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Christoph Kleßmann
Wiedervereinigung und deutsche Nation - der Kern der Politik Kurt Schumachers




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l. Einleitung

Einer der berühmtesten Zwischenrufe in der Geschichte des deutschen Bundestages fiel wenige Wochen nach dessen Konstituierung in der auch von Konrad Adenauer nicht "pingelig" geführten Debatte um das Petersberger Abkommen im November 1949. Als Adenauer vehement den Sozialdemokraten die Alternative vorhielt, entweder dem deutschen Beitritt zum Ruhrstatut zuzustimmen oder aber den Fortgang der Demontagen zu riskieren, rief Kurt Schumacher ihm zornig "Bundeskanzler der Alliierten" entgegen. Ein Sturm der Entrüstung brach im Bundestag los. Schumacher erhielt einen Ordnungsruf und wurde für 20 Sitzungstage von der Teilnahme an den Parlamentsverhandlungen ausgeschlossen. Es gelang beiden Seiten dann zwar, eine von Adenauer und Schumacher akzeptierte Einigungsformel zustande zu bringen, so daß die Disziplinarmaßnahme zurückgenommen wurde, der Graben zwischen Regierung und Opposition war jedoch tiefer geworden, und zu Schumachers Image als radikaler Oppositionsführer mit nationalistischen Untertönen hat dieser Zwischenruf dauerhaft wesentlich beigetragen.

Die Heftigkeit der Reaktion auf einen als schwere politische Beleidigung empfundenen, im sachlichen Kern jedoch keineswegs völlig falschen Vorwurf verweist exemplarisch einerseits auf die gereizte innenpolitische Stimmungslage angesichts der sich abzeichnenden außenpolitischen Konfliktlinien zwischen Regierung und Opposition, andererseits auf die eindeutige und bedingungslose Prioritätensetzung in Schumachers außen- und deutschlandpolitischem Konzept.

Noch schärfer wurde Schumachers in dieser Prioritätensetzung begründete Tonlage im Vorfeld der Unterzeichnung des EVG- und Deutschlandvertrages, als er am 15. Mai 1952 in einem Interview erklärte, die Sozialdemokraten würden ihren Kampf gegen das Vertragswerk unter dem Motto führen "Wer diesem Generalvertrag zustimmt, hört auf, ein Deutscher zu sein". Diese völlig überzogene Polemik fand ihre sachliche Begründung in zwei Momenten: in der

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Ablehnung des Konzepts, durch Wiederaufrüstung und militärische Drohung die deutsche Einheit zu realisieren, und in der Ablehnung der Notstandsklausel, die die Souveränität der Bundesrepublik massiv einschränkte und den Alliierten im Krisenfalle ermöglichte, die Regierungsgewalt wieder zu übernehmen.

War Schumacher ein hemmungsloser nationalistischer Demagoge, der die SPD vom Trauma des Vorwurfs der "vaterlandslosen Gesellen" befreien wollte, dabei die Zeichen der Zeit verkannte und sich in eine Sackgasse verrannte, aus der die SPD erst mit Godesberg 1959 und mit Herbert Wehners Grundsatzrede im Bundestag 1960 den Ausweg fand? Ohne Zweifel entstand dieser Eindruck in Teilen der öffentlichen Meinung und auch bei den westlichen Alliierten. Schon zwei Wochen vor dem Eklat im Bundestag war der amerikanische Außenminister Dean Acheson zu Gesprächen nach Bonn gekommen und hatte sowohl mit Adenauer wie mit Schumacher geredet. "Acheson verließ Bonn mit der Überzeugung", so hat Hans-Peter Schwarz das Ergebnis resümiert, "daß Adenauer unbedingte Unterstützung verdiene. Von diesem Zeitpunkt an bis in die Anfänge der Kennedy-Administration galt nunmehr die Adenauer-Regierung als Wunschpartner der amerikanischen Deutschlandpolitik. Für den Bundeskanzler war dies ein unschätzbarer Erfolg, für die Opposition ein Desaster."

Der diffuse Verdacht, in der SPD seien viele Nationalisten beheimatet, entwickelte ein erstaunlich langes Leben. In einer völlig anderen Konstellation, aber nicht ohne innere plausible Kontinuität, stufte Henry Kissinger Egon Bahr in der Startphase der neuen Ostpolitik als Nationalisten ein. Er richtete seine Skepsis gegenüber der sozialliberalen neuen Ostpolitik insbesondere auf die Person Egon Bahrs, über den er in seinen Erinnerungen schrieb: "Bahr gehört zwar zur Linken, aber ich hielt ihn vor allem für einen deutschen Nationalisten, der Deutschlands zentrale Lage ausnutzen wollte, um mit beiden Seiten zu feilschen."

Egon Bahr hat in Schumacher - dieser Exkurs sei hier gestattet - eines seiner politischen Vorbilder gesehen, und zwar in dreifacher Hinsicht:

  1. hinsichtlich der selbstbewußten Haltung gegenüber den Besatzungsmächten,
  2. in der Priorität der Wiedervereinigung vor einer - prinzipiell durchaus bejahten - Westintegration,

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  3. im bedingungslosen Kampf gegen die deutschen Kommunisten und ihre Vasallentreue zur Sowjetunion, die eine Wiedervereinigung ernsthaft nicht wollte und verhinderte.

Bahr hat später geäußert, Schumachers Insistieren auf Gleichberechtigung habe ihn zur SPD geführt. In der Tat war dieses Bemühen um Unabhängigkeit bei Schumacher schon frühzeitig sichtbar. Prononciert brachte er seine Haltung, die ja angesichts der Besatzungssituation in Deutschland keineswegs risikolos war, auf die Formel: "Wir deutschen Sozialdemokraten sind nicht britisch und nicht russisch, nicht amerikanisch und nicht französisch. Wir sind die Vertreter des deutschen arbeitenden Volkes und damit der deutschen Nation. Wir sind bestrebt, mit allen internationalen Faktoren im Sinne des Ausgleichs und des Friedens zusammenzuarbeiten, aber wir wollen uns nicht von einem dieser Faktoren ausnutzen lassen."

Haben führende Sozialdemokraten, und Schumacher an ihrer Spitze, somit eine wundersame Mutation vom "vaterlandslosen Gesellen" zur Avantgarde einer mehr oder minder sozialistisch unterfütterten nationalbewußten Partei durchgemacht und somit eine Tradition begründet, an die sich 1990 in moderater Form wieder anknüpfen ließ? Gleich nach der Vereinigung sahen das manche Kommentatoren so. Günter Nenning schrieb im März 1990 in der "Zeit": "Mit seinem unzeitgemäßen gesamtdeutschen Kurs führt Schumacher die SPD unerbittlich in ihre tiefste Wahlniederlage (1949). Gleich nach seinem Tod (1952) erfolgte die Korrektur auf exklusivem Westkurs. Mit hochintelligenter Geschwindigkeit dreht sich die SPD nun wieder von west- auf gesamtdeutsch. Auf dem wendigen Tanker erscheint Kurt Schumacher als Klabautermann."

