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Helga Grebing
"Neubau" statt "Wiederaufbau" der SPD - die Lehren aus der Weimarer Republik




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l. Einleitung

Kurt Schumacher war, folgt man lange gängigen, besonders in den 80er Jahren mit Eifer vorgetragenen Deutungen, einer der großen Verlierer der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er hat die "Politikfähigkeit und die Handlungsmöglichkeiten" seiner Partei durch seinen intransigenten Antikommunismus behindert; obwohl ein glühender nationaler Demokrat hat er, so wird behauptet, die Teilung Deutschlands mit der Spaltung der Sozialdemokratie vorweggenommen. Erst neuerdings scheint über den Weg der Erkenntnis, daß Schumacher "ein schwieriger Deutscher" [Fn 1: Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995.] gewesen sei, eine Wiederannäherung an ihn möglich, die in Wahrheit eine Rückkehr zu Deutungen ist, wie sie aus den 60er Jahren überliefert sind: Kurt Schumacher "war nicht nur der profilierteste und einflußreichste Parteiführer der ersten Nachkriegsjahre, sondern auch der hervorragendste Repräsentant eines sich erneuernden demokratischen Deutschlands, und er stellte darüber hinaus eine politisch-moralische Kraft dar, deren Bedeutung für den Geist des Neuanfangs nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nicht leicht zu überschätzen ist", so urteilte Reinhard Rürup 1966. [Fn 2: Reinhard Rürup, Kurt Schumacher - Persönlichkeit und politische Konzeption, in: Neue Politische Literatur, Jg. 11,1966, S. 424-434.]

Die Deutung von Persönlichkeit und Politik Kurt Schumachers ist bis heute wie wohl kaum bei einem anderen deutschen Nachkriegspolitiker jeweils auffallend zeitgeistabhängig geprägt. Die Urteile fallen oft unter mehr oder weniger deutlicher Vernachlässigung der methodisch gebotenen Objektivität parteiisch aus. Darin spiegelt sich das Urteil der Zeitgenossen und Zeitzeugen wider: An Schumacher kam niemand unbeeindruckt vorbei; er hatte eine ungewöhnliche Ausstrahlungskraft, und er unterschied sich so auffallend von der an der von Hitler geschlagenen deutschen Linken gewohnten defensiv-

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resignativen Haltung. Er war mit seinem politisch-moralische Zäsuren setzenden Rigorismus zu einer moralischen Instanz nach innen und außen geworden. Dies hat aber zwischen ihm und den jeweils anderen bis heute eine unaufhebbare Distanz gelegt.

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2. "Neubau", nicht "Wiederaufbau"!

In seiner ersten Rede nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur am 6. Mai 1945 in Hannover formulierte Kurt Schumacher die klare Feststellung: "Wir erstreben die einheitliche Partei als demokratische Sozialisten." [Fn 3: Für die folgenden Ausführungen wurden Texte von Kurt Schumacher aus dem Jahr 1945/46 verwendet: l. Rede vor sozialdemokratischen Funktionären Hannovers am 6. Mai 1945, in: Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin/Bonn 1985, S. 203-236; 2. Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren, 25. August 1945, ebda., S. 256-286; Programmatische Erklärungen auf den Kon ferenzen von Wennigsen und Hannover 5./6. Oktober 1945, ebd., S. 301-319; Rede in Kiel am 27. Juni 1945, in: Arno Scholz/Walther G. Oschilewski (Hrsg.), Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. 2 Reden und Schriften, Berlin 1953, S. 25-50; Reden auf dem Parteitag der SPD vom 9.-11. Mai 1946 in Han nover, in: Albrecht, Kurt Schumacher, S. 385-422; Artikel im Tages spiegel vom 17. April 1946, in: Scholz/Oschilewski, Turmwächter der Demokratie, S. 71-74; Öffentliche Stellungnahme zum Führungsan spruch der Sozialdemokraten beim Neubau Deutschlands Ende Ok tober 1945/Januar 1946, in: Albrecht, Kurt Schumacher, S. 375-384;Rede auf dem Gründungskongreß des SDS am 4. September 1946, ebd.,S.463-474.]
Diese Partei sollte, von ihrem klassischen Zentrum, der Industriearbeiterschaft, ausgehend, ihre soziale Basis erweitern. Sie sollte sich, wie Schumacher wenig später erklärte, den Werten des europäischen Humanismus weit öffnen und einen Pluralismus der Motivation für die Entscheidung für diese Partei zulassen. Marxismus war unter diesen Voraussetzungen kein Dogma und kein Katechismus von Lehrsätzen mehr, sondern die Methode der ökonomischen Analyse und insofern "eine unentbehrliche Methode im Kampf um die Befreiung des arbeitenden Menschen".

Diese Funktionsbestimmung schloß die explizite Absage an den Marxismus-Leninismus ein. Obwohl kein Theoretiker im engeren Sinne, sondern ein politisch-strategisch denkender Organisator von Politik, kannte Schumacher nicht nur seinen Lassalle, den vor allem, sondern auch das Nötige von Marx, Lenin und Bucharin. Er beachtete

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nicht nur seinen Jaurès in besonderer Weise, sondern lobte sich auch Otto Bauer oder von den Jüngeren z.B. Alexander Schifrin und Ar-kadij Guriand, gelegentlich auch Fritz Sternberg, als intellektuelle Sporengeber. Die Frage, ob Kurt Schumacher ein Marxist gewesen ist, kann man umstandslos verneinen. Aber er stand in der Tradition sozialdemokratischer Reformpolitik, und deren Träger hatten immer viel Sensibilität dafür besessen, daß Reformarbeit ihre massenbewegende Radikalität aus der säkularen Vision Marxscher oder Marx-adäquater Analysen bezogen hatte.

