nachkriegszeit ein widersprüchliches, dann aber ein recht eindeutiges Bild: Kontinuität und Tradition waren angesagt. Mehr als zwei Drittel der SPD-Mitglieder 1945/46 waren bereits in der Weimarer Republik herangewachsen und in der Solidargemeinschaft vor 1933 sozialisiert worden. Wieder mangelte es an Jüngeren, an Angehörigen der Mittelschichten. Soziale Zusammensetzung, Einstellungen und Verhaltensweisen sozialdemokratischer Mitglieder, Funktionäre und Mandatsträger trugen Züge dessen, was man ironisierend als Traditionskompanie bezeichnet hat. Auch organisatorisch wurde fast bruchlos an Weimar angeschlossen, auch wenn das Organisationsnetzwerk - durchaus in Anpassung an gesellschaftliche und politische Veränderungen und in der Hoffnung, bestimmte gesellschaftliche Segmente wie den Sport dominieren zu können - bekanntlich nicht wieder vollständig restauriert wurde. Kurz: In den 50er Jahren war die SPD durchaus Milieupartei, die ihre Sinnstiftung, Sprachformeln, Manifestationen und Rituale aus der Vergangenheit bezog, wenn auch ohne die stabilen Organisationsressourcen im Vereinsumfeld wie einst und offenkundig schon durchwirkt von neuen, modernen Elementen. [Fn 30: Franz Walter, Milieus und Parteien in der deutschen Gesellschaft. Zwischen Persistenz und Erosion, in: GWU, 46. Jg. 1995, S. 489.]

Wie stark die SPD in jenen Jahren noch an ihre eigene Tradition gekettet war, zeigten gerade die Appelle an die Mittelschichten. So betonte Ollenhauer 1948, "unsere Aufgabe" sei es, "über den Stamm

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unserer Wähler und Anhänger hinaus in den Kern jener Wählerschichten" vorzudringen, "die bisher, traditionell gebunden, nicht sozialdemokratisch, sondern bürgerlich gewählt haben, obwohl sie [und an dieser Stelle schlägt der alte Geschichts- und Gesellschaftsdogmatismus durch, P. L.] nach ihren sozialen und geistigen Interessen in die Reihen einer demokratischen und sozialistischen Partei gehören." [Fn 31: Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 83.]
Zugespitzt interpretiert: Es wurde davon ausgegangen, daß aufgrund ihrer objektiven Interessen die Mittelschichten zur Sozialdemokratie gehörten, bei diesen also Aufklärung stattfinden müsse, nicht die SPD sich zu erweitern, zu öffnen habe. Und Agartz, Nölting und Kriedemann hatten auch das gute alte sozialdemokratische Instrument an der Hand, mit dessen Hilfe Bauern, Handwerker und Geschäftsleute "sozialdemokratisiert" werden sollten, nämlich Produktions-, Absatz- und Verbrauchergenossenschaften. [Fn 32: Protokoll SPD-Parteitag 1946, S. 69f. (Agartz); Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 160f. (Nölting); Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 186, 202 (Kriedemann).]
Ob die genannten Gruppen sich selbst genossenschaftlich organisieren und wirtschaften wollten, danach wurde nicht gefragt.

Ohne in Einzelheiten zu gehen, formuliere ich an dieser Stelle vereinfachend und zugespitzt: Nach 1945/49 und auch in den 50er Jahren waren die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen noch nicht von der Art, daß die SPD den Schritt hin zur Massenpartei hätte machen, die Mittelschichten hätte für sich gewinnen können. Vielmehr waren trotz mancher Veränderungen, die es gegeben hatte und die in den Trümmerlandschaften 1945/46 ins Auge fielen, die sozialmoralischen Milieus im wesentlichen erhalten geblieben, war die politische Kultur zerklüftet und fragmentiert wie in Weimar, fanden auch jetzt wieder Weltanschauungsschlachten statt, hatten sich die alten Wagenburgen formiert. Jürgen Falter hat bekanntlich gezeigt, daß die erste Bundestagswahl 1949 die letzte Weimarer Wahl gewesen ist. Das trifft auch die SPD und ihren Wahlkampf: Er wurde mit klassenkämpferischer Schärfe geführt, nahm im Juli/August 1949 geradezu Kulturkampfcharakter an. [Fn 33: Klotzbach, a. a. 0., S. 175.]
Als die Wahl verloren war, wurde den großen Massen des Volkes vorgeworfen, "gegen ihre ureigensten wirtschaftlichen und sozialen Interessen" gestimmt zu haben. Schuldig waren in den Augen der Parteiführung die politisch unaufgeklärten, gesellschaftspolitisch nicht bewußten Wähler. Die eigenen politischen Konzeptionen, die Diktion im Wahlkampf, wurden nicht

