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Wolfgang Benz
Widerstand gegen den Nationalsozialismus -
Legitimation für Kurt Schumachers Führungsanspruch im demokratischen Deutschland


Beeindruckend an Kurt Schumacher sei seine gebändigte Leidenschaft, seine Sturheit, sein absoluter Mangel an Sentimentalität im Ton, seine herbe Verdrossenheit. So beschreibt der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman den "zweifellos begabtesten der derzeitigen deutschen Politiker, der zugleich die saubersten Hände hat." Der Schwede hat ihn im Spätherbst 1946 bei einer Rede auf dem Münchner Königsplatz erlebt, seine Wirkung auf zehntausend Zuhörer kritisch beobachtet und mit wenigen sehr scharfen Strichen ein Porträt des Politikers skizziert, der, durch nationalsozialistische Verfolgung gezeichnet, die Wünsche und Hoffnungen so vieler Deutscher nach 1945 symbolisierte. [Fn 1: Stig Dagerman, Deutscher Herbst. Reiseschilderung, Frankfurt a.M. 1987, S. 84 f.]

"Was wir hier erdulden, wird uns später einmal die Berechtigung geben, vor das Volk zu treten." Dieser Satz steht für die Jahre, die Kurt Schumacher in den Konzentrationslagern als Gegner des Nationalsozialismus verbrachte. Diese Zeit, über die er selbst am wenigsten sprach, ist von den Biographen mit dunklen Farben, aber ohne Detailkenntnis geschildert und ganz allgemein ins Heroische gewendet worden. In der Beschreibung der sieben Jahre der politischen Karriere von 1945 bis 1952 wird die Zeit im KZ jeweils und abwechselnd zur Erklärung benutzt für Stärke und Schwäche des sozialdemokratischen Führers. Für Stärke, wenn sein kompromißloses Beharren auf politischen Positionen oder die höhere moralische Legitimation (etwa gegenüber Konrad Adenauer) dargestellt wird, für Schwäche, wenn seine Intransigenz, mangelnde Kompromißbereitschaft, überzogene Angriffe gegen politische Gegner (wie im Wahlkampf 1949) zur Diskussion stehen.

Der Historiker ist bei der Betrachtung dieses Zeitabschnittes mit ganz besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Es gibt außer den Aussagen von Mithäftlingen kaum Quellen, und in allen bisherigen biographischen Versuchen, ob mit literarischen Mitteln oder im Me-

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dium des Dokumentarfilms unternommen, sind deren bekannte Aussagen aneinander gereiht und fügen sich zum Bild des Einsamen, ohne Rücksicht auf die eigene körperliche Schwäche den Schergen des NS-Regimes Widerstand Leistenden, durch Hungerstreik, durch die Kraft des Geistes, durch Verachtung, Unbeugsamkeit gegenüber allen möglichen Schikanen. [Fn 2: Als Synthese des Kenntnisstandes jetzt: Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995; einige neue Details zur KZ-Haft bietet neuerdings Silvester Lechner (Hrsg.), Die Kraft, Nein zu sagen. Kurt Schumacher 1895-1952. Zeitzeugenberichte, Dokumente, Materialien zu Kurt Schu machers 100. Geburtstag, Ulm 1995.]

Die Bilder sind geläufig: Kurt Schumacher, körperlich in elender Verfassung, zwingt durch Haltung oder durch Blicke die SS-Wachmannschaft zum Zurückweichen, er herrscht den Wächter an, der ihn aufgefordert hat, seinem Leben ein Ende zu machen: "[...] die Verantwortung dafür müssen Sie schon übernehmen" [Fn 3: Vgl. Günther Scholz, Kurt Schumacher, Düsseldorf 1988, S. 91; s.a. Merseburger, S. 169.] oder die Abfuhr, die er bei der Ankunft in Dachau im Frühjahr 1935 dem SS-Mann erteilt, der ihn mit den Worten begrüßt, seine Einlieferung ins KZ sei doch der beste Beweis für den Bankrott seiner Partei: "Mit Ihnen politisiere ich nicht." [Fn 4: Äußerung von Josef Felder, zit. bei Scholz, a.a.O. S. 92.]

Unabhängig davon, ob sich dies alles genauso zugetragen hat (es gibt Varianten in den Schilderungen der Mithäftlinge) steht außer Zweifel, daß der KZ-Häftling Schumacher so und nicht anders mit seinen Bewachern umging.

Der konservative Schwede Arvid Fredborg, Korrespondent von "Svenska Dagbladet" von 1941 bis 1943 in Berlin und von 1950 bis 1952 in Bonn, gehört zu den wenigen, mit denen Schumacher ausführlicher über die Haftzeit gesprochen hat. Fredborg hielt die Quintessenz langer Unterhaltungen Ende 1951 in seinem Tagebuch fest und stützte sich später darauf, als er ein längeres Manuskript über Kurt Schumacher verfaßte. Es ist unveröffentlicht und unbekannt. In der Dachauer Zeit spielt die folgende Szene, von Fredborg in den Worten Schumachers festgehalten: "Ein untersätziger SS-Typ schrie mich 'Feigling' an. Ich dachte: jetzt oder nie. Ich trat vor der Truppe einen Schritt nach vorne und sagte: 'Zu mir hat noch niemand Feigling gesagt, auch jetzt nicht, wo ich am Boden liege.' Er fing an zu stot-

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tern. 'Ich meinte nicht Sie!' Ein SS-Hauptsturmführer kam und sagte:
'Seien Sie nicht unruhig. Ihnen passiert nichts.'" [Fn 5: Arvid Fredborg, Eindrücke von Dr. Kurt Schumacher, unveröffentl. Ms. 50 S., S. 22.]