Mit der militanten Absage an jede Form dogmatisch ideologi-sierter Politik war gekoppelt das frühe, eindeutige und unbeirrbare Votum gegen eine Vereinigung von SPD und KPD in der Sowjetischen Besatzungszone und gegen Einheitspartei-Initiativen unter Einschluß der Kommunisten in den Westzonen. Es stimmt, Schumacher war vom ersten Tag der Befreiung an davon überzeugt, daß es nicht möglich sein werde, in der SBZ sozialdemokratische Politik zu machen. Wer Schumacher wegen dieser eindeutigen, seine Handlungsmöglichkeiten determinierenden Auffassung kritisiert, weil er mit seiner Einstellung angeblich "ohne Zwang seitens der Besatzungsmächte nicht nur auf einen Teil Deutschlands, sondern auch auf den dort organisierten Teil der SPD" verzichtet habe, [Fn 4: Klaus Suhl, Arbeiterbewegung, SPD und deutsche Einheit 1945/46, in: Rolf Ebbighausen/Friedrich Tiemann (Hrsg.), Das Ende der Ar beiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsband zum sechzig sten Geburtstag von Theo Pirker, Opladen 1984, S. 300; vgl. ders., Kurt Schumacher und die Westzonen-SPD im Vereinigungsprozeß, in: Dietrich Staritz/Hermann Weber (Hrsg.), Einheits front/Einheitspartei. Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944-1948, Köln 1989, S. 108-128.]
verzichtet seinerseits auf eine grundsätzliche Einsicht, die Schumacher mit vielen seiner Genossen teilte: Ohne die Radikalisierung der Demokratie als des einzigen Weges zum Sozialismus hatten sozialistische Theorie und Praxis nach dem Faschismus und im Angesicht des Stalinismus keine Basis.

Die Einheit der Arbeiterbewegung war deshalb für Schumacher nicht das vorrangige Ziel. Dies waren Freiheit und Selbstbestimmung - des Individuums, der Klasse, der Nation. Er wollte weder Einheit der Arbeiterbewegung um jeden Preis, noch ein forciertes organisatorisches Bündnis mit bürgerlichen Kräften, wie es 1945/46 einigen Weggenossen nach dem Vorbild der Labour Party vorschwebte. Abgesehen davon, daß Schumacher von einer Parteistruktur mit autonomen Teilorganisationen nichts hielt, war er - gerade ange-

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sichts der kapitalistischen Strukturelemente des Faschismus - vom Weiterbestehen der Klassengesellschaft überzeugt. Die Einsicht in die Fortdauer des Klassenantagonismus sollte sogar als einigendes Band der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung parallel zur Öffnung für die Mittelschichten wirksam bleiben. Dabei war es zunächst einmal gar nicht wichtig, ob Begrifflichkeit und Realität in einem kongruenten Verhältnis standen oder Schumacher sich später den Klassenbegriff schenkte, wesentlich allein war, daß wie für den Sozialismus die Demokratie unabdingbar war, auch eine stabile Demokratie ein Maß an Sozialisierung zur Voraussetzung hatte. Dabei war es zunächst einmal für die Zeit des Umbruchs 1945/46 nicht ausschlaggebend, daß auch Begriff und Inhalte dessen, was Sozialisierung bedeutete, diffus blieben - ging es doch nicht nur um theoretische Spiegelfechtereien, sondern um das Setzen von politischen Symbolen und die Markierung des politischen Feldes, auf dem die Sozialdemokratie als Partei des demokratischen Sozialismus wirken wollte.

Dazu gehörte auch Schumachers später so gründlich, oft auch absichtlich, mißverstandener sogenannter Nationalismus. Schumacher war kein deutsch-nationaler Sozialist; er wurde nicht müde, scharf zu trennen zwischen dem verwerflichen alten reaktionären Nationalismus und einem progressiven deutschen Patriotismus. Es ging ihm um die selbstverständliche Behauptung nationaler Gleichberechtigung, eine Position, für die er sich auf keinen geringeren als Otto Bauer bezog. So war es für ihn kein Problem und, wie er glaubte, auch für seine Partei nicht, zu bekennen, "ebenso gute Deutsche wie ebenso gute internationale Sozialisten zu sein". Für Schumacher stand es überdies fest, daß, wer sich wie die SPD zur Kontinuität seiner Geschichte bekannte, kein neues Grundsatzprogramm brauchte; zunächst jedenfalls nicht, d.h. so lange die Unübersichtlichkeit der Zeitsituation eine Zeit- und Trendanalyse nicht zuließ. Die Erinnerung an die selbstgerechten und auf Selbststilisierung gerichteten, politisch-praktisch jedoch folgenlosen, wenn nicht gar störenden Theorie-Debatten in der alten Partei machte ihn in diesem Punkt wahrscheinlich besonders empfindlich; zumal solche Debatten selten zur inneren Stabilisierung der Partei beigetragen hatten. Daß indessen eine Partei mit Bewegungscharakter gerade in dieser Zeit nicht kompaßlos bleiben konnte, war ihm selbstverständlich, wie seine Instrumente - politische Richtlinien, programmatische Reden und Leitlinien - beweisen. Kurt Schumacher hatte sich eine Aufgabe gestellt, von ihr war er - wie

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Willy Brandt schrieb [Fn 5: Willy Brandt, Mein Weg nach Berlin, München 1960, S. 194f.] - "besessen": "Die Sozialdemokratische Partei, die Hitler zerschlagen hatte, deren Führer entweder hingerichtet oder zur Flucht gezwungen worden waren, deren Besitz - Häuser, Zeitungen, Bibliotheken, Gelder - die Nationalsozialisten gestohlen hatten, deren Mitglieder, sofern sie nicht an der äußeren oder inneren Front gefallen waren, nur noch in kleinen Gruppen und Zirkeln ihre politische Verbindung aufrechterhielten - diese Partei sollte wiedererstehen, größer und mächtiger als vor Hitler; sie sollte zur Partei der nationalen Rettung werden und die Macht übernehmen; sie sollte die Macht benutzen, um die Fehler der Vergangenheit auszumerzen." So Willy Brandt.

Schumacher wollte einen Neubau, wobei es zeitgleich keine Rolle spielte (und auch in der Nachbetrachtung nicht spielen kann), daß das von ihm gewollte Neue aus schon lange Gedachtem bestand, seine Wurzeln in älteren Programmen, wie dem Görlitzer von 1921, hatte und in der Emigration weitergedacht worden war. Es ging Schumacher darum, für dieses alte 'Neue' einen breiten innerparteilichen Konsens zu stiften. Dies gelang ihm auch weitgehend. Aus dieser Sicht ist die Stilisierung der SPD bzw. der sie tragenden Funktionärsschichten in der Nachkriegszeit bis zum Godesberger Programm 1959 als "Traditionskompanie" zwar recht anschaulich, aber letztlich doch nicht besonders stimmig: Es gab in der Nachkriegs-SPD zwar viel Tradition, jedoch auch nicht wenig Aufbruch zum Neubau.