Den tatsächlichen und vermeintlichen Wendungen des Tankers nachzugehen ist nicht mein Thema. Schumacher verkörpert aber in seiner Person in scharfen Konturen das schwierige und nicht auf einfache Formeln zu bringende Verhältnis von SPD, Nation und Staat, dessen historische Wurzeln weit hinter 1945 zurückreichen. Um Schumachers Politik und sein Verhältnis zur Nation nach 1945 zu verstehen, scheint es sinnvoll, auf zwei Ebenen anzusetzen:

  1. seiner politischen Sozialisation und seinen Erfahrungen in der Weimarer Republik und in der Nazizeit;
  2. seinen gesellschaftspolitischen und außenpolitischen Analysen der Nachkriegskonstellation, die von diesen Erfahrungen wesentlich mitbestimmt wurden.

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2. Schumacher und die deutsche Nation - Sozialisation, Verhaltensweisen, Konzepte

Bestimmte politische Grundüberzeugungen, die den Politiker Schumacher in den Westzonen und in der Bundesrepublik charakterisieren, lassen sich schon frühzeitig in seinen Reden und Schriften finden und weisen eine beachtliche Konstanz auf. Sie können auch mit einigen Stationen seiner Biographie in Verbindung gebracht werden. Beides soll hier knapp angedeutet werden.

Auf Schumachers Prägung durch die Jugend im westpreußischen Culm, dessen Einwohner überwiegend polnisch waren und das 1920 wieder an Polen fiel (Chelmno), ist zu Recht oft hingewiesen worden. Zwar sollte man sich vor allzu geradlinigen Zusammenhängen zwischen Herkunft und politischen Einstellungen hüten, weil Sozialisationsvorgänge viel zu kompliziert sind, als daß sie sich monokausal herleiten ließen. Dennoch kann man eine gewisse "Grenzlandmentalität" unterstellen, die sich in einem deutlicher ausgeprägten Verhältnis zur Nation niederschlug. Diese dezidiert positive Einstellung zum Nationalstaat ist bei Schumacher eine Grundkonstante seines politischen Wirkens geworden. Darüber hinaus mögen diese "Grenzerfahrung" und die erzwungene Übersiedlung seiner Eltern nach Berlin 1920 später zu seiner entschiedenen Ablehnung der Oder-Neiße-Linie beigetragen haben. Diese nationale Loyalität wurde jedoch bei Schumacher frühzeitig überlagert und ergänzt durch seine sozialistischen Überzeugungen. Daß er sich selber ein entsprechendes Dissertationsthema suchte und daran hartnäckig festhielt, obwohl es Schwierigkeiten gab, dafür einen Doktorvater zu finden, ist ein Beleg dafür: "Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie ". Er knüpfte mit diesem Thema bewußt und folgerichtig an eine der beiden nie ganz aufgelösten Traditionen in der SPD an: an Lasalle und an den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein.

Mit seiner Forderung nach einer theoretischen Untermauerung eines positiven Verhältnisses der Sozialdemokratie zu Nation und Staat wollte Schumacher programmatisch nachvollziehen, was die praktische Politik der SPD längst bestimmte, was aber in der politischen Öffentlichkeit auf Grund des nur halbherzigen Abschieds vom "Marxismus als System" und auf Grund der Wirksamkeit der nationalistischen Propaganda gegen die "Novemberparteien" nie wirklich gelang. Zugespitzt: im Kern, wenn auch nicht in der Terminologie, wollte Schumacher auf dieser Ebene des Nations- und

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Staatsverständnisses schon in der Weimarer Republik eine programmatische Wende à la Godesberg durchsetzen.

Gleichwohl verstand sich Schumacher zeitlebens als Marxist. Sein marxistisches Vokabular hat er auch nach 1945 nicht aufgegeben oder gemildert, obwohl ihn von den Kommunisten auf Grund seiner republikanischen und nationalen Überzeugungen Welten trennten. Eben diese Terminologie brachte Julius Leber in seinen Aufzeichnungen von 1933 dazu, ihn einen "verbissenen doktrinären Kaffeehaus-Marxisten" zu nennen. Dies war ohne Zweifel völlig schief, gab aber offensichtlich einen Eindruck wieder, der sich für manche auch nach 1945 wieder einstellte. Er hielt fest am Marxismus als Methode, kritisierte aber den "Vulgärmarxismus" Kautskyscher Prägung. Das Festhalten am Klassenkampf-Axiom (ohne die deterministischen Elemente wie die Krisen- und Verelendungstheorie) widersprach in seinen Augen nicht der Forderung nach programmatischer Modernisierung der Partei. Schon in seiner Zeit als Redakteur der "Schwäbischen Tagwacht" engagierte er sich nicht nur für die Stuttgarter SPD, sondern versuchte, die Programmdebatten der Gesamtpartei zu beeinflussen. Ein positives Verhältnis zum Staat und zur Landesverteidigung gehörte vorrangig zu einer solchen Erneuerung. Schumacher artikulierte damit lediglich Strömungen, die in der SPD vorhanden waren, aber sich gegen das Gewicht der Traditionalisten nur schwer durchsetzen konnten.

Ein anderes Thema seiner Stuttgarter Zeit war der Kampf gegen partikularistische Tendenzen. Das Deutsche Reich und die Weimarer Republik bildeten für ihn Stationen auf dem Weg zum zentralisierten Einheitsstaat, dessen Schattenseiten ihm wohl erst durch den Nationalsozialismus voll zum Bewußtsein gekommen sein mögen. Von dieser Vorstellung mußte er nicht zuletzt unter dem Druck der Alliierten die einschneidendsten Abstriche machen.