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in Frage gestellt. [Fn 34: Klotzbach, a. a. 0., S. 177.]
So waren die Mittelschichten nicht zu gewinnen. Auch bei den Bundestagswahlen 1953 und 1957 konnte die SPD aus ihren traditionellen sozialen Schranken nicht ausbrechen, blieb eingesperrt im Ghetto ihrer protestantisch-städtisch-facharbeiterlichen Stammwähler. Kurz: Die Dialektik von Selbststabilisierung und Fremdstabilisierung der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft wirkte auch jetzt noch, wenn auch ihre Überwindung sich bereits abzeichnete.

Anders als in den Westzonen und in der Bundesrepublik ist die Entwicklung der Berliner SPD abgelaufen, hier zeichnete sich der Weg zur Volkspartei schon in den ersten Nachkriegsjahren ab, den die Bundespartei erst über ein Jahrzehnt später beschritt bzw. beschreiten konnte. Am Beispiel Berlin lassen sich die Kriterien herausarbeiten, wie die Mittelschichten zu gewinnen waren, vereinfacht formuliert: das Rezept, im sozialwissenschaftlichen Jargon: das Paradigma, für Wahlerfolge entwickeln.

Die Berliner SPD ist zunächst auch von den Weimarer Genossen wiedergegründet worden. In einer zweiten Phase strömten dann aber seit Ende 1945 Menschen in die Partei, die früher nicht sozialdemokratisch oder freigewerkschaftlich organisiert gewesen waren und deren Motiv offenkundig war, nämlich in den von der SPD mitbeherrschten Bezirksverwaltungen und in der Stadtverwaltung Anstellung zu finden und Karriere zu machen. Hierin dürfte Berlin sich noch nicht grundsätzlich von anderen Kommunen unterschieden haben, in denen die Sozialdemokratie Patronage zu vergeben hatte. Entscheidend für den Gewinn der Mittelschichten war, daß die Berliner SPD das Thema, das alle politischen Konflikte beherrschte, ja überlagerte, für sich zu nutzen verstand. In dem sich zuspitzenden Kalten Krieg wurde sie mit der Urabstimmung 1946 und in der Berliner Blockade zum Symbol des Freiheitskampfes gegen die Sowjets, zur "Berliner Freiheitspartei" schlechthin. Und es gab populäre Repräsentanten dieser Politik: Louise Schroeder, Franz Neumann, Ernst Reuter, später Willy Brandt. In den wenigen Jahren von 1946 bis 1950 öffnete sich die Berliner SPD volksparteilich, ihre Sozialstruktur veränderte sich, bezogen auf Funktionäre, Mitglieder und Wähler: Jüngere stießen dazu; der Anteil der Arbeiter sank, der der Angestellten, derjenigen mit einem qualifizierten Schulabschluß, der Akademiker und der öffentlich Bediensteten stieg. Die soziale Öffnung der Berliner SPD ist durch drei Faktoren wesentlich begünstigt worden:

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  1. Sie war eine Partei des öffentlichen Dienstes, hatte Patronage anzubieten.
  2. Sie war politisch attraktiv, verfügte - wie es heute in der Wahlforschung heißt - über "Issue- Kompetenz". [Fn 35: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 184f.]
  3. Issue-Kompetenz und die Berliner Partei selbst wurden durch populäre Persönlichkeiten vertreten, waren also personalisiert.

Die Trias von Patronage-Issue-Kompetenz-Personalisierung wurde dann für die Bundes-SPD entscheidend in ihrem erfolgreichen Ringen um die Mittelschichten, bei ihrer Öffnung zur Volkspartei in den 60er und 70er Jahren, fokussiert auf die Bundestagswahl 1969. 1969 buchstabierte diese Trias sich konkret als: führende Regierungspartei - Wirtschaftskompetenz und Ostpolitik - Schiller und Brandt. Zunächst hatten sich jedoch bestimmte gesellschaftliche und politische Voraussetzungen einzustellen, die den Abschied von der Klassenpartei ermöglichten.