Schumacher wollte diese Erneuerung der alten Partei nicht mit jenen auf den Weg bringen, die sich in der Zeit nach dem 30. Januar 1933, wie er es ausdrückte, "den Charakter erkältet hatten", oder anders gesagt: Widerstand begründete den Führungsanspruch in der Partei. So brach er den Stab über Carl Severing in Bielefeld, Erich Roßmann und Wilhelm Keil in Stuttgart, Otto Braun in der Schweiz;

auch Paul Löbe in Berlin hatte es schwer mit ihm. Sogar im Verhältnis zu Wilhelm Hoegner, der doch ein nicht minder eindeutiger Gegner des Nationalsozialismus gewesen war, wurde der Gegensatz zwischen emphatischem Zentralismus und überzogenem Föderalismus unterfüttert durch abweichende Voten für das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 17. Mai 1933: Hoegner sprach damals für die Teilnahme an der Sitzung des Reichstages aus Fürsorge für die bereits verfolgten Sozialdemokraten; Schumacher dagegen forderte Konflikt und Provokation samt Inkaufnahme der Verfolgung. So suchte er das Personal für den Neubau der Partei bei de-

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nen, die nach 1933 widerständig geblieben waren, und in der kampfbewährten Emigration.

Mit der Londoner Union bestand ohnehin fast nahtlose Übereinstimmung; Erwin Schoettle, Alexander Schifrin, Albert Grzesinski wünschte er zurück. Die, die er nicht zurückrief, wie jene 1931er Linkssozialisten, die sich nun in die SPD, die für sie immer noch den Noske-Ruch hatte, einreihten, taten dies, weil Schumacher sie überzeugte. Nach dem ersten SPD-Parteitag im Mai 1946 in Hannover schrieb Irmgard Enderle an Freunde nach Stockholm: "Von Hannover waren selbst wir tief beeindruckt. [...] Wenn man solch tatkräftige, klar ausgerichtete Politik wirklich macht, wie sie durch Schumachers ganzes Referat bzw. Schlußwort ging, ist in der Hinsicht ja wirklich anderer Geist als früher in allem. [...]" [Fn 6: In: Helga Grebing (Hrsg.), Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944-1948, München 1984, S. 60.]

Allerhöchste Priorität für den Neubau der Sozialdemokratie hatte nach Schumacher die "Gewinnung jüngerer Menschen", damit nicht allein "die beiden großen Generationen zwischen 45 und den 70er Jahren die Partei auf die Beine stellen", wozu sie durchaus fähig schienen; doch würde die große Sache "aus Mangel an geeignetem Nachwuchs bald austrocknen und absterben". Deshalb war seine Vorgabe: "Vor allem möglichst viele junge Leute, wobei man aus der früheren Zugehörigkeit zur Hitler-Jugend diesen jungen Menschen keinen Strick drehen soll". Und noch einer Spezies bedurfte es nach seiner Ansicht für den Neubau: der bürgerlichen Elite, die ja auch kam, ohne sehr laut gerufen worden zu sein: Carlo Schmid, Adolf Amdt, Karl Schiller, Heinrich Albertz.

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3. "Weimar" - das politisch-strategische Bezugsfeld von Kurt Schumacher
[Fn 7: Auf die Intensität des Rückbezugs auf "Weimar" verweist überzeugend immer wieder Merseburger, Der schwierige Deutsche, vgl. S. 214, 337, wo auf die Prägung der Rhetorik Schumachers (und z.B. auch Jakob Kaisers) durch "Weimar" aufmerksam gemacht wird, als die Übertragungstechnik noch nicht perfekt entwickelt war und die Redner darauf angewiesen waren, die Zuhörer auch ohne die Hilfe des Mikrofons mitzureißen.]


Helmut Rohde, selbst einer von den 1945ern, hat einmal aus seiner Erfahrung unterstrichen, daß Schumacher eine andere Sozialdemokratie als die, die am Ende der Weimarer Republik bestanden hatte,

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aufbauen wollte. Die Deutschen der Nachkriegszeit sollten "mit allem, was sie waren - mit denen, die aus der Emigration zurückkehrten, mit denen, die im KZ gewesen waren, mit denen, die Soldat waren, mit denen, die gearbeitet und gegen Hitler durchgehalten hatten - sich ihre Partei aufbauen.'' [Fn 8: Diskussionsbemerkung von Helmut Rohde, in: Kurt Schumacher als deutscher und europäischer Sozialist. Dokumentation einer interna tionalen Fachtagung im Kurt-Schumacher-Bildungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel vom 6. bis 8. März 1987, hrsg. von der Abteilung Politische Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung, bearb. u. eingel, v. Willy Albrecht, Bonn 1988, S. 145.]
Fast nichts mehr sollte so wieder werden wie in der Weimarer Republik. Kurt Schumacher ließ das Scheitern dieser Republik und mit ihr das der Arbeiterbewegung nicht in Ruhe; er blieb auf das Ende der Weimarer Republik fixiert, an sie gebunden. Dies ist oft genug eher kritisch bemerkt worden. Aber wieso und warum auch sollte er, der Vertreter des 'anderen Weimar', dies nicht sein? Dies machte doch seine Identität aus: die des frühen, kraftvollen, hinhaltenden Widerstandes gegen die konservative Reaktion und gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus. Es war gewiß kein Zufall oder Verlegenheit, daß er in seiner ersten Rede 'nach Hitler' aus seiner die Nazis zur Weißglut reizenden Reichstagsrede vom 23. Februar 1932 zitierte. Aber auch das war Teil seiner Identität: die Streitbarkeit gegenüber der defensiven, unsicheren, lahm gewordenen Parteiführung in den Krisenjahren der Republik - ein Grad der Streitbarkeit, der es ihm verwehrte, die Emigration zu wählen. Das Jahrzehnt des qualvoll-schäbigen Überlebens im KZ hatte ihn in der Richtigkeit seiner Auffassung nur noch bestärkt. Es ist nicht zutreffend, daß er, um den Führungsanspruch der Sozialdemokratie im neuen Deutschland zu begründen, die historische Belastung der Arbeiterbewegung verschwiegen hat. Gegenüber den bürgerlichen Wasserträgern des Faschismus war es ja richtig darauf hinzuweisen, daß nur die Sozialdemokratie als einzige politische Kraft in Deutschland unverrückbar an der Linie von Demokratie und Frieden festgehalten hatte. Aber nach innen hat er die alten Fehler und Schwächen der Sozialdemokratie nicht nur nicht verleugnet, sondern wiederholt zum Anlaß harter Auseinandersetzungen genommen. Und deshalb versicherte er den jungen Gründern des SDS im Herbst 1946, daß es mit ihm das nicht geben werde, "was mancher Illusionist der älteren Generation zu meinen scheint, ein Wiederanknüpfen an Weimar".

