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[Seite der Druckausg.: 35 ]

Peter Brandt
Demokratischer Sozialismus - Deutsche Einheit - Europäische Friedensordnung
Kurt Schumacher in der Nachkriegspolitik (1945 - 1952)
[* Eine gekürzte Version erschien in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 42,1995, S. 882-890.]


"Er schien mir ein Sinnbild der ganzen Tragödie Deutschlands. Er verlor seinen rechten Arm im Ersten Weltkrieg. Sein Gesicht spiegelt die Qual von zwölf [tatsächlich: zehn] Jahren Konzentrationslager, die ihr Mal darauf zurückgelassen haben - seine Augen sind starr, und die Zähne wurden ihm von Gestapoleuten aus dem Mund geschlagen [...] Seine Nase sieht ungewöhnlich groß aus, weil so wenig Fleisch auf seinen Knochen geblieben ist. Furchen markieren sein Gesicht. Die Lippen sind dünn und gerade. Seine Schultern sind gesenkt, sein Körper ist mager, und er sieht schwindsüchtig aus. [...] Aber was für ein Wandel, wenn er spricht! Die verhaltene Stärke und die vorwärtstreibende Kraft in ihm, die Herausforderung und die Wucht, die Menschlichkeit und das Licht der Vision! Und lachen kann er, dieser gemarterte Mann [...] Noch ehe er fünf Minuten gesprochen hat, vergißt man seine körperlichen Entstellungen. Man wird von seiner Persönlichkeit ergriffen, und der Geist wird gepackt durch die klare Zusammenfassung seiner Gedanken [...] Hier war die Geistesrichtung, nach der ich ausgeschaut hatte, ein Geist, der mehr auf die Gegenwart und in die Zukunft schaute statt in die Vergangenheit, der die deutsche Reaktion und den diktatorischen 'Kommunismus' angriff, der aber auch gegen die Militärregierung der westlichen Alliierten vorging und die deutschen Arbeiter aufrief zu einem auf sich selbst vertrauenden und unabhängigen Sozialismus, der das Abbrechen deutschen Friedenszwecken dienender Industrie anprangerte ebenso wie die Zerstückelung Deutschlands, der aber zur gleichen Zeit den Akkord europäischer Solidarität und Weltzusammenarbeit anschlug." [Fn l: Fenner Brockway in "The New Leader", abgedruckt bei Arno Scholz/Walther G. Oschilewski (Hrsg.), Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. l, Berlin 1954, S. 62f. - Es handelt sich bei diesem Text um einen für den Druck überarbeiteten Vortrag, dessen erste Version anläßlich des 60. Geburtstags von Prof. Dr. Reinhard Rürup (TU Berlin) am 27. Mai 1994 gehalten worden ist, der auch meinen Statements bei der Bonner Schumacher-Tagung zugrunde gelegen hat. Im Hinblick darauf werden im folgenden außer wörtlichen Zitaten und ansonsten zwingend Nachzuweisendem nur einige außerhalb der gängigen Darstellungen und Deutungen liegende Passagen extra belegt. Im übrigen sei für vieles andere lediglich pauschal verwiesen auf Willy Albrecht, Kurt Schumacher. Ein Leben für den demokratischen Sozialismus, Bonn 1985; ders. (Bearb.), Kurt Schumacher als deutscher und europäischer Sozialist, Bonn 1988; Waldemar Ritter, Kurt Schumacher. Eine Untersuchung seiner politischen Konzeption, Hannover 1964; Lewis J. Edinger, Kurt Schumacher. Persönlichkeit und politisches Verhalten, Köln/Opladen 1967; Günther Schob, Kurt Schumacher. Düsseldorf u.a. 1988; Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945 - 1949, 2 Stuttgart 1980; Rudolf Hrbek, Die SPD - Deutschland und Europa. Die Haltung der Sozialdemokratie zum Verhältnis von Deutschland-Politik und Westintegration (1945 -1957), Bonn 1972; Ernst-Ulrich Huster, Die Politik der SPD 1945 -1950, Frankfurt am Main/New York 1978; Arno Klönne unter Mitarbeit von Barbara Klaus und Karl Theodor Stiller, Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte - Ziele - Wirkungen, Düsseldorf/Köln 1980; von den Erinnerungen Beteiligter sei hervorgehoben Annemarie Renger, Ein politisches Leben, Stuttgart 1993, S. 65 - 169. - Mit der vorzüglichen Edition von Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945 - 1952, Berlin/Bonn 1985 (im folgenden: Schumacher 1985) sind frühere Sammlungen von Reden und Schriften weitgehend entbehrlich geworden. Kurz nach Manuskriptabschluß erschien die verdienstvolle, aber hier keine Änderungen erforderlich machende Biographie von Peter Merseburger. Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher, Stuttgart 1995.]