Zur Methode des Überlebens und zum Lageralltag sagte Schumacher, die Bemerkung anknüpfend, wie er seine Moral aufrechterhalten konnte, habe er eigentlich selbst nicht gewußt: "Meine Taktik im Lager war vor allem, jede Vertrauensposition für mich selbst abzulehnen. Ich dachte an das zukünftige Ansehen der Partei. Mit geradem Auftreten bringt man auch die brutalsten Typen zum Zögern, wenn sie nicht Befehl von oben haben, zuzupacken. Dann kam die Gewohnheit. Gefangene und Wächter sahen einander und gewöhnten sich aneinander. Deswegen geschah es, daß 33iger, 34iger, und 35iger von der schweren Arbeit ausgenommen wurden. Es war ein eigentümliches Gesetz. Mitleid war es nicht." [Fn 6: Ebda., S. 23.]

Ob man von Widerstand (im Sinne von zweckgerichtetem Handeln, von politischem Kampf mit der Absicht, das Regime zu beenden oder wenigstens zu schwächen) sprechen kann oder ob man es bewundernd Selbstbehauptung gegenüber dem Vernichtungswillen eines diktatorischen Systems im Zeichen einer unmenschlichen Ideologie nennt, oder ob Kurt Schumacher in den Jahren der Haft, im Bewußtsein seiner physischen Ohnmacht, die Visionen einer erneuerten Demokratie nach Hitler entwarf, um nach der Befreiung gerüstet zu sein - es fehlen uns die Quellen in Gestalt des Tagebuchs, der Briefe, seines autobiographischen Berichts.

Auch für die Jahre der Weimarer Republik, zur Darstellung der politischen Biographie des jungen SPD-Politikers Schumacher, der seit 1924 im württembergischen Landtag und von 1930 bis 1933 im Reichstag sitzt, der in Stuttgart als Redakteur am Parteiblatt "Schwäbische Tagwacht" und als SPD-Funktionär arbeitet und als treibende Kraft beim Reichsbanner Schwarz Rot Gold und in der Eisernen Front für die Republik kämpft, fließen die Quellen spärlich. Dafür ist der Befund allerdings ganz eindeutig.

Mit seiner berühmten Rede im Reichstag am 23. Februar 1932 wäre Schumacher als Widerstandsleistender gegen den Nationalsozialismus auch in die Annalen eingegangen, wenn es für ihn keine prominente politische Karriere nach dem Untergang des NS-Staats mehr gegeben hätte. So knapp und schneidend, mit solcher Verachtung, ist kein anderer Abgeordneter den Nationalsozialisten entge-

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gengetreten, wie der Hinterbänkler Schumacher in seiner einzigen improvisierten kurzen Reichstagsrede.

Man kann nicht vom Widerstand Schumachers gegen den Nationalsozialismus sprechen, ohne aus dieser Rede zu zitieren, auf die Gefahr hin, daß jeder den Text kennt. Den Anlaß hatte die Unterstellung des nationalsozialistischen Abgeordneten Gregor Straßer gegeben, der namens der NSDAP die Sozialdemokratie als "Partei der Deserteure" diffamiert hatte. Schumacher meldete sich zu Wort und eröffnete, gegen Straßer und Goebbels gerichtet, die Zurückweisung mit der Bemerkung, es habe keinen Zweck, mit formalem Protest gegen solche Ungeheuerlichkeiten anzugehen: "Wir wenden uns dagegen, auf diesem Niveau moralischer und intellektueller Verlumpung und Verlausung zu kämpfen." Nach dem Ordnungsruf des Reichstagspräsidenten Paul Löbe fuhr er fort, eine Auseinandersetzung sei schon darum nicht möglich, weil die Sozialdemokraten in den Nationalsozialisten nicht das gleiche Niveau achten könnten. Den Herren der NSDAP fehlten die politischen Kenntnisse, sie brächten auch keinerlei Voraussetzungen mit, um ein kritisches Urteil über die Sozialdemokratie abgeben zu können, und dann fiel der Satz: "Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen." Als der Tumult sich gelegt, Löbe mit Hilfe der Glocke wieder einigermaßen Ruhe hergestellt hatte, setzte Schumacher folgendes drauf: "Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, daß ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist." Gegen Hitlers Propagandaleiter fiel ihm die hübsche und treffende Sottise ein: "Herr Dr. Goebbels hat sich hier als ein großer Leitartikel gebärdet, und er ist doch nur ein mißratenes kleines Feuilleton." Zum Schluß schrie er den Nationalsozialisten entgegen: "Sie können tun und lassen, was Sie wollen; an den Grad unserer Verachtung werden Sie niemals heranreichen." [Fn 7: Verhandlungen des Deutschen Reichtags. Stenographische Berichte, Bd. 446, S. 2254-2255, abgedruckt auch in: Turmwächter der Demo kratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. II, Berlin-Grunewald 1953, S. 23-24 und neuerdings in: Heinz Kühn, Auf den Barrikaden des mutigen Wortes, Bonn 1986, S. 192-195.]