Eine ganze Reihe konkreter Lehren aus dem Scheitern der ersten deutschen Republik waren zu ziehen, zu allererst die, daß sich ohne

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grundlegende gesellschaftliche Veränderungen der politische Mißbrauch der wirtschaftlichen Macht durch den Monopolkapitalismus wie in der Zeit des Nationalsozialismus wiederholen könne: "Deutschland [...] ohne Sozialisierung all der Stellen, an denen große Kapitalien gesammelt werden können, ist unmöglich für die Zukunft." Anders als die Kreisauer hat er die Parteien in ihrer Funktion für das parlamentarische System der Republik nicht für überholt gehalten, wenngleich auch strukturelle Veränderungen, wie etwa die 10-Prozent-Klausel als Hürde für die Wahl ins Parlament, für notwendig gehalten. Wesentlich war für ihn, die Demokratie wirklich wehrhaft zu machen gegenüber ihren Feinden, und sehr früh hat er die Bedeutung einer schlagkräftigen Politischen Polizei diskutiert.

Zu den Lehren von Weimar gehörte auch ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Kommunisten, das noch durch die Erfahrungen in der KZ-Zeit und in der unmittelbaren Nachkriegszeit vertieft wurde. Schumacher einen trivial-emotionalen Antikommunismus zu unterstellen (selbst wenn sich manches, was er zu sagen hatte, so anhörte), ist absurd. Noch oder gerade unter der unmittelbaren Bedrohung durch den Nationalsozialismus im März 1933 hatte er die Hoffnung ausgesprochen, daß der gemeinsame Kampf gegen den Faschismus auch "ein neues Verhältnis zwischen uns und den Kommunisten" einleiten würde. In seiner Rede am 6. Mai 1945 teilte er den Wunsch vieler Genossen, daß die starken Spannungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten aus der Zeit vor 1933 nicht wiederkehren mögen. Eine solche Äußerung mag taktischen Kalkülen geschuldet gewesen sein oder auch nicht.

Grundsätzlich mischten sich bei Schumacher, wie bei vielen seiner politischen Freunde (besonders in der Londoner Emigration), vielleicht traumatische Erfahrungen und sicher analytische Einsichten zu dem Diktum, daß stalinistisch pervertierter Kommunismus und demokratischer Sozialismus miteinander unvereinbar waren. Gegenüber dieser grundsätzlichen Einstellung blieben alle anderen Argumente für oder gegen die Einheit der Arbeiterbewegung von sekundärem Wert. Die Prinzipienerklärung der neugegründeten Sozialistischen Internationale vom Juli 1951 bestätigte Schumachers frühe Entscheidung gegen die Einheitspartei: "Es gibt keinen Sozialismus ohne Freiheit. Der Sozialismus kann nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie nur durch den Sozialismus vollendet werden."

Kurt Schumacher wollte kein neues Weimar, aber er wollte auch nicht jenen "autoritären Besitzverteidigungsstaat", wie er 1949 die Bundesrepublik geißelte: Diese war - gemessen an England, Frank

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reich und Italien - als die ökonomisch liberal-kapitalistischste und politisch konservativste Version aus dem Nachkriegswiederaufbau der Demokratien in Westeuropa hervorgegangen. Schumachers Vision war eine andere gewesen: Seine Option für den Westen war nicht identisch mit der Bejahung des 'westlichen Systems' schlechthin; im Gegenteil: sie entsprach dem Entwurf einer demokratisch-sozialistischen Alternative zu diesem System. Daß er für sie, anders als erwartet, bei den westlichen Besatzungsmächten keine Unterstützung fand, erbitterte ihn, so daß er sich schon 1947 klar machte: "Nun krankt Deutschland in Wahrheit an der verhinderten sozialen und politischen Revolution des Jahres 1945. Und diese Verhinderung beruht doch gewollt oder ungewollt auf der Tatsache der Besetzung." [Fn 9: Schumacher am 29. Juni 1947 auf dem Parteitag der SPD in Nürnberg, in: Albrecht, Kurt Schumacher, S. 487.] Diese aber war die Konsequenz, und das wußte niemand so genau wie er, der nationalsozialistischen terroristischen Diktatur.

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4. Erwartungen an die SPD

Diese Bilanz nach zwei Jahren war nicht zu erwarten gewesen, jedenfalls gemessen an der Resonanz und den Erwartungen, die Kurt Schumacher seit Mai 1945 erreichten. Noch im Oktober 1948 bestätigte eine Allensbacher Umfrage, daß er vor Konrad Adenauer und Carlo Schmid den Deutschen als zur Zeit fähigster Politiker galt; er, der radikale Demokrat, der deutsche Patriot und der internationale Sozialist, war, wie es in einem Brief an ihn hieß, zum ehrlichen deutschen Volksmann geworden, "der für alle das Beste will", der "eine konstruktive politische Linie" verfolge. [Fn 10: Die folgenden Zitate sind der unveröffentlichten Studienabschlußarbeit von Joachim Vieritz, Die SPD im Meinungsbild der ersten Kriegsjahre in Briefen an Kurt Schumacher 1945-1949, Staatsexa mensarbeit Universität Göttingen 1988, entnommen, die auf einer Auswertung von ca. 80 Briefen aus dem Bestand Schumacher im Ar chiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, basiert.] Während Schumacher seine Partei organisatorisch, praktisch-politisch und grundsätzlich-konzeptionell formierte, gewann er nach außen geradezu ein Erlöser-Image, liest man die an ihn seit Sommer 1945 gerichteten Briefe aus der Bevölkerung: "Sie gaben mir das Rückgrat wieder", beteuerte da einer. Menschen aus dem bürgerlichen Milieu lobten seinen Mut und seine Unabhängigkeit, seine klare Sprache gegenüber den Besat-