Ich spitze jetzt wieder zu und verkürze, führe nur meine These zu ihrem Schlußpunkt. In den 50er Jahren begann die bundesdeutsche Gesellschaft sich zu enttraditionalisieren, die Reallöhne stiegen eindrucksvoll und eröffneten auch den Arbeitern, erst recht den Mittelschichten, bis dahin ungeahnte Konsummöglichkeiten. In den 60er Jahren veränderten Tertiarisierung und Bildungsrevolution den inneren Aufbau der Arbeitnehmerschaft und schließlich - bei lokal und regional fast kulturrevolutionären Konflikten - die soziale Zusammensetzung sozialdemokratischer Ortsvereine, Unterbezirke und Bezirke. Der Konsum kommerzieller Freizeitangebote wurde Allgemeingut, Massenkulturen lösten die Milieukulturen ab. Urbanität drang in Dörfer, Klein- und Mittelstädte vor. Fernsehen, die Wochenillustrierte, die Regionalzeitung ersetzten die Parteiblätter. Dabei konnte Modernisierung in Bonn sich unbelasteter vollziehen als in Weimar: Die Beamten- und Richterschaft wurde nicht zuletzt aufgrund von Parteipatronage demokratisiert, unbelastet von autoritären Dünkeln vorindustrieller Eliten. Der Nationalismus war diskreditiert, der Protestantismus hatte sich politisch geläutert. Vor allem aber ermöglichte ökonomisches Wachstum Handlungs- und Kompromißmöglichkeiten bei Konflikten zwischen Kapital und Arbeit. [Fn 36: Franz Walter, Milieus und Parteien in der deutschen Gesellschaft, in: GWU, a. a. 0„ S. 490f.]
Kurzum: Die fatale Dialektik von Selbststabilisierung und Fremdstabilisierung der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft wurde mit

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der Modernisierung der 50er und 60er Jahre aufgehoben, der Abschied von der Klassenpartei genommen.

Will man innerparteilich für die SPD den Startpunkt auf dem Weg aus dem Milieu und in die Moderne markieren, dann war dies wohl der Dortmunder Parteitag mit dem dort beschlossenen Aktionsprogramm und Reden von Karl Schiller, Helmut Schmidt und Georg Kurlbaum, in denen plötzlich Stichworte wie "Bekenntnis zum Wettbewerb", "Währungsstabilität", "stabiles Preisniveau" und "europäisch orientierte Außenwirtschaftspolitik" vorkamen und mit denen 15 Jahre später die CDU in Sachen Wirtschaftskompetenz übertroffen wurde. [Fn 37: Protokoll SPD-Parteitag 1952, S. 140ff., 146f, 150ff.]

Der eigentliche Wendepunkt kam dann nicht mit Godesberg, sondern mit der Stuttgarter Organisationsreform 1958, die man als die "Parlamentarisierung" der deutschen Sozialdemokratie bezeichnen könnte, nämlich die Anpassung der Partei an die Strukturen und die Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems, die konkret den Primat der Fraktion und ggf. der Regierung gegenüber der Partei bedeutete. Aus der Weimarer Ambivalenz gegenüber dem parlamentarischen Regierungssystem war jetzt nicht nur ein klares Bekenntnis zu diesem und seinen Werten, den Menschenrechten, geworden, sondern dieses Bekenntnis wurde auch praktiziert. [Fn 38: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 186ff.]
Die Stuttgarter Organisationsreform jedenfalls stellte die Weichen für jene Entwicklung, die schließlich in organisatorische Vielfalt, programmatische Buntheit und auch Widersprüchlichkeit und in soziale Heterogenität mündete, die für die Sozialdemokratie als Volkspartei typisch sind. [Fn 39: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 189.]