Friedrich Stampfer nannte später diese Rede "das Stärkste, was im Reichstag je gesagt wurde über die moralische und intellektuelle Verlumpung des deutschen Volkes durch die Methode der national-

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sozialistischen Agitation". Auch wenn das nur eine Paraphrase war, zeigt es, welchen Eindruck Schumacher gemacht hatte. [Fn 8: Friedrich Stampfer, Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik, Karlsbad 1936, zit. nach 2. Aufl. Hamburg 1947, S. 614.]

Die Stegreifrede im Reichstag am 23. Februar 1932 hatte natürlich eine lange Vorgeschichte. Die Elemente dazu finden wir in der politischen Auseinandersetzung Schumachers mit dem Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Am 3. April 1932, wenige Tage vor der Reichspräsidentenwahl, bei der Hindenburg, Hitler und Thälmann konkurrierten (nicht nur Hindenburg empfand die Wahlempfehlung der SPD für ihn ganz richtig als verkehrte Frontstellung, während die bürgerliche Rechte für Hitler votierte), sprach Schumacher vor Arbeitersportlern in Stuttgart. Das Geheimnis des Nazi-Erfolges sei die Widerstandslosigkeit der politischen Parteien des Bürgertums. Der Faschismus wolle Gewalt, der Faschismus sei am 13. März zwar geschlagen worden (als Hitler im ersten Wahlgang gegen Hindenburg 30,1% der Stimmen erhielt), zu einer richtigen Niederlage des Nationalsozialismus komme es aber erst, wenn Hindenburg am 10. April noch mehr Stimmen bekomme als am 13. März. (Tatsächlich erhielt der alte Feldmarschall und amtierende Reichspräsident 53%, aber Hitler steigerte seinen Stimmenanteil auf 36,8%, also um fast 7%.) Die dümmste Redensart sei die, fuhr Schumacher vor den Arbeitersportlern fort, daß die Arbeiter nichts zu verlieren hätten. Dann rief er ihnen zu: "Wir können uns nicht beugen vor den vom Faschismus aufgerüttelten niedersten Instinkten des Kleinbürgertums. Mögen andere weichen, wir weichen nicht, wir kämpfen."

Rhetorisch war dies ein Exempel des Pathos der Arbeiterbewegung im Stil der Zeit, in dem auch die Berichterstattung über die Veranstaltung erfolgte: "Den Abschluß der Veranstaltung bildete ein packender Sprech- und Bewegungschor, der in dem Gelöbnis des Kampfes für die Freiheit gipfelte und das Publikum zu stärksten Beifallskundgebungen hinriß." [Fn 9: Schwäbische Tagwacht, 4.4.1932.] Aber Schumacher war, das sollte sich noch zeigen, mehr als pathetischer Rhetor.

Am 7. April hoffte er in einer Wahlkundgebung auf die Bereinigung der Bürgerkriegsatmosphäre, die von der NSDAP erzeugt werde. Die Nationalsozialisten seien "nichts anderes als die Knüppelgarde des modernen Monopolkapitals", aber die Kommunisten hätten sich durch ihre Hilfestellung für die Nationalsozialisten an der deutschen Arbeiterklasse aufs schwerste versündigt und durch die vor-

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eilige Kandidatur Thälmanns für das Reichspräsidentenamt "die Möglichkeit einer gemeinsamen sozialistischen Kandidatur kaputt gemacht". [Fn 10: Schwäbische Tagwacht, 7.4.1932.]

Rein rechnerisch hätte ein gemeinsamer Kandidat der SPD und KPD gegen 35% der Stimmen erhalten können, aber die Ernsthaftigkeit eines solchen Projekts, und ob Schumacher, der ja längst im Rufe des unerbittlichen Antikommunisten stand, es gebilligt und propagiert hätte, bleibt völlig hypothetisch. Die Schuldzuweisung an den kommunistischen Gegner war sicherlich das eigentliche Motiv der rhetorischen Feststellung Schumachers.

Aus den württembergischen Landtagswahlen am 24. April 1932 gingen die Nationalsozialisten mit 26,4% der Stimmen als stärkste Partei hervor. Die SPD erhielt 16,6% und verlor damit gegenüber 1928 7,2%, während die Kommunisten 2% der Stimmen mehr bekamen als vier Jahre zuvor, nämlich 9,4%. Die Hoffnungen Schumachers hatten sich damit auf doppelte Weise nicht erfüllt, weder war der prophezeite Stimmenverlust der Nationalsozialisten eingetreten, noch gab es in Württemberg und in Bayern die geringste Chance für den erhofften antifaschistischen Block mit Signalwirkung über Süddeutschland hinaus. (In Bayern bekam die NSDAP sogar 32,5% der Stimmen, die SPD sackte dort von 27,2% auf 15,4% ab, die KPD gewann fast 3% und stieg auf 6,6%. Deutlicher als das Zentrum Württembergs konnte sich lediglich die katholische BVP in Bayern mit 32,6% behaupten.)