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zungsmächten, sahen in ihm ihr Vorbild als antikommunistischen deutschen Patrioten (und manche fanden über ihn den Weg zur SPD, wie die spätere SPD-Bundestagsabgeordnete, die Göttinger Ärztin Elinor Hubert). Ehemalige Soldaten und Offiziere (bis zum General) erhofften sich von ihm die Befreiung aus der Isolation und Depression und erbaten von ihm, dem "Führer der SPD", politische Orientierung und Hilfe beim Aufbau eines neuen Weltbildes. Heimkehrende Kriegsgefangene sahen in ihm den Mann, "dem unsere Stimme gehört", erwarteten von ihm, daß er seine Partei zum Kraftfeld für die ehemaligen Soldaten gestalten und damit die alte Kluft zwischen Armee und SPD aufheben werde. Flüchtlinge sahen in ihm "den einzigen Mann, der uns helfen kann", und baten ihn, ebenso entschieden, wie er sich "für die Erhaltung von Rhein und Ruhr bei Deutschland" ausgesprochen habe, sich "unserer ostdeutschen Heimat anzunehmen". Ehemalige NSDAP-Mitglieder erwarteten sich von einer Aufnahme in die SPD "Rehabilitierung", annoncierten sich als enttäuschte linke Nationalsozialisten, "als Sozialist aus der NSDAP". Umfaller aus der SPD in die NSDAP warben um Verständnis und baten um Absolution durch die Wiederaufnahme in die alte Partei. Vor allem aber die Jungen bekannten, daß sie seine Führung und Leitung brauchten, und baten um die Chance, sich bewähren zu können: "Wir Jungen sehen in Ihnen, hochverehrter Herr Doktor, den Vater unserer Zukunft, die Flamme, die uns entzündet für die Mitarbeit an der Verwirklichung der demokratischen Idee, der wir uns voll Vertrauen hingeben und offenbaren für eine neue, deutschere Zeit." [Fn 11: So im Juni 1946 ein 26jähriger aus Nienburg/Weser.]

Solche Erwartungen beruhten teilweise auf Mißverständnissen. Manche Briefschreiber verhehlten kaum, daß sie auf die Gnade der vermuteten neuen Obrigkeit hofften. Manches war aber auch ehrlich gemeint und richtig verstanden. Wie auch immer: Schumachers Anziehungskraft war weitaus bedeutender als die seiner Partei, gegenüber der man zunehmend Vorbehalte artikulierte; z.B. versicherte da ein Briefschreiber, "daß ich die Bestrebungen der heutigen Sozialdemokratie durchaus unterstütze bis auf die Planwirtschaft". Für andere galt 'bis auf die Gemeinschaftsschule', 'bis auf die Beteiligung an der Entnazifizierung' und dergleichen mehr. Für viele wurde, verstärkt ab 1947, der alte Adam der SPD wieder sichtbar: die SPD als Klassenpartei. Fast seismographisch wurde registriert, daß das, was Schumacher offensiv Neubau und nicht Wiedergründung genannt hatte, nicht gelungen zu sein schien.

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5. Das Scheitern des Neubaus - objektive Gründe, subjektive Fehler

Daß Kurt Schumacher mit seiner Neubau-Vorstellung gescheitert ist, davon waren und sind die überzeugt, die sich die SPD schon seit 1921 - das Stichjahr wurde wegen des Görlitzer Programms gewählt - als Volkspartei wünschen. Vom Scheitern überzeugt sind auch die, die schon für die Zeit nach 1918 von der Wiedervereinigung der deutschen Arbeiterbewegung träumen. In beiden Fällen steht den Träumen die Realität im Wege. Es ist kürzlich unter Zusammenfassung des Forschungsstandes von Klaus-Dietmar Henke zu Recht der "Schein der Einheit der Arbeiterklasse" konstatiert worden. [Fn 12: Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besatzung Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 27), München 1995, S.646-656.]
Daß es Schumachers "Kampf gegen die sozialistisch-kommunistische Einheit" gewesen sei, der die Genossen erst auf Linie gebracht habe, gehört inzwischen weitgehend ins Reich der Legende. Jupp Kappius hat bereits am 18. April 1945 aus Bochum ans OSS ziemlich definitiv auf Grund seiner Untergrundkontakte berichtet: Eine Art Zusammenarbeit mit orthodoxen Kommunisten könne es nicht geben; ein Bericht, der deutsche Sozialisten mit Kommunisten in Verbindung bringe, sei ohne Grundlage; die Einheit der Anhänger der Linken in Deutschland könne nicht erreicht werden, wenn die Kommunisten der Leitung Rußlands folgten. Wie ein Echo dazu erscheint Hermann Brills Feststellung: "Schon am zweiten Tag der Befreiung (aus dem KZ Buchenwald) mußten wir erkennen, daß die KPD die Alte geblieben war." Wie eine Bestätigung dieser Erfahrung wirkt das Diktum des maßgebenden kommunistischen Funktionärs in Solingen vom Mai 1945: "Die bolschewistische Partei lehrt aber, daß gerade die Entfernung der opportunistischen, reformistischen und menschewistischen Elemente die leninistische Partei gestärkt hat. Darum ist die Bildung einer solchen Einheitspartei, die auf einem Mischmasch von revolutionären Phrasen und reformistischen Handlungen fundiert ist, falsch [...]". [Fn 13: Zitiert bei Inge Marßolek, Arbeiterbewegung nach dem Krieg (1945-1948). Am Beispiel Remscheid, Solingen, Wuppertal, Frankfurt am Main/New York 1983, S. 244.]
Gewiß wünschten sich nicht wenige Sozialdemokraten und die Mehrheit der Linkssozialisten, die sich auf dem Wege zur Sozialdemokratie befanden, nichts sehnlicher als die Bochumer Bergarbeiter von der Zeche Prinz Regent: "Niemals darf es zu parteipolitischen oder religiösen Auseinandersetzungen kommen, wie sie früher

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in kräfteverzehrenden Bruderkämpfen scheußlichen Ausdruck gefunden hatten. Keine Macht der Welt soll noch einmal die Arbeiterschaft allgemein und die Bergarbeiter insbesondere zerklüften, spalten und gegeneinander hetzen. Nicht noch einmal werden wir uns zerfleischen, während die Todfeinde der Arbeiterklasse billige Triumphe feiern und ihre Knute über uns schwingen." [Fn 14: Proklamation an die Bergarbeiter (April 1945), in: Christoph Kieß mann/Peter Friedemann, Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946-1948, Frankfurt am Main/New York 1977, S. 93.]
Als jedoch Schumachers rigoroser Abgrenzungskurs gegenüber den Kommunisten ab Sommer 1945 sich durchzusetzen begann, hatten die Sozialdemokraten und Linkssozialisten ihre Lehrstücke in erneutem Bruderkampf bereits zum Teil leidvoll absolviert. Stellvertretend für sie steht die Erklärung von Mitgliedern der SAP und des ISK in Hannover vom 5. September 1945: Nach dem Einmarsch der Amerikaner habe im Vordergrund die Überzeugung gestanden: "Das alte, was vor 1933 war, darf nicht wiederkommen." So hoffnungsvoll diese Ansätze für einen Neuaufbau der Arbeiterbewegung "gewesen seien, so schnell wurden sie wieder zunichte." Deshalb habe man sich "entschlossen, der SP[D] beizutreten. Die KP[D[ halten wir angesichts ihrer Entwicklung der letzten Jahre [sie!] nicht für geeignet, das Sammelbecken zu sein für alle aufbauwilligen Kräfte der deutschen Arbeiterschaft." Unterschrift u.a. Otto Brenner. [Fn 15: Grebing, Entscheidung für die SPD, S. 54f.]