Schumacher war Republikaner mit Leib und Seele, und daraus resultierte angesichts der schwierigen Existenzbedingungen der Weimarer Republik ein sehr kämpferisches Demokratieverständnis. Seine Funktion als Stuttgarter Führer des "Reichsbanners" war eine der Konsequenzen aus dieser Haltung. Hier wird bereits sein politischer "Zweifronten-Kampf" sichtbar, der auch nach 1945 sein politisches Verhalten bestimmte. In seiner Rede "Kommunismus, Faschismus, Reichsbanner" von 1930 bezeichnete er die Kommunisten polemisch als "nur rotlackierte Doppelausgabe der Nationalsozialisten", weil beide der Haß gegen die Demokratie und die Vorliebe für Gewalt charakterisiere. Gleichwohl verteilte er die

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Gewichte unterschiedlich und schloß etwa politische Zweckbündnisse mit der KPD noch nicht völlig aus - so bei der Reichspräsidentenwahl 1932, wo er sich vergeblich bemühte, die KPD von der Aufstellung eines eigenen Kandidaten abzuhalten.

Wie untrennbar Nation und Demokratie für Schumacher miteinander verbunden waren, zeigte sich noch einmal in seiner großen polemischen Stegreifrede im Reichstag am 23. Februar 1932. Sie war kaum zufällig ausgelöst worden durch Goebbels' Vorwurf, die SPD sei eine "Partei der Deserteure", die nun Hindenburgs Kandidatur unterstütze. Kein Weimarer Politiker hat so unverblümt im Parlament die Nazis angegriffen und dabei die historische Wahrheit so auf seiner Seite gehabt wie Schumacher, als er Goebbels entgegnete: "Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen [...] Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, daß ihm zum erstenmal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist." Die Nationalsozialisten haben ihm diese Attacke nie vergessen.

Psychologisch mögen die unerschütterliche Überzeugung von der Richtigkeit seiner Ablehnung aller Kompromisse mit den Nationalsozialisten und sein ebenso dezidiertes Engagement für die Republik, die Nation und den Sozialismus dazu beigetragen haben, die zehnjährige KZ-Haft lebend zu überstehen. Ohne die Solidarität seiner Mitgefangenen - darunter auch ein Kommunist, der dem einarmigen Häftling immer wieder half - wäre dieses Überleben kaum möglich gewesen.

Nach der Befreiung durch amerikanische Truppen bemühte er sich schon vor der militärischen Kapitulation, politisch wieder aktiv zu werden und die Reste der Sozialdemokratie um sich zu sammeln. Aus seiner Rede vor sozialdemokratischen Funktionären Hannovers "Wir verzweifeln nicht!" vom 6. Mai 1945 und aus seiner umfänglichen Denkschrift vom August 1945 "Politische Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren" lassen sich bereits wesentliche Grundlinien seiner Politik in den Westzonen und der späteren Bundesrepublik ablesen. Seine schonungslose, marxistisch inspirierte, außerordentlich emotionsgeladene Rede diente primär der Analyse der Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus und nahm niemanden von der Kritik aus. Indirekt formulierte er aber bereits den politischen Führungsanspruch der SPD, weil sie "die einzige Partei in Deutschland gewesen ist, die an der durch den

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Ablauf der Ereignisse als richtig erwiesenen Linie von Demokratie und Frieden unverrückbar festgehalten hat."

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3. Deutsche Nation, Westorientierung und Wiedervereinigung

Die "Politischen Richtlinien" vom August 1945 erörtern zwar entsprechend ihrer Funktion für die innerparteiliche Orientierung primär Fragen des programmatischen und organisatorischen Aufbaus und des Verhältnisses zur KPD, in den beiden Abschnitten "Die Voraussetzungen sozialdemokratischer Politik" und "Die Sozialdemokratie und das Reich" wird aber schon deutlich, wie nachdrücklich Schumacher auch für eine Übergangsphase der Besatzungszeit an der Einheit des Nationalstaats festhielt. Dabei schreckte er zumindest vor einer indirekten und noch verhalten formulierten Kritik an den Besatzungsmächten nicht zurück: "Wir dürfen bei aller Loyalität nicht ängstlich werden, sondern müssen das Recht stets für uns in Anspruch nehmen, bei jeder Gelegenheit auch gegenüber den Siegern unsere Meinung zu sagen." Drei Themen waren ihm besonders wichtig bei einer solchen Kritik:

  1. Die russische Zone sei zu weit nach Westen verlagert, und die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen könne sich als gefährlich für den Bestand des Reiches erweisen.
  2. Die Ostgrenze sei ebenfalls viel zu weit nach Westen gerückt. Rumpfdeutschland sei so in unerträglicher Weise überbevölkert und mit nicht lösbaren sozialen Problemen konfrontiert. "Die endgültige Festlegung der Reichsgrenzen muß mehr Verständnis für die Realitäten des obersten Kriegszieles der Vereinten Nationen und der Friedensziele der deutschen Nazifeinde zeigen."
  3. Demontagen und Reparationen führten zur wirtschaftlichen Ausblutung und sozialen Verelendung Deutschlands. Die Kardinalfehler von 1918 sollten als Warnung dienen.

Über diese kritischen Einwände gegenüber der alliierten Politik hinaus formulierte Schumacher mit großer Selbstverständlichkeit das "Recht der nationalen Selbstbehauptung", für das ein eigener Staat unverzichtbar sei. Charakteristischerweise hielt er "Idee und Tatsache des Deutschen Reiches nicht nur nationalpolitisch, sondern auch klassenpolitisch" für eine Notwendigkeit, weil der Nationalstaat die Basis für den "politischen und wirtschaftlichen Befreiungskampf bilde. "Wir bekennen uns als Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit allem Nachdruck zu einem einheitlichen Deutschen Reich, aber wir denken nicht daran, das bankrotte Preußentum mit Hammer

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und Sichel wiederentstehen zu lassen, sondern wir haben eine konstruktive Idee, wie aus den heutigen Zuständen heraus Deutschland wieder einmal werden soll," erklärte er auf dem ersten Parteitag der SPD im Mai 1946.

Vehement griff er auch alle Separationsbestrebungen an, weil sie das unverzichtbare Ziel einer zentralen Reichsgewalt in Frage stellten. Anders als Adenauer, der im Oktober 1945 (in seinem Brief an den Duisburger Oberbürgermeister) bereits von der faktischen Zweiteilung Deutschlands in die östliche und die westlichen Zonen ausging und daraus sein Konzept der Westintegration entwickelte, hielt Schumacher 1945/46 noch strikt an der Reichseinheit fest. Trotz seiner unzweideutig positiven Einstellung zu den Demokratien des Westens lag ihm jedoch daran, eine politische Option für den Westen nicht als antirussische Stellungnahme erscheinen zu lassen. Daher plädierte er in dieser Phase für eine "Politik der Neutralität, des Ausgleichs und des Gleichgewichts", um so einen Rahmen zu schaffen, in den sich ein einheitliches, demokratisches und sozialistisches Deutschland einordnen könne. Diese eher experimentell ausgerichteten Gedankengänge waren zunächst noch an dem klassischen Konzept eines europäischen Gleichgewichtssystems ausgerichtet, hatten aber nichts mit Jakob Kaisers Brückentheorie zu tun, die Schumacher dezidiert ablehnte. Seine nachdrückliche Ablehnung einer Fusion von SPD und KPD erhielt in diesem Zusammenhang auch ihre außenpolitische Komponente, weil in seinen Augen im Sinne dieses Gleichgewichtskonzepts die Zustimmung zur Verschmelzung bereits eine Option für die Sowjetunion bedeutet hätte.