Die Vereidigung des Papen-Kabinetts am 3. Juni 1932 kommentierte Kurt Schumacher in einem Leitartikel unter dem Titel "Der Dolchstoß. Das Deutschland Wilhelms des II. drängt vor." [Fn 11: Schwäbische Tagwacht, 3.6.1932.]
Wenige Tage später, bei einer Kundgebung der Eisernen Front, bezeichnete er anläßlich der Auflösung des Reichstages durch Papen, den Chef des "Monokelkabinetts", die Nationalsozialisten als die eigentliche Regierungspartei und warnte vor dem historischen Rückfall in Wilhelminischen Feudalismus und Militarismus: "Die Jahrzehnte vor dem Kriege und das dumme und großspurige Verhalten gegenüber den Ideen des Friedens, der Abrüstung und der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit erleben heute ihre Wiederauferstehung in den Giftereien gegen den Völkerbund." Und weiter: "Militarismus ist eine Gesinnung, ist das Prinzip der Geltung der Gewalt [...]" Dieser Militarismus habe 1918 die größte politische und militärische Niederlage

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der Weltgeschichte herabbeschworen, um nach dem Versagen auf seinem ureigensten Gebiete feige davonzulaufen. [Fn 12: Schwäbische Tagwacht, 11.6.1932.]

Es spricht nicht gegen Schumacher, daß er frühzeitige richtige Einsichten in das Wesen des Nationalsozialismus mit falschen Prognosen verband. Das Ergebnis der Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft am 27. September 1931, bei denen die NSDAP auf Kosten der bürgerlichen Parteien erheblich gewonnen hatte, erklärte Schumacher folgendermaßen: "Hat Hitler ursprünglich Hugenberg bis auf einen unverdaulichen Kern gefressen, so frißt er jetzt die anderen, die als bloße Schleimgewächse überhaupt keinen Punkt des Widerstands haben. Trotz des äußerlichen Bombenerfolges der Nationalsozialisten hat sich der Gesamtanteil der reaktionären Stimmen prozentual durchaus nicht vergrößert.' [Fn 13: Schwäbische Tagwacht, 30.9.1931.] Und Schumacher kam zu dem, wie sich zwei Jahre später erwies, richtigen Schluß, der Nationalsozialismus ermorde seine Verbündeten: "Sein politischer Erfolg gegenüber dem Marxismus besteht lediglich darin, daß er den Abmarsch der deklassierten Mittelschichten nach links bisher verhindert hat. Er hat für das große Kapital den Wert, die kleinen Leute einen Umweg bei der Erkenntnis ihrer Klasseninteressen machen zu lassen. Aber dabei nagt er am Bestand der alten bürgerlichen Besitzverteidigungsparteien. Je größer der Anteil der Hakenkreuzler am bürgerlichen Parteiensystem wird, desto regierungsunfähiger wird das deutsche Bürgertum. Das gibt im Augenblick große Schwierigkeiten für Deutschland, weist aber Wege für [den] zukünftigen Aufstieg der Arbeiterklasse. Denn kein Vergleich mit anderen faschistisch regierten Ländern hilft darüber hinweg, daß neben allen anderen Gründen schon allein aus denen der Außenpolitik der deutsche Nationalsozialismus als den Staatswillen bildende Potenz selbst im Falle seiner Regierungsbeteiligung absolut ohne Aussicht und Zukunft ist". [Fn 14: Ebda.]

Der falsche Schluß bestand darin, daß Schumacher das bürgerlich reaktionäre Wählerpotential unterschätzte und im Herbst 1931 den Einbruch in die Wählerreservoirs der demokratischen Parteien offensichtlich nicht für möglich hielt.

Die Übertragung der Macht auf Hitler, seine Berufung als Kanzler eines Koalitionskabinetts der bürgerlichen Rechten und der NSDAP am 30. Januar 1933 bedeutete für Schumacher zunächst persönliche Gefährdung und Einschränkung der Möglichkeiten zum politischen Kampf. Am l. Februar trat er zum letzten Mal, aus Berlin nach

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Stuttgart geeilt, öffentlich dem Nationalsozialismus entgegen. Auf einer Kundgebung der Eisernen Front rief er den Kommunisten zu, "die neue Epoche des Kampfes gegen den Faschismus sollte auch ein neues Verhältnis" zwischen Sozialdemokratie und KPD einleiten. [Fn 15: Schwäbische Tagwacht, 2.2.1933, hier zit. nach Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin, Bonn 1985, S. 73f.]

Mit dem Appell "Nicht Bruderkampf, sondern Klassenkampf" stand Schumacher freilich auf einer einsamen Position. Und die Diskrepanz einerseits zwischen dem taktischen Gebot zur Einheit der Arbeiterbewegung und der reichlich verwendeten marxistischen Nomenklatur - sie bildete auch in den ersten Jahren ab 1945 ein wesentliches Element von Schumachers Rhetorik - und andererseits den Beschwichtigungen der offiziellen Parteilinie im Zeichen des unbedingten Legalitätskurses ist unverkennbar.

Im Gegensatz zur Parteiführung befand sich Schumacher auch in der Frage des Generalstreiks als einer denkbaren ultima ratio der Arbeiterbewegung gegen die drohende Etablierung des Nationalsozialismus als staatstragender Kraft. Vor den Männern der Eisernen Front, deren einzige Handlungsmöglichkeit, wollten sie nicht Bürgerkrieg mit der SA führen, zur Verteidigung der Republik in Aktionen wie Streik bestand, war am l. Februar 1933 auch schwerlich anders zu argumentieren als mit Drohungen nach der Art "Wenn die Gegenrevolution zu ihrem großen Staatsstreich ausholt, dann müssen wir mit dem gewaltigen Gegenschlag antworten." [Fn 16: Ebda.]