Unzutreffend wäre es, wie es leicht, vielleicht auch leichtfertig immer noch geschieht, die Reorganisierungsprozesse der SPD im Sommer 1945 einfach unter 'Wiederaufbau' oder 'Wiedergründung' der alten Partei abzuhaken. Die lokalen und die regionalen Befunde sind äußerst heterogen, und nur ein paar Beispiele aus dem reichen Fundus der einschlägigen Forschung sollen hier vorgetragen werden. [Fn 16: Helga Grebing, Zur Problematik der personellen und programmati schen Kontinuität in den Organisationen der Arbeiterbewegung in Westdeutschland 1945/46, in: Herkunft und Mandat. Beiträge zur Führungsproblematik in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main/Köln 1976, S. 171-194; dies., Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949, Stuttgart 1983; dies., Flüchtlinge und Parteien in Niedersachsen. Eine Untersuchung der politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse während der ersten Nachkriegszeit 1945-1952/53, Hannover 1990; dies.. Von der Traditionskompanie zur Staatspartei. Die Modernisierung der Sozial demokratie in den 1950er und 1960er Jahren im regionalen Vergleich, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde, Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 205-221; Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1995; Franz Walter/Tobias Dürr/Klaus Schmidtke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993; Edgar Wolfrum, Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der "vergessenen Zone" bis zur Bildung des Südweststaates 1945-1952, Düsseldorf 1991; Manfred Overesch, Hermann Brill in Thüringen 1895-1946: ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992; Walter Tormin, Die Geschichte der SPD in Hamburg 1945 bis 1950, Hamburg 1995. ] In Baden wollte man in kritischer Distanz zur Zeit vor 1933

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eine "Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei"; in Württemberg-Hohenzollern dagegen lief, von Neu-Sozialdemokraten moderiert, der Countdown zur linken Volkspartei an. In Thüringen versuchte Hermann Brill mit dem "Bund Demokratischer Sozialisten" eine neue Einheitspartei der sozialistischen Arbeiterbewegung, die Sozialdemokraten und Kommunisten in einem neuen geschichtlichen Abschnitt zusammenführte, zu bilden. In Sachsen sah es noch bunter aus: In Dresden steuerte man auf das Ziel "Sozialistische Einheitspartei"; in Freithal bei Dresden bevorzugte man das Modell Labour Party; in Chemnitz ging "nach der Neugründung" der alten Partei "wieder offiziell jeder an seinen Platz, mit Eifer und voller Ideale an die Arbeit"; in Leipzig begann die Arbeit der Genossen mit einem Tätigkeitsbericht "von 1933 bis heute" (das war der 19. Juli 1945). Die Weigerung, einen Zulassungsantrag zu stellen, begründeten die Leipziger Sozialdemokraten mit der ununterbrochenen Existenz ihrer Partei und meldeten an den Bezirksvorstand: "Der größte Teil der früheren Ortsvereine arbeitet wieder." Dies entsprach ja auch der Vorstellung, die Otto Grotewohl den Genossen vermittelte (im Sommer 1945):

"Wir sind keine neue Partei, sondern wir setzen unsere alte Partei fort." In Hessen richtete sich die SPD in Frankfurt alt-sozialde-mokratisch-links ein, in Kassel dagegen alt-sozialdemokratisch-rechts und in Darmstadt neu-sozialdemokratisch-liberal-protestantisch. In Niedersachsen war in Hannover die Partei auf dem Weg zu einer demokratisch-sozialistischen Arbeiterpartei neuen Stils; in Braunschweig gab es zwei Bestrebungen - eine nach rechts, die andere nach links -, ehe sich das Modell Hannover durchsetzte; in Hildesheim freuten sich "alte bekannte Mitglieder aus früherer Zeit", nach so langer Zeit endlich wieder einmal zusammenzukommen; in Göttingen, damals eine Kleinstadt, gab es drei einander widerstrebende Bewegungen für den Neuanfang, bis sich dann im August

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1945 - nicht zuletzt nach einer Intervention von Willi Eichler - die Auffassung durchsetzte: "Die Partei steht wieder auf mit ihrem alten Namen, ihrem alten Geist und ihrem alten Programm." Aus Niedersachsen ist überdies bekannt, daß vor allem in den dörflichen Gegenden, in denen Flüchtlinge aus dem deutschen Osten ihren - wie sie damals meinten - vorübergehenden Aufenthalt genommen hatten, viele neue Ortsvereine gegründet wurden; schaut man genau hin, so erkennt man in diesen Neugründungen Nachgründungen, die in der Parteiarbeit versierte, geflüchtete Sozialdemokraten vor allem aus Niederschlesien auf den Weg brachten.

Die Betrachtung der Varianten des politischen Wiederbeginns der Sozialdemokratie im Sommer 1945 ließe sich noch lange fortsetzen; der Befund bliebe weiterhin nicht eindeutig - also wie in Hamburg erst einmal der ausgeprägte Wille zur Überwindung der Spaltung durch eine Einheitspartei oder wie in Stralsund, wo, wie die Genossen damals verlautbarten, "automatisch die frühere sozialdemokratische Partei wieder auf[lebte]." Drei Tendenzen ließen sich herausarbeiten, die die Prozesse und Formen der Rückmeldung über die lokalen und die regionalen Konstellationen hinaus kennzeichneten:
l. die Tendenz zum Wiederaufbau der alten reformorientierten Arbeiterbewegung,
2. die Tendenz zur linken Volkspartei und - weniger deutlich - auch 3. die Tendenz zu einer sozialistischen Klassenpartei; allen Tendenzen gemeinsam waren der mehr oder weniger stark vorhandene Wille zur pluralistischen Öffnung und ein deutlicher antikapitalistischer Zug.