Seit dem Sommer 1946 geriet dieses Konzept durch die sich verhärtenden Fronten zwischen Ost und West jedoch immer stärker ins Wanken. Da eine schnelle Regelung der deutschen Frage nicht absehbar schien, waren Zwischenlösungen gefragt. Die Bizone sollte ökonomisch so attraktiv gestaltet werden, "daß von ihr ein unwiderstehlicher Magnetismus auf andere Zonen ausgeht". "Wenn wir diese Bizone wirtschaftlich stark haben wollen," erklärte Schumacher 1947 auf dem Nürnberger Parteitag, "dann nicht nur mit Rücksicht auf das deutsche Volk in den Westzonen, dann auch - ja in erster Linie - mit Rücksicht auf das deutsche Volk der Ostzone. Denn eine Zonenvereinigung ist wirtschaftlich nur denkbar und möglich, wenn der Westen stark genug ist, das ökonomische Vakuum der Ostzone bei einer Vereinigung auch auszufüllen."

Ein Jahr später erweiterte er dieses Konzept über Deutschland hinaus auch auf Europa: "Die magnetische Kraft des Westens soll auf

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den Osten Deutschlands und auf die östlichen und südöstlichen Länder überhaupt anziehend wirken."

Formal deckte sich dieses Konzept mit dem Adenauers. Die Differenz lag jedoch in der sozialen Ausgestaltung und in der eindeutigen Priorität nationaler Zielsetzungen. Schumacher war im wörtlichen (allerdings leicht mißverständlichen) Sinn ein nationaler Sozialist.

Das Dilemma der politischen Konzeption Schumachers, mit der er sich von Jakob Kaisers Brückenkonzept von vornherein entschieden absetzte, sich aber auch gegen Adenauers Politik der bedingungslosen Westintegration richtete, wurde 1949 deutlich und hat in den 50er Jahren zu widersprüchlichen und schwer vermittelbaren außenpolitischen Haltungen der SPD-Opposition beigetragen. Schumacher hielt einen Weg zwischen Ost und West für die "verhängnisvollste Illusion der Gegenwart". Insofern war er - nach dem Abschied von vagen Neutralisierungsvorstellungen der ersten Nachkriegsjahre - ein unzweideutiger Anhänger der Westoption. Willy Albrecht stellt sogar Schumachers Kampf gegen das Ruhrstatut und gegen die überspitzten Föderalisierungsvorstellungen der Westalliierten zum Grundgesetz in diesen Kontext. Die Diskriminierung Deutschlands durch das Ruhrstatut gefährdete demnach die Westorientierung der Bundesrepublik, und nur ein Grundgesetz mit nicht zu schwacher Zentralgewalt sicherte die magnetische Anziehungskraft eines Weststaates. Es gibt Passagen bei Schumacher, die sich so deuten lassen. So schrieb er in einem Privatbrief an Edith Bade im April 1949 pointiert: "Mit dem Ruhrstatut öffnen die Westmächte der politischen und psychologischen Infiltration der Kommunisten alle Türen und Fenster. Die lügnerische und doch so eindrucksvolle Formel der Sowjets, daß sie allein den sozialen Progress und die Angelsachsen den kapitalistischen Regress verkörpern, könnte nicht besser bewahrheitet werden [...] Wir müssen in Deutschland die Demokratie auch gegen die Fehler der Besatzungsmächte verteidigen."

Gleichwohl scheint mir Albrechts Interpretation etwas gewaltsam. Das Hauptmotiv Schumachers dürfte in dem Willen zur nationalen Selbstbehauptung und im Anspruch auf Gleichberechtigung gelegen haben. Der zuletzt zitierte Satz des Briefes macht das sehr deutlich. Beides sind Konstanten in seinem politischen Denken, die sich immer wieder in wechselnden Konstellationen beobachten lassen. Daß er sich in der Frage einer Stärkung des Bundes bei der Finanzverfassung gegen den alliierten Einspruch durchgesetzt hat, ist sicherlich einerseits seiner Entschlossenheit zum politischen Konflikt zu verdanken,

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mit der er dann auch die sozialdemokratischen Vertreter im Parlamentarischen Rat auf diese Position festlegte (gegen Bedenken von Ernst Reuter und Wilhelm Kaisen) mit der Aufforderung, "jetzt heiße es fest bleiben". Zumindest die Briten waren jedoch andererseits bereit, im Konfliktfall Konzessionen zu machen. Angesichts der außenpolitisch dramatischen Situation, die die Berlin-Blockade verursacht hatte, lag ein solches Nachgeben auch durchaus im westlichen Interesse.

Der prinzipielle strategische Konflikt zwischen Regierung und Opposition, der bei dem Petersberger Abkommen offenkundig geworden war, bestimmte dann in zunehmender Schärfe in den folgenden Jahren die Diskussion - trotz zeitweiliger Übereinstimmung in wichtigen deutschlandpolitischen Fragen, etwa in der Ablehnung der Grotewohl-Initiative - für einen "Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat". Waldemar Besson hat den Kern dieses Konflikts auf die griffige Formel gebracht: Adenauer wollte die Westintegration unter westeuropäischem Vorbehalt, Schumacher wollte sie mit gesamtdeutschem Vorbehalt. Darin lag sowohl ein taktisches wie ein inhaltliches Moment. Anders als es in der zeitgenössischen Öffentlichkeit häufig wahrgenommen wurde, stand nicht der Gegensatz von Westintegration versus Neutralität im Mittelpunkt. Vielmehr wird hier der prinzipielle Unterschied zwischen Schumacher und Adenauer im Verhältnis zu Nation und Wiedervereinigung deutlich. Für Adenauer war Westintegration ein Ziel sui generis, für Schumacher dagegen war sie dem vorrangigen Ziel der Wiedervereinigung deutlich untergeordnet. In einem Aufruf zum l. Mai 1952 schrieb er: "Uns ist in der Sache die deutsche Einheit bedeutsamer als die Integration eines Teils Deutschlands in ein internationales System." Und ähnlich hieß es in seinem letzten Interview am 20. August 1952: "Die Teilung Deutschlands ist die große Kraftquelle der kommunistischen Politik in Europa. Die Wiedervereinigung ist ein Ziel, das nach sozialdemokratischer Meinung vordringlicher und für die Befriedung und die Neuordnung Europas wichtiger ist als jede Form der Integration eines Teils Deutschlands mit anderen Ländern Europas."