Gleichzeitig mußte Schumacher innerhalb der Parteiräson aber vor jedem Aktionismus warnen, der der Hitler-Regierung Anlaß zu Unterdrückungsmaßnahmen bieten würde. In welchem inneren Konflikt sich Schumacher - zwischen Temperament, Einsicht und Parteidisziplin - befand, läßt sich heute nur ahnen. Schumachers Rede schloß in Erwartung der Reichstagswahlen am 5. März mit der kämpferischen Beschwörung einer Hoffnung: "Ob nun der 5. März eine große Kraftprobe wird oder nicht, ist gleichgültig. Wir kennen parlamentarisch und außerparlamentarisch nur ein Ziel: Hitler ist die letzte Chance der Gegenrevolution, aber - nach Hitler kommen wir! Wir, die deutsche Arbeiterklasse, unter sozialdemokratischer Führung, die machtpolitisch zu kämpfen weiß. Das neue Deutschland trägt die rote Fahne mit den drei Pfeilen: Friede, Freiheit, Sozialismus!" [Fn 17: Ebda., S. 75.]

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Das war sozialdemokratische Selbstbestätigung in schwerer Stunde, die den Realitäten nicht entsprach: Nach dem Abwärtstrend seit dem großen Wahlerfolg von 1928 mit fast 30% der Stimmen (1930 hatte die SPD dann 24,5%, im Juli 1932 21,6% und im November 1932 noch 20,4% erhalten) war es angesichts der Behinderungen durch die neue Staatsmacht und der allgemeinen Stimmung unwahrscheinlich, daß die Sozialdemokratie, auf Stimmzettel gestützt, Hitler noch würde Einhalt gebieten können. Das Wahlergebnis machte das mit 18,3% der Stimmen deutlich, auch wenn der SPD von ihren 121 Mandaten am 5. März 1933 nur eines verlorenging.

Verhängnisvoller noch war die Illusion, die Schumacher mit allen Gegnern Hitlers teilte, nämlich die, daß die in der Hitler-Hugenberg-Papen-Regierung versammelte politische und moralische Inkompetenz bald abgewirtschaftet haben würde.

Die Aktivitäten der Sozialdemokratie im Frühjahr 1933 entsprachen nicht den Vorstellungen Schumachers. An den Sitzungen des Reichstags am 21. und 23. März nahm er teil, an der historischen Rede des Parteivorsitzenden Otto Wels, mit der die SPD die Zustimmung zu dem von Hitler begehrten Ermächtigungsgesetz, dem Blankoscheck zur Diktatur, verweigerte, hatte er mitgearbeitet, sich sogar erboten, sie anstelle des erkrankten Fraktionsvorsitzenden Breitscheid zu halten. Die Abschiedsrede auf die Republik, die statt Appellen zu ihrer kämpferischen Verteidigung die Vision vom späteren Sieg des demokratischen Sozialismus enthielt, konnte die Fraktion freilich nicht einem ihrer Jüngsten, dem erst 37jährigen Kurt Schumacher, überlassen. So trat Otto Wels, der kranke Parteivorsitzende, ans Rednerpult.

Kurt Schumacher setzte weiterhin auf Widerstand, der jetzt aus der Illegalität heraus geführt werden müsse, wenn sich die Partei nur dazu entschließen könne. Er nahm an der Parteikonferenz im April 1933 teil, die den neuen Vorstand wählte, der bald darauf einen Teil der Mitglieder ins Exil schickte, wo sie in Prag die Auslandsleitung Sopade aufbauten.

Im Streit mit den zurückgebliebenen Vorstandsmitgliedern um den Legalitätskurs der Partei und schließlich um den Grad der Zurückhaltung gegenüber dem neuen Regime gehörte Schumacher zu den wenigen noch Kampfbereiten. Gegenüber Paul Löbe, dem Wortführer des Konzepts "Rettung durch Legalität und Unauffälligkeit", hatte Schumacher nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes deshalb erhebliche Ressentiments, ähnlich wie gegenüber Wilhelm Keil, dem württembergischen Patriarchen der SPD.

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Wie schwer Schumacher die Parteidisziplin in jenen Tagen, als Hitler die Macht erhielt und er seine Herrschaft etablierte, gefallen ist, erkennen wir aus jener Episode, die Friedrich Stampfer überliefert. Es ging um die von Hitler angekündigte außenpolitische Erklärung vor dem Reichstag am 17. Mai 1933. Es war die letzte Sitzung des Parlaments, an der sozialdemokratische Abgeordnete teilnehmen konnten. Die Vorstandsmitglieder Stampfer und Vogel waren aus dem Exil noch einmal nach Berlin gereist, um die Genossen zu bestimmen, der Regierungserklärung fernzubleiben oder ungeachtet nationalsozialistischer Pressionen und Drohungen mit einer Gegenerklärung zu antworten. Schumacher war Protagonist der Minderheit, die gegen die Teilnahme der Sozialdemokraten an der Reichstagssitzung und gegen den Anschluß der SPD an die zustimmende Resolution der anderen Parteien votierte. Von den 120 Fraktionsmitgliedern waren 65 anwesend, 48 von ihnen stimmten für die Teilnahme an der Sitzung und für den Verzicht auf eine eigene Erklärung vor dem Reichstag. Sie gaben - unter erheblichem Druck freilich - Hitler das gewünschte Alibi. Friedrich Stampfer, nach der politischen Position in der Partei durchaus ein Gesinnungsverwandter Schumachers, schreibt in seinen Erinnerungen: "Es gab eine heftige Debatte, in deren Verlauf Kurt Schumacher in höchster Erregung den Saal verließ. Ich eilte ihm nach und fand ihn an einem Fenster mit Tränen in den Augen. Toni Pfülf, verehrt von allen, die sie kannten, beging einige Tage später Selbstmord." [Fn 18: Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 271.]