Auch die Innenausstattung der SPD auf der Führungsebene hatte keine Eindeutigkeit. Überflüssig zu fragen, warum Kurt Schumacher die einst jungen Leute aus dem vor-1933er Parteivorstandsapparat als engste Mitarbeiter auswählte, obwohl er ja als einer der jungen "Militanten" am Ende der Weimarer Republik auf der anderen Seite der Parteibarrikade gestanden hatte. Er brauchte sie einfach bei der gigantischen Aufgabe, die Parteiarbeit wieder in Schwung zu bringen und eine allgemein verbindliche Beschlußlage herzustellen - von Herbert Kriedemann, Fritz Heine, Alfred Nau und Erich Ollenhauer war eben die Rede.

Kritisch wird immer angemerkt, die 'Jungen' seien in der Nach-kriegs-SPD chancenlos geblieben - trotz des großen Lärms, sich ihrer besonders anzunehmen. Aber so ganz stimmt es eben nicht: Großen Vertrauensvorschuß erhielt Egon Franke (Jg. 1913), ein junger Widerstandskämpfer, der Jahre im Zuchthaus zugebracht hatte, oder Heinrich Albertz (Jg. 1915), der zur Bekennenden Kirche gehört hatte und zum Schluß noch in der Militärstrafanstalt Torgau gelandet

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war. Als sperriger und aufmüpfig-distanziert zeigten sich Fritz Erler (Jg. 1913) und Willy Brandt (ebenfalls Jg. 1913), die sich der Autorität Schumachers erst einmal entzogen oder gar widersetzten. Es ist richtig, daß Schumacher bewährte Alte besonders schätzte wie Erwin Schoettle (Jg. 1899), um dessen Rückkehr aus der Emigration er sich bemühte, oder Hinrich Wilhelm Kopf (Jg. 1893), der einzige in der Landesfürstenriege, der Schumacher in stetiger Loyalität verbunden gewesen zu sein scheint. [Fn 17: Diese Information stammt von Klaus Schmidtke, Göttingen, der im Rahmen der Vorhaben des Arbeitskreises "Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945)" eine Biographie Hinrich Wilhelm Kopfs als Dissertationsprojekt vorbereitet (Abschluß 1996). Vgl. auch Helga Grebing, Kurt Schumacher als Parteivorsitzender und seine Kontrahenten, erscheint demnächst in dem Band: Nach-Denken über Kurt Schumacher und seine Politik, hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996.]

Es gab dann auch noch eine Reihe von Neu-Sozialdemokraten, die er gezielt in seine Kreise zog: Carlo Schmid (Jg. 1896), Adolf Arndt (Jg. 1904), Willi Eichler (Jg. 1896) und last not least Herbert Wehner (Jg. 1906), an dem er wohl auch dessen Statur als Arbeiterführer schätzte. Neu, aber vor allem jung waren auch die Offiziere und Unteroffiziere und Gefreiten der SDS-Gründer-Generation, die sich damals der SPD zuschlugen und von denen bald eine Menge zu hören war: Helmut Schmidt, 1945 mit 26 Jahren einer der Ältesten, der 21jährige Peter von Oertzen, der 19jährige Hans Matthöfer, der
18-jährige Horst Ehmke, um nur sie zu nennen.

Was aber hat diese Renovierung der Innenausstattung, so muß man fragen, für ein Gewicht gegenüber der Tatsache, daß mehr als zwei Drittel der SPD-Mitgliedschaft nach 1945 und nahezu sämtliche Angehörige der mittleren und unteren Funktionärsebene in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik sozialisiert worden sind? In Göttingen beispielsweise gehörten mehr als drei Viertel der Funktionäre der SPD bereits vor 1933 an, und die überwiegende Zahl unter ihnen war 1945 über 40 Jahre alt. Diese Befunde haben die Historiker bekanntlich von der Formierung der alten Traditionskompanie sprechen lassen, [Fn 18: Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin/Bonn 1982, insb. S. 54-66 (Neuauflage 1996); vgl. auch ders., Die moderne SPD. Entwicklungslinien und Hauptprobleme von 1945 bis zur Gegenwart, in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Kämpfe, Krisen, Kompromisse. Kritische Beiträge zum 125jährigen Jubiläum der SPD, Bonn 1989, S. 103-124.]
die dann entgegen Schumachers

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eigener Absicht bis in die 50er Jahre hinein den geraden Weg zur Volkspartei verstellten. Eine solche Deutung kann man inzwischen als zu einfach bewerten.

Es war viel mehr Bewegung in der SPD, als das vordergründige Bild der Traditionskompanie vermuten läßt. Nur ein Beispiel mag pars pro toto ausreichen. [Fn 19: Diese Informationen verdanke ich Karin Gille, Göttingen, die gemeinsam mit Heike Meyer-Schoppa an einer Studienabschlußarbeit über die SPD-Frauenarbeit in der Nachkriegszeit arbeitet.]
Beim Ingangsetzen der sozialdemokratischen Frauenarbeit, für die Schumacher Herta Gotthelf aus der Londoner Emigration zurückrief, schwankte man zwischen dem traditionellen Zetkinianismus und der Wahrnehmung der Veränderungen in der Welt der Frauen. Es wurde einerseits postuliert, daß die sozialdemokratischen Frauen in erster Linie Sozialdemokratinnen seien. "Wir sind keine Frauenrechtlerinnen", hieß es, "sondern wir sind Sozialistinnen." Auf der anderen Seite erkannte man, daß "ein ganz neuer Frauentyp" sich durchgesetzt hatte, "der, wenn auch noch nicht in seiner Mehrheit bewußt politisch, so doch lebensnah und unabhängiger [ist], als es die Frauen jemals in Deutschland gewesen sind." Das gleiche Bild des Schwankens zwischen Traditionalismus in der Frauenarbeit und gesellschaftlichem Gestaltungswillen bietet auch der Blick auf die Arbeitsformen: Besondere Frauen-Feierstunden, Filmvorführungen, Bunte Abende und Nachmittage auf der einen Seite und auf der anderen - durch Kurt Schumacher selbst - die Aufforderung: "Die Frauen müssen auf dem Gesamtgebiet der Politik ihren Einfluß gestalten." Man dürfe sie "nicht auf die speziellen Gebiete zurückdrängen, die ihnen traditionell zugewachsen sind."

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6. "Wiederaufbau" statt "Neubau"?