Auf drei außenpolitischen Themenfeldern läßt sich diese Priorität in den frühen 50er Jahren verfolgen:

  1. in der Saar-Frage, die mit dem Problem der Oder-Neiße-Linie verbunden war;
  2. beim Schuman-Plan und der Montan-Union;
  3. bei dem EVG- und Deutschlandvertrag.

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l. Die Saar-Frage wurde 1950 in neuer Form akut, als es um den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat ging. Zwar war Schumachers positive Einstellung zum Zusammenschluß Europas nicht nur politische Rhetorik. "Für die deutsche Sozialdemokratie kann ich sagen", erklärte er in einem Interview, "daß sie an dem Prinzip, Europa über den Nationalstaat zu stellen, festhalten und dafür politisch und propagandistisch kämpfen wird." Dieses Europa aber sollte aus gleichberechtigten Nationalstaaten bestehen. Es sollte auf der "Grundlage der europäischen Solidarität und der europäischen Kameradschaft gleicher und freier Völker" fußen und nicht als "Sieger-Besiegte-Konstruktion" geschaffen werden.

Eben dies schien Schumacher beim Europarat nicht gewährleistet zu sein, weil der Beitritt des mit Frankreich verbundenen Saarlandes in einem von ihm abgelehnten Junktim zum Beitritt der Bundesrepublik stand.

Neben dem prinzipiellen Anspruch auf deutsche Selbstbestimmung im Saarland lag der scharfen und auch von vielen Parteifreunden nicht geteilten Ablehnung des Beitritts zum Europarat ein weiteres wichtiges Motiv zugrunde: die Konsequenzen, die sich daraus für das Oder-Neiße-Problem ergeben würden. In der Hinnahme des Saarbeitritts zum Europarat sah Schumacher eine "verhängnisvolle Rückwirkung auf die juristisch-moralische Position der Deutschen beim Kampf gegen die Oder-Neiße-Linie [...] Diese Anerkennung könnte gefährlich, wenn nicht tödlich wirken gegen die Rückkehr und den Heimatanspruch der Ostvertriebenen." Auf dem Gründungskongreß des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im September 1946 bekräftigte er, "daß die Oder-Neiße-Grenze nationalpolitisch und ernährungspolitisch eine Unmöglichkeit ist. Dieses verwüstete Niemandsland, auf dem kein Halm und keine Ähre wächst, das die Polen weder volklich noch politisch noch organisch auszugestalten in der Lage sind, ist das Terrain, um das wir kämpfen."

Trotz dieser dezidierten Ablehnung mit starken Worten ist auffällig, daß die Oder-Neiße-Grenze in seinen Reden nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zu vermuten ist, daß er hier Spielraum bei Verhandlungen über die Wiedervereinigung sah.

Die SPD beteiligte sich, nachdem die politische Entscheidung im Bundestag gefallen war, am Europarat, um wenigstens ihre Stimme und ihre Argumente einbringen zu können. Prinzipielle Ablehnung und praktische Kooperation erschienen insofern nicht als Widerspruch.

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2. Das Saar-Problem wurde ein wenig entschärft, als die Verhandlungen um den Schuman-Plan und die Montan-Union begannen. Eine Fusion der Schwerindustrie der sechs Länder räumte indirekt die Sonderrolle der Saar-Industrie beiseite. Schumachers Einstellung zum Schuman-Plan war zunächst auch grundsätzlich positiv. Daß es hier dann trotzdem zum harten Konflikt mit der Regierung kam, hatte zwei Gründe: Zum einen sollten das Ruhrstatut ausdrücklich abgeschafft und eine demokratische Basis für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hergestellt werden. Zum anderen hatte in seinen Augen dieses Kleineuropa gewissermaßen die falsche Farbe. Hier rebellierte der Sozialist Schumacher gegen den Europäer. "Der Schuman-Plan ist", erklärte er auf einer Konferenz der sozialen Arbeitsgemeinschaften der SPD 1951, "da er nur sechs Länder umfaßt, nicht ein europäischer Plan, sondern ein regionaler Spezialpakt innerhalb Europas. Er umfaßt die Länder eines gewissen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Typs. Dieser Typ ist konservativ und klerikal, er ist kapitalistisch und kartellistisch. Er ist bei der großen Auseinandersetzung der Prinzipien restaurativ und liegt nicht im Sinne der modernen Arbeiterbewegung." Hier spielte nicht zuletzt der antikommunistische Aspekt wiederum eine große Rolle. Das wird deutlich in dem mit Beifall bedachten Satz: "Ich habe Amerikanern privat gesagt: der Schuman-Plan ist die Geburtsurkunde einer neuen kommunistischen Bewegung, und ihr Amerikaner seid die Standesbeamten, die diese Urkunde ausstellen." Schumacher plagte offenbar - ähnlich wie beim Ruhr-Statut - die Sorge, die KPD könne aus dieser Form von Westintegration nationales Kapital schlagen.

Mit dieser sowohl aus nationalpolitischen wie gesellschaftspolitischen Überlegungen gespeisten Ablehnung der Montan-Union isolierte sich Schumacher nicht nur von den deutschen Gewerkschaften, sondern auch von den übrigen sozialdemokratischen Parteien Europas.

3. Der Konflikt mit Adenauer erreichte seinen Höhepunkt in der Auseinandersetzung um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und den Deutschlandvertrag 1952. Schumacher stand dem Pazifismus fern, lehnte aber eine deutsche Wiederaufrüstung zu diesem Zeitpunkt bereits konsequent ab. Dafür gab es mehrere Gründe, deren Gewicht je nach Konstellation unterschiedlich ausfiel.

a) Das Magnetisierungs-Konzept zielte primär auf den inneren sozialen Ausbau Westdeutschlands. In einer "konsequent demokratischen und sozialen Politik in Westdeutschland" sah er den besten Schutz vor dem "östlichen Totalitarismus".