Für den Reichstagsabgeordneten und württembergischen Exponenten der SPD, der sich selbst die Flucht ins Ausland verweigerte, bedeutete Widerstand gegen die Nationalsozialisten (und ihre konservativen Steigbügelhalter) den Versuch des Kampfes aus der Illegalität heraus. Daß dazu Möglichkeiten mit Aussicht auf Erfolg im Frühjahr 1933 schon nicht mehr bestanden, wurde bald deutlich. Je fester die NSDAP sich als staatstragende Bewegung etablierte und je signifikanter das Zähmungskonzept der Konservativen unter höhnischem Triumph der Hitler-Anhänger scheiterte, desto mehr mußte der Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Revolution gegen den NS-Staat geführt werden. Kurt Schumacher hat das in der kurzen Zeit, die er noch in Freiheit war, erkannt und propagiert.

Aber seit dem 13. Juni 1933 war er, der sich in Stuttgart schon länger nicht mehr zeigen durfte, mit Steckbrief gesucht, und am 6.

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Juli wurde er in seinem Berliner Versteck verhaftet. Erste Stationen seines damit beginnenden Leidensweges waren die Polizeigefängnisse in Berlin und in Stuttgart. Bis Ende November 1933 war Schumacher dann, zusammen mit anderen prominenten Gegnern des Nationalsozialismus aus Württemberg, im Konzentrationslager Heuberg inhaftiert. Das Lager, auf dem Gelände eines Truppenübungsplatzes bei Sigmaringen errichtet, gehörte zu den Haftstätten der frühen Stunde des nationalsozialistischen Sieges. Dort wurde mit politischen Gegnern der "Kampfzeit" Abrechnung gehalten, in diesem "wilden KZ" wurden vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten und andere "Politische" geschunden und gedemütigt. Dieser Zweck war in der Regel nach Wochen oder Monaten erreicht, viele wurden entlassen. Nicht Schumacher. Er blieb Häftling, als das System der KZ neu organisiert und vom Reichsführer SS Himmler in eine feste Ordnung gebracht wurde.

Nach der Auflösung des KZ Heuberg war Schumacher Gefangener im KZ Oberer Kuhberg, einer Festungsanlage in Ulm. Am 11. Juli 1935, das Ulmer KZ hatte jetzt auch ausgedient, wurde er mit der Häftlingsnummer 7701 als Neuzugang in Dachau registriert. Unterbrochen durch Krankenhausaufenthalte verbrachte Kurt Schumacher die nächsten Jahre im KZ. Ende September 1939 wurde das Lager Dachau vorübergehend geschlossen, weil das Gelände für die Aufstellung der ersten Einheiten der Waffen-SS benötigt wurde. Die Gefangenen, unter ihnen Schumacher, wurden bis Anfang März 1940 ins KZ Flossenbürg verlegt.

Unter der neuen Häftlingsnummer 224 war Schumacher vom 2. März 1940 bis 16. März 1943 wieder Häftling in Dachau. Er habe alle Funktionen abgelehnt, sagen seine Mithäftlinge mit ihm übereinstimmend. Lediglich in der Lagerbibliothek war er tätig, gab Bücher aus und beriet Kameraden bei der Auswahl der Lektüre. Man darf sich die Lagerbibliothek übrigens nicht zu armselig vorstellen, jedenfalls war sie ein Ort, an dem geistiger Austausch und intellektuelle Betätigung möglich waren. In der Lagerbücherei gab es auch Landkarten, auf denen die Entwicklung an den Fronten abgesteckt wurde, und es war der Ort, "an dem man ruhig reden konnte". Übereinstimmend sagen die Mithäftlinge Schumachers aus, er sei sehr introvertiert gewesen, einige haben ihn auch als schroff und abweisend in Erinnerung. Aber die häufig zu lesende Feststellung, Schumacher habe jeden Kontakt mit Kommunisten vermieden, ist nicht haltbar. Von den befragten Mithäftlingen berichteten gerade Kommunisten mit Respekt und Verehrung von ihren Kontakten zu Schu-

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macher, die man sich freilich nicht im Sinne von Volksfront-Verhandlungen vorstellen darf. [Fn 19: Interviews mit Willi Schuster, Fürth 28.10.1987; Hans Landauer, Wien 8.9.1987; Ludwig Soswinski, Wien 17.3.1988. Vgl. auch die Aussagen ehemaliger Mithäftlinge bei Heinrich G. Ritzel, Kurt Schu macher, Reinbek 1972, S. 33 f.]