Die Mittelschichten wurden jetzt gewonnen. Bei den Bundestagswahlen 1969 erzielte die SPD erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik unter Angestellten und Beamten einen höheren Stimmenanteil als die CDU; dies waren u. a. die Schiller-Wähler. Markant waren Gewinne in mehrheitlich katholischen Dienstleistungszentren wie Köln; beachtlich waren die Zugewinne von der Union unter den 21- bis 29jährigen. Selbst bei den Wählern mit höherer Schulbildung, bis Mitte der 60er Jahre ein sicheres Reservoir für die Union, zog die SPD 1969 und 1972 mit ihrer Konkurrentin gleich. [Fn 40: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 92f.]

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In den 70er Jahren vollzog sich dann bei sozialdemokratischen Mitgliedern, Funktionären und Mandatsträgern das, was man überspitzt mit drei, auch in Weimar je unterschiedlich polemisch benutzten Begriffen zusammenfassen kann:

  • "Verbürgerlichung" in dem Sinn, daß sich die SPD zu einer Partei der neuen Mittelschichten, der Angestellten, Lehrer, Sozialarbeiter, Techniker und damit auch zu einer Partei des öffentlichen Dienstes wandelte.
  • "Akademisierung" dadurch, daß parallel zur Bildungsrevolution seit Mitte der 60er Jahre und dann vor allem politisiert durch die außerparlamentarische Opposition, Schüler, Studenten und jüngere Professionelle - darunter auch Natur- und Technikwissenschaftler - in die SPD eintraten.
  • "Verjüngung" eben deswegen, weil Studenten und junge Berufstätige zur SPD stießen. [Fn 41: Lösche/Walter, a. a. 0., S. 152f.]

Wir wissen alle: Seit den 70er Jahren hat die Sozialdemokratie die Wirtschaftskompetenz und Teile der Mittelschichten wieder verloren. Ein Segment der Mittelschicht - die 68er - dominiert die Partei, stellt die mittlere Parteielite. Die SPD hat sich auf deren Lebensstil und Jargon verengt, wirkt heute deswegen so konservativ, vorgestrig. Dennoch ist die SPD die sozial und politisch-kulturell vielfältigste, bunteste Partei. Darin liegen Chance und Risiko. Das alte sozialdemokratische Milieu ist weitgehend erodiert, klingt bei dem Versuch, Stammwähler zu mobilisieren, noch nach. Aktuell ist nach wie vor das Ringen um die Mittelschichten, hier werden Wahlen entschieden. Und da hat die alte Trias, das Paradigma vom Wahlerfolg, seine Bedeutung: Patronage, Bedienen der spezifischen Interessen der traditionellen Wählerklientel - Issue-Kompetenz in der Wirtschaftspolitik gewinnen - Personalisierung.

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Zur Diskussion des Referats von Peter Lösche

Die Diskussion drehte sich um methodisch-begriffliche Probleme, um die Entwicklung der SPD von einer Klassenpartei zur Volkspartei sowie um das Eindringen der SPD nach 1945 in die Mittelschichten.

Kritisiert wurde eine allzu schematische Handhabung der Lager -Milieu-Theorie in dem Referat, da die Sozialdemokratie nicht nur Reflex eines Lagers sei (Bernd Faulenbach), wohingegen der Referent darauf verwies, daß seine Ausführungen in ein breiter angelegtes Forschungsprojekt eingebettet seien.

Hervorgehoben wurde, daß Schumacher die Begriffe Mittelstand und Mittelschichten nicht ausdifferenziert habe. Daß er sich aber auf diese Diskussion eingelassen habe, sei eine Lehre, die er aus der Weimarer Republik gezogen habe (Helga Grebing).

Moniert wurde die zu große Breite der Begriffe Mittelstand und Mittelschichten, die außer den kleinen und mittleren Unternehmern auch Akademiker, Bauern, Handwerker etc. mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Lagen umfaßten, auf deren spezifische Bedürfnisse nur sehr schwer mit spezifischen Politiken zu reagieren sei, sondern eher mit übergreifenden Angeboten. Vor allem seien diese Begriffe nicht zu verwechseln mit der oft apostrophierten politischen Mitte - einer zum Teil mit wirtschaftlichen und soziologischen Orientierungen verbundenen Denkkategorie -, ohne die in der parlamentarischen Demokratie keine Mehrheit möglich ist (Heinz Westphal).