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Mit diesen Worten gab der der britischen Labour Party angehörende Politiker und Journalist Fenner Brockway den Eindruck wieder, den der Auftritt Kurt Schumachers auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD im Mai 1946 auf ihn machte. Seine hymnischen Sätze lassen einiges von der Faszination erkennen, die Schumacher - in den ersten Jahren nach 1945 nicht nur der profilierteste, sondern auch der einflußreichste deutsche Parteiführer - in der Nachkriegszeit auslöste. Er vermochte auch Menschen zu fesseln, die niemals mit der Arbeiterbewegung in Berührung gekommen waren, denn er formulierte, was andere unklar empfanden, bot Orientierung in einer Zeit nicht nur materieller, sondern auch geistiger Verwüstung. Seine Versammlungen wirkten indessen auf viele Beobachter, namentlich ausländische, auch beängstigend, und das war nicht nur den Inhalten geschuldet.

Schumachers Redetechnik stammte aus einer Zeit ohne Mikrophone. Dazu kam die ihm eigene temperamentvolle, aggressive

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Rhetorik - am bekanntesten sein, allerdings provozierter, Zuruf zu Adenauer: "Bundeskanzler der Alliierten". Die Bundesrepublik um 1950 nannte er "einen Staat der überwiegenden sozialen Restauration", der Hauptregierungspartei CDU bescheinigte er, sie leide an der "Profitgier der Kriegsgewinnler" und einer "unhumanen und unsozialen Haltung", die Katholische Kirche bezeichnete er als "fünfte Besatzungsmacht", die deutschen Kommunisten als "russische Staatspartei" und ihre Bündnispartner als "trojanische Kavallerie". Seinen Gegnern wie dem amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay erschien Kurt Schumacher seinerseits als ein kompromißloser Fanatiker, der "zwar nur einen Arm, aber ein Dutzend Ellbogen" habe und ungeeignet sei, in Deutschland die Regierung zu übernehmen. [Fn 2: Zitate in Schumacher 1985, S. 732 (25.11.1949); ebd., S. 704 (21.9.1949); Scholz, Kurt Schumacher (wie Anm. l), S. 241; Schumacher 1985, S. 6-761. (Mitte Juli 1949); ebd., S. 538 (3.12.1947) u. ö.; ebd., S. 936 (9.3.1951); Lucius D. Clay in der "New York Times" v. 31.7.1949, zit. nach Edinger, Kurt Schumacher (wie Anm. l), S. 262f. - Behutsam, aber ohne Beschönigung wird die Wahrnehmung des Politikers Schumacher durch seine Zeitgenossen behandelt von Susanne Miller, Kurt Schumacher, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, im Urteil von Zeitgenossen, in: Jürgen Kocka u.a. (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat, München u.a. 1994, S. 156 - 172.]