Überhaupt war von politischen Zukunftsplänen wenig die Rede im KZ. Die Sorge galt in erster Linie dem Überleben, und Politisieren war gefährlich. Auch die sozialdemokratischen Mithäftlinge haben keine genaue Erinnerung an politische Gespräche mit Schumacher. Franz Olah, der österreichische Gewerkschafter etwa, meint, Schumacher habe seine Nachkriegspläne fertig gehabt, aber präzisieren kann er die Vermutung nicht, obwohl beide einander nahe standen. Als politische Größe war Schumacher den Mithäftlingen kein Begriff. Aber als moralische Autorität trat er in Erscheinung, was auf seinen langen Aufenthalt in Dachau zurückgeführt, vor allem aber als Wirkung der starken Persönlichkeit und des scharfen Intellekts empfunden wurde, und außerdem erinnerten sich Mithäftlinge an die aufrechte Haltung des Gefangenen. Schumacher sei stets "intransigent und frech" gegenüber den Machthabern im Lager gewesen, er habe jede Kriecherei gegenüber der SS abgelehnt. [Fn 20: Interview mit Franz Olah, Wien 17.3.1988.]
Auf Häftlingsfunktionäre wie den Lagerältesten Kapp oder den Reviercapo Zimmermann habe Schumacher mäßigend eingewirkt, indem er ihnen die Konsequenzen ihres Tuns vor Augen führte.

Absurd war der Kollaborationsvorwurf, der gegen Schumacher nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes erhoben wurde. Es brauchte hier nicht die Rede davon zu sein, hätte die Behauptung, Schumacher habe im Zusammenwirken mit der Lagerleitung Kommunisten auf tödliche Kommandos geschickt, nicht in der Nachkriegspolitik eine Rolle gespielt. Erklären läßt sich die Sache nur psychologisch. Der Urheber, ein Mithäftling, der politisch zwischen Katholizismus, Christlichsozialer Partei und der Kommunistischen Partei Österreichs irrlichterte, konnte nie auch nur den Schatten eines Beweises vorbringen, verfocht seine Anklagen aber mit lebenslanger Zähigkeit. Viktor Matejka, ein ebenso origineller wie wirrer politischer Kopf, war mit Schumacher zusammen in der Dachauer Lagerbücherei gewesen, und Schumacher muß ihn, der als empfindlich, leicht zu beleidigen und nachtragend galt, einmal sehr gekränkt

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und damit anhaltenden Rachedurst geweckt haben. [Fn 21: Interview mit Viktor Matejka, Wien 8.9.1987; vgl. Unterlagen im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands Wien.] In der politischen Auseinandersetzung der ersten Nachkriegsjahre war der bizarre Vorwurf den Kommunisten willkommene Munition.

Möglichkeiten zum Widerstand gegen das NS-Regime gab es für KZ-Häftlinge auf Grund ihrer Lebensumstände nicht. Selbstbehauptung und Sichbewahren für die Zeit des erhofften politischen Neubaus nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft waren schwierig genug. Und nach der Entlassung hielt die Gefährdung derer, die sich als politische Gegner so deutlich exponiert hatten, an.

Der Entlassung aus Dachau folgte ab Frühjahr 1943 für Schumacher die stille Zeit des Abwartens in Hannover, dem als Zwangsaufenthalt dem schwerkranken politischen Häftling zugewiesenen Wohnort. Der kaufmännische Angestellte Schumacher, der bei seiner Schwester lebte und als Buchhalter in einer Leimfabrik arbeitete, wurde im August 1944 in der Aktion "Gewitter" mit anderen Widerstandsverdächtigen erneut verhaftet, obwohl er mit dem 20. Juli nichts zu tun hatte. Bis Oktober 1944 war er Häftling im KZ Neuengamme bei Hamburg. Nach der Entlassung wartete er in Hannover den Zusammenbruch des NS-Systems ab.

Kurt Schumacher reklamierte nach der Niederlage des Nationalsozialismus weder Ausnahmerecht noch besseren moralischen Status für die Verfolgten und die Widerstandskämpfer: "Wir haben als einziges Vorrecht die Aufgabe, am stärksten für die Umwandlung Deutschlands zu arbeiten". Damit war der Anspruch angemeldet, den er in der Folgezeit vertrat. In seiner Rede in Hannover am 6. Mai 1945, die den Titel trägt "Wir verzweifeln nicht" [Fn 22: Rede Schumachers vor sozialdemokratischen Funktionären Hannovers: "Wir verzweifeln nicht!", abgedruckt bei Albrecht, a.a.O., S. 203-236.] und die zu den besten Texten gehört, die von Schumacher überliefert sind, hat er Abrechnung gehalten mit dem Nationalsozialismus und mit allen, die sich von der Gewaltideologie hatten betören und zur freudigen Hingabe an die Diktatur verführen lassen. Der Krüppel aus dem KZ sprach das Verdikt über die Mitläufer, die ahnungslos gewesen sein wollten über die Verbrechen des Regimes: "Ihre ewige Entschuldigung 'das habe ich nicht gewußt!' ist ohne moralischen und politischen Wert." [Fn 23: Ebda., S. 217.]
Als Schumacher dies sagte, lag der NS-Staat in Agonie, war aber formal noch nicht ganz am Ende. Schumachers

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Prognose, was kommen werde, war schonungslos, klarsichtig und ohne das patriotische Selbstmitleid, das sich nach der Niederlage während der Besetzung Deutschlands ausbreitete.