Die These Lösches, daß sich die SPD bereits in Weimar auf den Weg von der Klassenpartei zur Volkspartei begeben habe, wurde lebhaft diskutiert. Während sie einerseits - bei Zustimmung des Referenten - mit Hinweis auf das Heidelberger Programm als Knick in dieser Entwicklung etwas relativiert wurde (Heinrich August Winkler), wurde sie auf der anderen Seite als unzutreffend zurückgewiesen (Helga Grebing, Susanne Miller).

Kritisch wurde mit Blick auf das Verhalten der Arbeiter in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit hervorgehoben, eine politische Kultur müsse bereits durchdemokratisiert sein, um bei dem Königsweg von der Klassen- zur Volkspartei keine Gefährdungen wie 1933 aufkommen zu lassen, als sich die sozialmoralischen Milieus als zu schwach oder unfähig erwiesen, den Durchbruch der NSDAP zu verhindern (Klaus Schönhoven).

Der These Lösches einer Kontinuität der SPD von Weimar nach Bonn wurde von einigen nur partiell beigepflichtet, im Gegenteil

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mehrfach ausdrücklich widersprochen. Insgesamt wurden doch mehr Elemente eines "Neubaus" herausgestellt, wobei wiederholt auf die Notwendigkeit regionaler Differenzierung abgehoben wurde. Erwähnt wurden als Neuansätze nach 1945 Schumachers Jugendpolitik, seine Deutschlandpolitik, die Relativierung des Marxismus und des Geschichtsoptimismus (B. Faulenbach), die Öffnung zu den Kirchen hin (S. Miller, D. Düding), die allerdings, so der Referent, sich erst in den 60er Jahren richtig auswirkte, die Aufgabe der alten sozialdemokratischen Infrastruktur auf kulturellem Gebiet, die nicht auf einen Befehl von Hannover erfolgte, sondern einem Bedürfnis nach Integration in die allgemeine Volkskultur entsprach. Darin wurde eine der Voraussetzungen für die späteren Erfolge der SPD im Kommunalbereich gesehen. Dies wurde auch als erfolgreicher Weg, die Mittelschichten zu gewinnen, interpretiert, die (wie alle Menschen) nicht nur als wirtschaftliche und ihrem Status verpflichtete Lebewesen gesehen werden dürften (S. Miller).

Der Vorwurf, Schumacher habe trotz seiner Bemühungen um die Mittelschichten keine Sensibilität für diese besessen, wurde außer mit dem Hinweis auf seine bürgerliche Herkunft vor allem mit der Situation der Mittelschichten nach 1945 pariert, die insgesamt - nicht nur die Flüchtlinge - eine "diffuse Masse" von Menschen gewesen seien, "die von ihrer ökonomischen Basis entkoppelt" gewesen seien (H. Grebing, B. Faulenbach). Schumacher habe seinen undifferenzierten Mittelschichtenbegriff nicht etwa aus Borniertheit oder analytischer Schwäche verwandt, sondern als Antwort auf einen Befund, mit dem er sich politisch auseinandersetzen wollte. Im übrigen habe es nach 1945 regional durchaus Ansätze gegeben, in die Mittelschichten einzudringen (H. Grebing).

Eine relativ erfolgreiche Mittelschichtenpolitik wurde Schumacher hinsichtlich der Wirkungen der von ihm stark besetzten nationalen Parole attestiert. Damit und mit seinen Auseinandersetzungen mit dem katholischen Kanzler Adenauer habe er maßgeblich zur Annäherung an die Evangelischen Kirchen beigetragen, die in Weimar im nationalen Lager gestanden hatten. In der Folgezeit habe dann Willy Brandt auf dem Wege über das antikommunistische Symbol Berlin das evangelische Bildungsbürgertum allmählich für die SPD gewonnen (H. A. Winkler). Vorwiegend erst nach der Umwandlung der SPD in eine Volkspartei sei dann der Einbruch in die katholische Arbeiterschaft gelungen, so daß etwa das Ruhrgebiet heute als "Stammland" der SPD erscheinen könne (B. Faulenbach, P. Lösche). Das Mittelstandsproblem sei schließlich für die SPD kein externes

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Problem geblieben, sondern zum Moment innerparteilicher Veränderung geworden: Die Mitglieder der Partei seien in die Mittelschichten hineingewachsen (H. Westphal).


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