Schon vor fast drei Jahrzehnten wies Reinhard Rürup auf das Desinteresse an Kurt Schumacher in der westdeutschen Gesellschaft einschließlich der Sozialdemokratie hin und beklagte das Fehlen einer wissenschaftlich befriedigenden Schumacher-Biographie. Er führte diesen Mangel auf die gegenüber den frühen 50er Jahren gravierend veränderten sozialen und politischen Bedingungen zurück. [Fn 3: Reinhard Rürup, Kurt Schumacher - Persönlichkeit und politische Konzeption, in : Neue politische Literatur 11,1966, S. 424 - 434.]
Um so mehr wirkt Schumacher heute fremd, und zwar bezeichnenderweise fremder als sein großer Antipode Konrad Adenauer. Während Adenauer, der vom katholischen Bürgertum geprägte Rheinländer mit dem antipreußischen Affekt, der konsequente Verfechter der Westbindung, ganz überwiegend eine verständnisvolle Würdigung erfährt, wird das Bild Schumachers mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Tod vielfach von Negativ-Klischees bestimmt. Bei sozialdemokratischen Zeithistorikern, für die das natürlich nicht zutrifft, fällt ebenfalls eine betont kritische Beurteilung auf, etwa in dem Standardwerk der SPD-Geschichte 1945 - 1965 von Kurt Klotzbach, gipfelnd in dem Vor-

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wurf, Kurt Schumachers Politik sei ein Anachronismus gewesen. [Fn 4: Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 -1965, Berlin/Bonn 1982, bes. S. 181 (Neuaufl. 1996).]
Wenn Heinrich Potthoff vor einigen Jahren gefordert hat, "die Heroengestalt Schumacher nicht länger mit einem Glorienschein zu versehen, sondern sich ihm mit kritischer Distanz zu nähern" [Fn 5: Heinrich Potthoff, Aufstieg und Niedergang der SPD, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 38,1991, S. 354 - 361, hier S. 355.], wird man dieser Maxime nicht widersprechen können. Zu warnen ist allerdings vor der Neigung, zum Maßstab der Kritik die vordergründig erfolgreichere SPD der 60er und 70er Jahre zu machen, die Wesentliches von dem aufgegeben hatte, was Schumacher repräsentierte.

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l. Schumachers politische Konzeption

Kurt Schumacher hat zeitlebens nie ein Staatsamt bekleidet. Er war Parteijournalist, Agitator und Parlamentarier - ein Mann des Wortes. Kein Theoretiker, aber ein Analytiker und konzeptioneller Denker von hohem Rang. Er konnte nur wenige seiner Ideen verwirklichen, aber er bestimmte in ungewöhnlichem Maß das Bewußtsein und das Handeln seiner Parteigenossen. Im Gegensatz zu den beiden in der SPD-Spitze der Weimarer Zeit und ebenso nach 1945 vorherrschenden Typen des Parteifunktionärs und des gouvernementalen öffentlichen Amtsträgers verkörperte Schumacher einen speziellen Typus des linken Volkstribunen: autoritär, von eiserner Willenskraft, asketisch und unbestechlich.

Fehlenden Machtwillen kann man Schumacher - in einem gewissen Kontrast zur SPD der Weimarer Republik - nicht attestieren. Gerade auch innerparteilich setzte er das für richtig Erkannte rigoros gegen Widersacher und Widerstrebende durch; sein Führungsstil wurde vielfach als diktatorisch empfunden. Während er mit eigenwilligen Politikern und eigenständigen Köpfen leicht in Konflikt geriet, war er beim Wiederaufbau der Partei trotzdem auf dieselbe Schicht von Parteifunktionären traditionellen Zuschnitts angewiesen, die er nur bedingt für politisch brauchbar hielt. So förderte er faktisch einen ganz anderen Typus von sozialdemokratischen Spitzenfunktionären, als er selbst verkörperte. Doch war er zu klug, um unabhängige Persönlichkeiten gar nicht zu berücksichtigen, selbst wenn sie unbe-

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quem waren. Es war Schumacher, der trotz offenkundiger Men-talitäts- und auch einiger Auffassungsunterschiede Willy Brandt mit Jahresbeginn 1948 zum Beauftragten des SPD-Parteivorstands in Berlin machte.