Auch für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung gab es im Sommer 1945 keine Stunde Null. Es müßte eigentlich auch niemanden verwundern, daß eine Bewegung, deren Identität in einem für sie selbst unvorstellbaren Ausmaß 1933 zerstört worden war, sich nun, befreit, mit beeindruckender Schubkraft 'wiederherzustellen' trachtete. Als Fazit läßt sich deshalb festhalten: Viel Wiederaufbau, aber auch ein beträchtlicher Anteil an Neubau; aber in keinem Fall eine Wiedergründung; denn Kontinuität war genauso in den Ansätzen zu einem Wandel zu Neuem wie in der Rückbesinnung auf Altes, Bewährtes. Wenn auch nach 1947 die Ansätze zum Neubau ihr gestaltendes Gewicht einbüßten, so waren doch - was den Parteiaufbau und die pro

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grammatische Selbstverständigung anging - die Schneisen für die Wege nach Godesberg und über Godesberg hinaus geschlagen worden. Traditionskompanie hin, Traditionskompanie her: Wer sehen wollte, konnte die Konturen sozialdemokratischer Modernität erkennen.

Es stellt sich zum Schluß die Frage, warum dies zeitgenössisch so wenige taten und die gesellschaftsverändernde Dynamik der Sozialdemokratie ins Leere lief. Wieder gibt es mehrere Antworten: Da bestanden einmal allgemeine, von den Besatzungsmächten veranlaßte Barrieren gegen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Dann gelang es Schumacher und der SPD nicht, ihre gesellschaftspolitische Alternative zur SBZ unverwechselbar deutlich zu machen (da nutzte auch nichts der die bürgerlichen Parteien anfangs übertreffende Antikommunismus). Der schon während des Zweiten Weltkrieges beginnende soziale Strukturwandel ließ gerade die wiederaufgefrischten Milieureste vollends wieder zerbröseln. Die politische Desillusionisierung der jüngeren Generationen wurde unter-, ihre politische Kraft überschätzt. Wie schon vor 1933 folgten auch nach 1945 große Teile der Arbeiterschaft nicht und die Mittelschichten resp. die Angestellten erst recht noch nicht der SPD. Für viele Sozialdemokraten blieb es damals ein schwacher Trost, daß die SPD moderner war als die Welt und in ihr die Menschen, für die sie wirken wollte. Aber es blieb die Mahnung Schumachers in seinem Schlußwort auf dem l. Parteitag der SPD - nach Hitler - am 11. Mai 1946. "[...] Sozialdemokrat sein, heißt nicht, Mitgliederbeiträge zu zahlen und Mitgliedermarken kleben. Das sind vergangene Formen der Partei. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihr Gesicht nach vorn zu wenden. Wenn sie vorwärts geht, dann will sie die Ziele erreichen, die für die Klasse, das Volk und die Welt notwendig sind. [...] Ich glaube, wir werden nicht verzweifeln, wir werden kämpfen, und wir werden uns durchsetzen." [Fn 20: Vgl. Albrecht, Kurt Schumacher, S. 422.]

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Zur Diskussion des Referats von Helga Grebing

Im Anschluß an das Referat von Helga Grebing wurde die Frage sehr kontrovers diskutiert, ob Schumacher einen Neubau oder Wiederaufbau der SPD in Gang gesetzt habe. Dieter Düding bezweifelte ersteres in Ansätzen, Klaus Schönhoven ganz dezidiert. Für ihn war Schumacher kein moderner Parteiführer, sonder eher ein Weimarianer, eine "sozialistische Priesterfigur", die der deutschen Führersehnsucht entsprochen habe. Sein Weltbild sei, abgesehen von einigen nationalen und europäischen Komponenten, weimarianisch "verstaubt" gewesen. Er habe weder die neuen Mächtekonstellationen des Kalten Krieges erkannt noch den Platz Nachkriegsdeutschlands im internationalen System (anders als Adenauer).

Am heftigsten widersprach diesen Positionen Helmut Rohde, der Schumacher für den Zeithorizont des ersten Nachkriegsjahrzehnts emphatisch als Erneuerer und Modernisierer der Partei bezeichnete, der der SPD Orientierung an der Realität sowie Abkehr von dogmatischer und ideologischer Fixierung beigebracht und den Weg zum Godesberger Programm angebahnt habe. Durch Schumacher habe die SPD eine Relativierung ihrer alten Sozialisierungsvorstellungen erfahren und die Demokratie als einzige Chance zur Verwirklichung der Freiheitsrechte des Menschen kennengelernt.

In zwei Punkten unterstrich Tilman Fichter die Neuerungen, die Schumacher zu verdanken seien: einmal die Durchsetzung einer starken Zentralgewalt in der Bundesrepublik und die Ablehnung des Konzepts eines Staatenbundes, sodann den (angeblich vergeblichen) Versuch einer Verankerung der Kategorie der Freiheit im sozialdemokratischen Denken.

Bernd Faulenbach sah die große Ausstrahlungskraft Schumachers gerade in dessen Uneindeutigkeit und Unentschiedenheit, Mehrdimensionalität, Ambivalenz und teilweise sogar tendenzieller Widersprüchlichkeit in bestimmten begrifflichen und sachlichen Fragen, womit er optimal an die Rezeptionsfähigkeit der Nachkriegsgesellschaft habe anknüpfen können.

Während Susanne Miller betonte, wie sehr sich Schumacher und Erich Ollenhauer mit seiner Ausgeglichenheit in der Parteiführung ergänzt hätten, unterstrich abschließend Helga Grebing die Notwendigkeit, Schumacher nicht isoliert als Architekten des Neubaus oder neuen charismatischen Führer zu sehen, sondern "symbiotisch" mit gleichzeitigen Entwicklungen in der Partei zu betrachten. Es

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handele sich also zugleich um einen Prozeß von oben nach unten wie umgekehrt von unten nach oben.

Schumacher sei nicht Weimarianer schlechthin gewesen, sondern die "Verkörperung des anderen Weimar", der das Bewahrenswerte in die Nachkriegszeit hinübergeholt habe. Vieles von dem, was Schumacher nach 1945 vertreten habe, sei in der Weimarer Zeit, vor allem aber im Exil, schon vor- oder angedacht worden, u.a. die vorsichtige Korrektur dogmatischer Sozialisierungsvorstellungen. Schumacher habe es aber verstanden, sie nach 1945 zu popularisieren. Vor allem aber habe er die Fähigkeit besessen, die (z.T. von den Nationalsozialisten verführten) jüngeren Menschen anzusprechen und sie zur Mitarbeit in der SPD zu mobilisieren.

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