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b) Deutschland sollte im Falle einer militärischen Auseinandersetzung nicht zum Schlachtfeld werden. "Die deutsche militärische Leistung", erklärte er auf einer Rede in Stuttgart im September 1950, "hat dann einen Sinn, wenn die Weltdemokratie [d. h. die westlichen Demokratien; C. K.] Deutschland offensiv nach dem Osten verteidigt, das heißt Deutschland vor den schwersten Zerstörungen bewahren und als Antwort auf einen russischen Angriff östlich von Deutschland die Kriegsentscheidung suchen will." Eine deutsche Wiederaufrüstung wurde somit nicht prinzipiell ausgeschlossen, aber von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht.

c) Den Pleven-Plan, aus dem die EVG hervorging, lehnte Schumacher zum einen ab, weil die deutsche Gleichberechtigung in einer Europa-Armee nicht gesichert sei. Zum anderen würde die Wiederaufrüstung, so ein zentrales Argument, die Eskalation der Rüstung und die Verhärtung der Fronten nur verstärken. Sie sei kein Hebel zur Wiedervereinigung. "Der Jammer und das Elend an der Zonengrenze hören dann auf, sagte er in einer Rundfunkansprache 1952, "wenn die gesamtdeutsche Lösung gefunden ist. Sie läßt sich mit militärischen Machtmitteln nicht finden, denn jede Verstärkung des militärischen Potentials auf der einen Seite löst die entsprechenden Vorgänge auf der anderen Seite aus. Das Stärkeverhältnis zwischen Ost und West bleibt deswegen immer dasselbe. Das ist einer der wichtigsten Gründe, aus dem die SPD gegen die sogenannte Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist."

Die Ablehnung einer politischen Neutralisierung Deutschlands geriet ins Wanken, als Stalin mit seiner Note am 10. März 1952 eben diese als Preis für die Wiedervereinigung anbot. Schumacher blieb zwar sehr skeptisch gegenüber den Motiven und Zielen der Sowjetunion, forderte jedoch eine gründliche Prüfung und vor allem ein verstärktes Insistieren auf Vier-Mächte-Verhandlungen. "Die eigentliche Brisanz der sozialdemokratischen Kommentare [zur Stalin-Note] lag jedoch darin", hat Kurt Klotzbach festgestellt, "daß die Partei nun offensichtlich bereit war, unter Umständen auch eine Neutralisierung Gesamtdeutschlands hinzunehmen, während sie dieser internationalen Statusregelung bis ungefähr Herbst 1951 ausgewichen oder skeptisch-ablehnend begegnet war, wobei nicht zu verkennen ist, daß die vorangegangenen parteioffiziellen Äußerungen letzte Klarheit zu diesem Punkt nicht hatten bringen können." Dies betraf auch Schumachers Position. Er hatte auf der Jahreshauptversammlung des SPD-Ortsvereins Hannover 1951 die "politische Neutralisierung eines geeinten Deutschlands" nicht völlig ausgeschlossen, jedoch darauf

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hingewiesen, daß eine entsprechende Übereinkunft nicht in der Macht der Deutschen stehe und daß eine solche Neutralisierung den Zwang "zur höchsten Wachsamkeit und Anspannung" der demokratischen Kräfte bedeute.

Dies war in der Tat des Pudels Kern. Adenauer hat die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Neutralisierung nicht nur nicht gewollt, sondern gezielt aus tiefer Überzeugung hintertrieben. Neutralisierung bedeutete für Adenauer Bolschewisierung. Schumacher dagegen hat Neutralität auch nicht gewollt, blieb skeptisch, hat sie jedoch nicht prinzipiell ausgeschlossen, wenn sie unter bestimmten Bedingungen und mit entsprechenden Sicherungen der Preis für die Einheit Deutschlands sein sollte. Nach seinem Tod wurden diese Tendenzen in der SPD stärker, obwohl sich der Kurs nicht grundsätzlich änderte.

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4. Resümierende Überlegungen

Aus Schumachers doppelter Loyalität zur deutschen Nation und zum demokratischen Sozialismus - die Gewichte dieser beiden zentralen Orientierungsgrößen waren stets ziemlich gleichmäßig verteilt - läßt sich das Grundgerüst seiner politischen Überlegungen und seiner praktischen Aktionen vor und nach 1945 konsequent und überzeugend ableiten. Diese innere Konsequenz macht einen wesentlichen Teil der Faszination der historischen Gestalt des ersten deutschen Oppositionsführers aus. Mit ungewöhnlichem Temperament, zäher Entschlossenheit und polemischem Talent hat er in allen politischen Konstellationen an diesen Grundüberzeugungen festgehalten, öffentlich und mit wenig taktischer Rücksicht für sie gekämpft und sie in praktische Politik umzusetzen versucht. Die "preußische Revolverschnauze" wie man ihn als Stuttgarter Reichsbannerführer auch tituliert hat, kuschte vor keinem innen- und außenpolitischen Gegner, machte es aber auch den Anhängern besonders in der Nachkriegszeit nicht immer leicht.

Den Vorwurf, den man ihm vor allem nach dem Desaster des Nationalsozialismus machte, er sei ein Nationalist, wies er zurück, insistierte aber mit großem Selbstbewußtsein auf der Legitimität einer nationalen Politik. "Unerträglich aber ist die Methode, jeden Versuch deutscher Selbstbehauptung als Nationalismus verdächtigen zu wollen," erklärte er im Sommer 1951. "Man kann nicht dem deutschen Volk als einzigem Volk in der Welt das Recht verwehren, seine Interessen zu wahren. Ganz besonders dann, wenn viele Zumu-

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tungen aus hemmungslosem Nationalegoismus anderer Völker entstehen."

Sicher war Schumacher nicht die SPD. Aber in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands hat es zu keinem Zeitpunkt eine so dominante und unumstrittene politische Führung gegeben wie mit Schumacher. Insofern war er in der Tat der markante Gegenspieler zu Adenauer und seiner Union, die als Partei bis in die 60er Jahre ein Kanzlerwahlverein blieb. Die Nation war für Schumacher an den Staat gebunden, und um dessen politisch-theoretische und emotionale Anerkennung in der sozialistischen Arbeiterschaft kämpfte er, um damit einen Beitrag zur Modernisierung der Sozialdemokratie zu leisten. Der Staat war für ihn nur denkbar als Demokratie. Dem Nationalsozialismus sprach er jeden legitimen Nationalismus ab, forderte ihn im positiven Sinne um so nachdrücklicher für die demokratische Arbeiterbewegung, deren politische Führung für ihn die logische Konsequenz aus dem Fiasko des Dritten Reiches sein sollte.

Nation war für ihn "gefühlte Kulturgemeinschaft", das heißt eine durch starke emotionale Faktoren bestimmte Gemeinschaft, die sich von Staat und Gesellschaft unterschied, aber vielfach mit beiden verbunden war. Sie bildete eine Barriere gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung, dessen Vasallen in der SED er das Adjektiv deutsch absprach, so daß zeitweilig die SED in der Parteipublizistik nur als SEP geführt wurde.