Es werde nicht wie 1918 kommen, sondern schlimmer, "die Sieger machen jetzt auch ihren Frieden und nicht den unseren". Nicht der Wunschzettel mancher deutscher Arbeiter bestimme das Kriegsziel, vielmehr der Wille, sich gegen kriegerische Möglichkeiten der Deutschen zu schützen und Reparationsleistungen zu sichern: "Hat schon die Republik darunter gelitten, daß sie nicht ein Ergebnis der Revolution, sondern der Niederlage gewesen ist, so ist es 1945 noch viel eindeutiger, daß die Nazis nicht durch innerdeutsche Kräfte, sondern allein durch den Sieg der Alliierten gestürzt wurden. Bis zum letzten Tage sind revolutionäre Massenregungen ausgeblieben. Alle Opfer und alle illegale Arbeit legitimieren also mangels entscheidender Erfolge nur zur Mitarbeit. Fordern und erfolgreich behaupten kann man nur, wenn aus eigener Kraft genügend beigesteuert ist. Revolutionäre Forderungen ohne Revolution sind leere Worte. " [Fn 24: Ebda., S. 218.]

Als Ersatzlegitimation für den versäumten Widerstand der Mehrheit hat Kurt Schumacher seine Verfolgung, seine KZ-Haft, nie in Anspruch genommen. Die Spuren der Leiden im KZ waren so unübersehbar, daß jeder Verweis darauf unnötig gewesen wäre. Aber nichts hätte Schumachers Temperament auch so widerstrebt wie das Apostrophieren der Opferrolle. Seinen Führungsanspruch beim demokratischen Neubau Deutschlands leitete er selbstverständlich und unmittelbar aus dem Widerstand her, den er gegen die NSDAP und ihre Helfer schon geleistet hatte, als die Gefahr von den meisten noch nicht erkannt war, als Hitler erst anfing, die Mehrheit der Deutschen für seine Ziele zu begeistern. Der Brief an Otto Steinmayer in Stuttgart, in dem Schumacher Anfang Juli 1945 Grundsätze der Neuorganisation der SPD umriß und die politischen und moralischen Qualitäten neu zu sammelnder Mitglieder beschrieb (nämlich zuerst die, die sich politisch und menschlich sauber gehalten hatten), schloß mit seltener Wärme: "Ich freue mich über jeden Mann und jede Frau, die in diesen zwölf Jahren Glauben und Mut nicht verloren haben und grüße Euch von Herzen. " [Fn 25: Kurt Schumacher an Otto Steinmayer, 2.7.1945, abgedruckt bei Albrecht, a.a.O., S. 237-240.]

[Seite der Druckausg.: 71 ]

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Zur Diskussion des Referats von Wolfgang Benz

Die Diskussion des Referats von Wolfgang Benz kreiste um vier miteinander verbundene Komplexe.

Einmal wurde ergänzend auf die Bedeutung des Kreises der "militanten Sozialisten" hingewiesen, mit denen zusammen Schumacher die Werte der sozialen Demokratie militant gegen linke und rechte Feinde der Weimarer Republik zu verteidigen gesucht hatte (Willy Albrecht).

Mit einer ganz kurzfristigen Ausnahme in der Zeit unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten richtete sich dieser Kampf für die Werte Freiheit und Demokratie auch gegen die Kommunisten (W. Albrecht). Diese Ausnahme ist aber wohl nur als letzter Versuch Schumachers zu werten, in letzter Minute nichts zu versäumen, um die Republik zu verteidigen (W. Benz).

Der Referent war sich mit Susanne Miller einig, daß der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, der für Schumacher nach 1945 Legitimation für die Führungsrolle beim Aufbau der Demokratie bedeutete, weniger der Widerstand der Zeit nach 1933 war. Ausschlaggebend war für Schumacher vielmehr der Widerstand der Weimarer Zeit, solange es noch Möglichkeiten zu politisch legalem und wirkungsvollem Kampf zur Erhaltung der parlamentarischen Demokratie gab.

Daher äußerte er sich nach 1945 nicht nur selten zum kommunistischen, sondern durchaus auch in bitteren Worten zum bürgerlichen Widerstand des 20. Juli, dem es bei seinem zu späten Aufbegehren primär um Status und Besitzstand gegangen sei - ganz zu schweigen von der Instrumentalisierung des 20. Juli als "Ikone" des bürgerlichen Wiederaufbaus nach 1945. Daß die SPD auch über den sozialdemokratischen Widerstand wenig sprach, wurde unterschiedlich mit Schumachers Intentionen in Verbindung gebracht (Heinz Putzrath, Helmut Rohde, Heinrich Potthoff). Als Versäumnis wurde angemerkt, daß die SPD trotz ihres Widerstandes in Weimar und in der NS-Zeit keine Opferrolle erstrebt habe, daher keine eigene Verfolgtenorganisation gegründet und so für Jahrzehnte ein kommunistisches Monopol der VVN zugelassen habe (H. Putzrath).

[Seite der Druckausg.: 72 = Leerseite ]


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