Schumachers Außenseiterrolle in der Endphase der Weimarer Republik und während des "Dritten Reiches" wie auch die ihm eigenen, typischen Persönlichkeitsmerkmale ließen ihn 1945 zum idealen Repräsentanten eines erneuerten sozialdemokratischen Selbstbewußtseins werden. Er hatte wie Julius Leber, Theodor Haubach und Carlo Mierendorff vor 1933 zu den "militanten Reformsozialisten" mit Betonung des Nationalen gehört, deren Kritik am Attentismus des Parteivorstands eine Reihe Berührungspunkte mit der innerparteilichen Opposition von links aufwies. In Stuttgart, dem Ort seiner hauptsächlichen politischen und publizistischen Wirksamkeit, war Schumacher der von den Nationalsozialisten meistgehaßte Mann gewesen. Im Reichstag hatte er 1932 in einer der schärfsten Attacken in der deutschen Parlamentsgeschichte den Nationalsozialismus als "dauernden Appell an den inneren Schweinehund im Menschen" bezeichnet. [Fn 6: Verhandlungen des Deutschen Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 446, S. 2254f. (23.2.1932).]

Die meisten sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre hatten das "Dritte Reich" abseits von Widerstandstätigkeit als Privatleute erlebt. Einige galten als Versager und Kapitulanten, etwa der frühere preußische Ministerpräsident Otto Braun und sein Innenminister Carl Severing. Eine selbstkritische Haltung zur Politik der SPD vor 1933 scheint unter den ehemaligen Funktionären die Ausnahme gewesen zu sein. Es herrschte die Ansicht vor, die Politik der Parteiführung sei im ganzen richtig gewesen, die Massen hätten sie nur nicht verstanden. Trotzdem waren fast alle in gewisser Weise politisch verunsichert. Neben der Neigung zur Verschmelzung mit den Kommunisten, die in den ersten Monaten auch unter den ehemaligen Funktionären verbreitet war, gab es Strömungen, die eine deutsche Labour Party unter Einschluß des linken Zentrumsflügels und bürgerlich-demokratischer Kräfte erstrebten. Und dort, wo man die Sammlung der Sozialdemokraten sogleich unter der Fahne der alten SPD in Angriff nahm, erfolgte dieser Schritt meist unreflektiert.

Schumacher, der sich zunächst in Hannover eine Hausmacht schuf, bevor er seinen Einfluß in der gesamten SPD der Westzonen geltend machte, unterschied sich von fast allen anderen sozialdemokratischen Altfunktionären durch seine "granitene politische Konzeption" (Theo

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Pirker), in der der SPD eine eindeutige Rolle als unabhängige und zentralistische Reichspartei zugedacht war. Nur ein Mann wie Schumacher konnte ein neues sozialdemokratisches Selbstbewußtsein darstellen. Die Zustimmung, die er fand, beruhte nicht zuletzt auf einer Projektion: Die wenigsten Sozialdemokraten hatten nach 1933 eine so mutige und kompromißlose Haltung eingenommen wie er.

Bereits im Frühjahr und Sommer 1945 legte Schumacher in Ansprachen und Positionspapieren die Grundzüge seiner Konzeption fest. Sie richteten sich zunächst an jenen zahlenmäßig begrenzten Funktionärskreis, der beim lokalen Parteiaufbau die Schlüsselpositionen einnahm, wirkten aber bald auch auf zonaler und überzonaler Ebene. Die Sozialdemokratie wurde als eigentlicher Gegenpol des Nationalsozialismus stilisiert. Sowohl gegenüber dem kapitalistischen Großbesitz, dem die soziale Verantwortung für den Faschismus zukomme, und den bürgerlichen Parteien, die gänzlich versagt hätten, als auch gegenüber den Kommunisten, die durch ihren Kampf gegen die Weimarer Republik ebenfalls ihren Teil zur Machtergreifung der NSDAP beigetragen hätten, stellte sich die SPD als einzige unzweifelhaft demokratische Partei dar. Daraus ergab sich für Schumacher ungeachtet aller Schwächen der Parteiführung vor 1933 ein unabweisbarer Führungsanspruch der deutschen Sozialdemokratie. In deutlichem Kontrast zu der in der Sowjetischen Besatzungszone propagierten Block-Konzeption wie auch zu den späteren Allparteienkoalitionen auf Landesebene in den Westzonen sah Schumacher gerade im Parteienkampf das entscheidende Element politischen Fortschritts und politischer Aufklärung. Demokratie war für ihn nur denkbar als parlamentarischer Mehrparteienstaat. Am 6. Mai 1945 stellt er mit Nachdruck fest, "daß es von vornherein keine bloß 'formale' oder 'kapitalistische' oder 'proletarische' oder mit einem sonstigen Beiwort geschmückte Demokratie gibt. [...] Es gibt nur eine Demokratie schlechthin, und das, was die Einsicht und die Kraft einer Klasse aus ihr machen" [Fn 7: Schumacher 1985, S. 220 (6.5.1945). Hervorhebung im Original.]