Wenn "Historisierung" und nicht kurzatmige Abrechnungspolemik die zeitgemäße Forderung im wissenschaftlichen Umgang mit der DDR-Geschichte ist, dann gibt es wenig Grund, von heute aus an Schumachers Konzepten umstandslos anzuknüpfen und seine Vorstellungen neu aufzuwerten. Die nach 1990 publizistisch geführte Debatte um die Deutschlandpolitik und die Richtigkeit der Magnettheorie - wie zumindest für Adenauer geschehen - ist in meinen Augen völlig unhistorisch, verkürzt und schief.

Die Erörterung der Gründe von Schumachers Scheitern gehört auch heute zu einer gerechten historischen Einordnung und Würdigung. Zeitliche Distanz kann und sollte zur Versachlichung und Differenzierung des Urteils beitragen. Insofern könnte man dafür plädieren, wie es Erhard Eppler in einer bemerkenswerten Bundestagsrede zum 17. Juni im Jahre 1989 getan hat, die außen- und deutschlandpolitischen Grundentscheidungen der 50er und 70er Jahre vom Odium der Illusion oder des nationalen Verrats zu befreien und darin legitime, aber natürlich kritisierbare Optionen zu sehen. In diesem Sinne hat Schumacher nicht einfach Recht behalten.

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Eine Kritik an Schumachers politischen Positionen und Strategien kommt an drei Momenten schwerlich vorbei:

1. Er teilte mit der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie die Dämonisierung Rußlands und später der Sowjetunion. Sie läßt sich historisch erklären, war aber überdimensioniert. Gegenüber der Warnung vor ideologisch begündetem Expansionismus der Sowjetunion findet sich bei Schumacher erstaunlich wenig Verständnis für legitime Sicherheitsinteressen dieses Staates, der wie kein anderer unter deutscher Expansion gelitten und die Hauptlast des Krieges getragen hatte.

2. Schumacher scheint wenig über die agitatorische Wirksamkeit oder Unwirksamkeit nationalistischer Parolen nachgedacht zu haben. Dazu waren ihm die Nation und der Nationalstaat viel zu selbstverständliche, emotional geprägte Größen. Dies traf aber wohl auf viele zu. Ein Vertreter des linken Flügels der SPD wie Theo Pirker hat eine solche Position rückschauend 1985 treffend so charakterisiert: "Dieses Reich war für beinahe alle Deutschen mehr als der Nationalstaat, mehr als die politische Einheit - es war Voraussetzung und Ziel der Kulturnation der Deutschen, und für die Republikaner, die Liberalen, die Sozialisten noch bei weitem mehr: die Erfüllung aller Hoffnungen der Revolten und Revolutionen in der deutschen Geschichte [...] Die Linke in Deutschland hat sich theoretisch immer sehr schwer getan mit dem Patriotismus. Praktisch jedoch nicht."

Insofern hat Schumacher mit seiner betont nationalen Agitation zwar einerseits große Teile der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten zumindest zeitweilig an die SPD binden können. Nur so sind meines Erachtens die ersten Wahlergebnisse in Flächenstaaten wie Schleswig-Holstein und Niedersachsen erklärbar. Er hat als kämpferischer, national bewußter Sozialist darüber hinaus auch Teile der desillusionierten Jugend auf diesem Weg gewinnen können, wie Everhart Holtmann in seiner Studie über Unna-Kamen gezeigt hat. (Wie weit dieses Beispiel generalisierbar ist, bleibt allerdings noch offen.) Letztlich hat Schumacher jedoch sowohl mit seiner nationalen Agitation wie mit seiner gesellschaftspolitischen Analyse der deutschen Mittelschichten, die für einen sozialistischen Gesellschaftsumbau gewonnen werden sollten, falsch gelegen. "Europa" besaß gerade auf Grund seines vagen visionären Charakters größere Ausstrahlungskraft als die Nation, und für einen sozialistischen Aufbau waren trotz diffuser linker Stimmungslagen nur wenige bereit, aktiv zu kämpfen. Insofern erwies sich Adenauers Prognose im

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Sommer 1946 als richtiger: "Mit dem Wort Sozialismus gewinnen wir fünf Menschen und zwanzig laufen weg."

Daß Schumacher mit seiner unnachgiebigen Priorität für Nation und Wiedervereinigung scheiterte, schränkt die Legitimität seiner Position nicht ein, auch wenn die polemische Schärfe der Sache kaum dienlich war. Ein Anknüpfungspunkt für die Demonstration nationaler Zuverlässigkeit der gesamtdeutschen SPD nach 1990 ergibt sich daraus jedoch keineswegs und ist auch nicht von Nöten.

3. Zu den politischen Schwächen, die als moralische Stärke erscheinen mögen, gehört Schumachers Überschätzung deutscher Handlungs- und Einflußmöglichkeiten. Mit dem guten Gewissen des KZ-Opfers, das keinerlei moralische Minderwertigkeitskomplexe haben mußte, forderte er Gleichberechtigung mit einer Konsequenz und Lautstärke, die dem Ausland wenige Jahre nach Kriegsende als nationalistische Unverschämtheit erscheinen mußte. Trotz aller Wiedervereinigungsbeteuerungen der Besatzungsmächte stieß auch eine sozialistisch reformierte deutsche Nation (dazu noch in einem Staat) bei ihnen auf wenig Gegenliebe. Schumacher hat hier den Kredit seiner Partei in der Welt wohl doch erheblich überschätzt.

Überschätzt hat er aber auch die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, sich für eine solche sozialistisch reformierte Nation wirklich zu engagieren. Das Geheimnis der erfolgreichen, vergleichsweise reibungslos verlaufenen Westintegration war ihr doppeltes Sicherheitsversprechen: Außenpolitisch versprach sie wirksamen Schutz vor der Drohung aus dem Osten, innenpolitisch schien die sozial ungerechte, aber prosperierende soziale Marktwirtschaft an eben diese Option für den Westen gebunden zu sein. Sie vermittelte eine Aufstiegsperspektive, die in einem tief verunsicherten Volk offensichtlich wichtiger war als eine erneute Orientierung an dem durch seinen schaurigen Mißbrauch diskreditierten Nationalstaatsgedanken. Wiedervereinigung wurde damit zu einer zweit- oder drittrangigen Sorge. Selbst die Ablehnung der Wiederaufrüstung war nicht wirklich in politischen Überzeugungen begründet, sondern entsprach eher diffusen Ohne-Mich-Haltungen. Sie war daher für Adenauer überwindbar, ohne daß Schumacher andererseits politisches Kapital aus dieser Stimmung schlagen konnte.

Die Wahrnehmung Schumachers und der SPD war sicher anders als die Intentionen seiner Politik. Für Erfolg und Mißerfolg bleibt aber die Perzeption entscheidend. Schumachers starre Fixierung auf Wiedervereinigung, seine letztlich sterile, unnachgiebige Konfrontation in der Westpolitik erleichterte es dem politischen Gegner, die

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SPD als ewigen Neinsager hinzustellen. Schumacher hat diese Linie mit der ihm eigenen Härte in einer wesentlich von ihm geprägten Aufbausituation nach 1945 durchgesetzt. Innerparteiliche Korrektive waren so kaum möglich. Den Schock der Wahlniederlage von 1953 hat er nicht mehr erlebt. Dieser wurde zum Ausgangspunkt einer ersten Parteireform, der nach dem Desaster von 1957 schließlich Godesberg folgte.

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Zur Diskussion des Referats von Christoph Kleßmann

In dieser Diskussion wurde die wohl grundlegendste Kritik an Schumacher während des Kolloquiums artikuliert: "Er paßt vielleicht in die unmittelbare Nachkriegszeit, verkörpert aber einen Politikertypus, der sich in den 50er Jahren überlebt: Er ist ein Gesinnungsethiker, der stark prinzipienorientiert ist, seine pragmatischen Fähigkeiten und seine Fähigkeiten zum Kompromiß sind begrenzt, er hat wenig taktisches Geschick in bestimmten Fragen [...] Er ist ein Mann, der das Entweder-Oder sehr scharf profiliert. [...] Er treibt seine Partei in eine scharfe Polarisierung auf vielen Feldern, außen- wie innenpolitisch, er treibt sie auch in eine zehn Jahre dauernde Isolierung, und es bedurfte dann viel, viel Arbeit in den späten 50er, frühen 60er Jahren, diese Isolierung zu überwinden." (Klaus Schönhoven)

Verschiedene Diskussionsredner betonten aus der Rückschau oder aufgrund nachträglicher Analyse die negative Binnen- und Außenwirkung bzw. abschreckende, zum Teil aber auch imponierende und Anklang findende Wirkung (Heinz Westphal) der nationalen, auch als nationalistisch empfundenen Rhetorik Schumachers und sein mangelndes Gespür für die Sicherheitsinteressen nicht nur der UdSSR (Christoph Kleßmann), sondern auch der Westmächte, etwa Frankreichs. Verwiesen wurde z.B. auf den Eindruck, den Schumachers Verdikt gegen Adenauer im Bundestag im November 1949 "Der Bundeskanzler der Alliierten" im Ausland gemacht habe. Dieses Verdikt habe in einem Gespräch zwischen dem sozialistischen französischen Staatspräsidenten Vincent Auriol und André François-Poncet zu der Charakterisierung Schumachers als "Hitler de gauche" geführt. Schumacher habe durch seine aggressive Rhetorik letztlich den Kredit der SPD verspielt. Bei aller Kritik etwa Frankreichs an Adenauer sei dem Ausland klar gewesen, Schumacher und die SPD dürften nicht an die Macht kommen (Ulrich Lappenküper).

Relativierend wurde darauf hingewiesen, Schumacher habe sicher bei Begegnungen mit François-Poncet nicht vergessen können, daß letzterer als Botschafter in Berlin mit Hitler auf einem Sofa gesessen habe, während er, Schumacher, im KZ Dachau gesessen habe (Manfred Rexin). Die Übertragung seiner eigenen, im Widerstand bewiesenen moralischen Integrität auf das gesamte deutsche Volk, dessen Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus er doch hätte kennen müssen, und der aus dieser Integrität abgeleitete Anspruch auf sofortige Gleichberechtigung der Deutschen unter den Völkern muteten im Rückblick fast unverständlich an, da Schumacher doch die

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deutschen Verbrechen so hautnah erlebt habe und aus seiner Faschismus-Analyse andere Schlüsse hätte ziehen müssen.

Auch wenn in seinem engeren Umkreis einige Politiker ein weniger starkes Nationalgefühl gehabt hätten als er, etwa Erich Ollenhauer, Willi Eichler und der stärker als Europäer empfindende Carlo Schmid, so hätten sie ihn wegen seiner großen Ausstrahlung doch unterstützt. Insgesamt habe Adenauer eine realistischere Vorstellung von der psychologischen Verfassung der Deutschen gehabt als Schumacher (Susanne Miller). Letzterer führte den Deutschen schon rein physisch mit seinem gebrochenen, geschundenen Körper ein schlechtes Gewissen vor Augen, während der Patriarch Adenauer, der vielleicht zu wenig Gesinnungsethiker gewesen sei, die Gegensätze eher verkleistert und so größere Zustimmung gefunden habe (Christoph Kleßmann).

Einerseits wurde aus dem eigenen Erleben heraus die Frage gestellt, ob es nicht richtiger sei, dem recht zu geben, der sich für ein Ausloten der Stalin-Noten und gegen die Wiederaufrüstung mit dem Argument eingesetzt habe, es müsse alles getan werden, um die deutsche Einheit zu erlangen. 40 Jahre seien schließlich für die Ostdeutschen wegen Adenauers Politik verpaßt worden (Heinz Westphal). Andererseits wurde betont, daß sich Schumacher kurz vor seinem Tod etwa mit Bezug auf die Ablehnung der Oder-Neiße-Linie und der militärischen Neutralität erheblich flexibler als zuvor geäußert habe (Willy Albrecht) und daß die neueren Forschungen erhebliche Skepsis gegenüber der Ernsthaftigkeit von Stalins Willen zum Entgegenkommen 1952 vermittelten (Chr. Kleßmann).

Nur vordergründig könne man wie Tilman Fichter sagen, Schumacher habe mit seiner Magnettheorie recht gehabt. Denn diese deterministische Argumentationsfigur sei 1961 gescheitert. Im übrigen sei der Versuch, eine direkte Linie von Schumacher in die Gegenwart zu ziehen, unhistorisch (Chr. Kleßmann, Peter Brandt).

Trotz kontroverser Formulierungen wurde festgestellt, daß Schumacher die Bedeutung der nationalen Frage für das deutsche Volk auch nach Hitler realistischer eingeschätzt habe als etwa der größte Teil der deutschen Linken, ja, der Deutschen, in den 80er Jahren (T. Fichter, Chr. Kleßmann).


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