Das ist ein Schlüsselsatz, weil er verständlich macht, warum Schumacher im Ost-West-Konflikt von Anfang an grundsätzlich auf der Seite des Westens stand. Es ging für ihn um die Abwehr eines totalitären, staatskapitalistischen, großrussischen Imperialismus seitens der von ihm so genannten "Weltdemokratie". Dieser Kampf war der innergesellschaftlichen Klassenauseinandersetzung gleichsam übergeordnet, obschon er überzeugt war, daß nur eine sozial progressive

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Entwicklung in den Staaten des Westens diesen in die Lage versetzen würde, die kommunistische Herausforderung zu bestehen. Er trat in diesem Sinne bereits 1947 für eine Strategie der "Magnetisierung" der Sowjetzone durch wirtschaftlichen Aufbau und sozialpolitische Aus- und Umgestaltung der Westzonen ein.

Schumachers Demokratieverständnis beinhaltete die Ablehnung der Konsenssuche um ihrer selbst willen, des Harmonisierens der politisch-sozialen Gegensätze in Inhalt und Form. Dem Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, einem hartnäckigen innerparteilichen Gegner, hielt er 1950 entgegen: "Der Todfeind der Demokratie sind nicht die polaren gegensätzlichen Prinzipien, der Todfeind der Demokratie ist ihre Passivität, ihr Nichtkämpfenwollen, ihr Gleitenlassen!" Und kurz vor seinem Tod: "Wer nicht die Kraft hat, in gewissen Situationen Nein zu sagen, dessen Ja ist völlig wertlos." [Fn 8: Schumacher 1985, S. 662 (20.4.1949); ebd., S. 827 (6.8.1952).]

Die Opposition war für Kurt Schumacher ein lebenswichtiges Organ der parlamentarischen Demokratie wie die Regierung auch, ihr Wesen "der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien ihren positiven Gestaltungswillen aufzuzwingen", so in seiner Antwort auf die erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers Adenauer im September 1949. [Fn 9: Schumacher 1985, S. 691 (21.9.1949).] Diese Kontroll- und Mitgestaltungsfunktion der Opposition bezog sich sowohl auf eine Richtungskritik entsprechend der der Regierung entgegengesetzten gesellschaftspolitischen Zielsetzung, als auch auf eine Leistungskritik, die der in den Tagesgeschäften verstrickten Administration die größeren Perspektiven und den Tiefblick voraushaben sollte.

Um den Staat für die Interessen der Werktätigen einsetzen zu können, müsse die SPD, wie Schumacher sogleich nach Kriegsende erklärte, die Mehrheit der Wählerschaft an sich binden. Das sei nicht möglich, wenn sie auf die Industriearbeiterschaft beschränkt bleibe. Die zentrale wahlstrategische Aufgabe bestehe darin, durch den Krieg depossedierte und daher objektiv überwiegend ins "Gesamtproletariat" abgesunkene Mittelschichten für die SPD zu gewinnen. Mit der Bewältigung dieser Aufgabe erfülle die Partei zugleich eine entscheidende staatspolitische Funktion, nämlich die endliche Fesselung des deutschen Kleinbürgertums an die Demokratie. Neu war, daß er glaubte, das gemeinsame Interesse des ganzen schaffenden Volkes durch ein weitgehendes antikapitalistisches Programm ausdrücken zu

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können: "die Überführung der Produktionsmittel aus der Hand der großen Besitzenden in gesellschaftliches Eigentum, die Lenkung der gesamten Wirtschaft nicht nach Profitinteressen, sondern nach den Grundsätzen volkswirtschaftlich notwendiger Planung" [Fn 10: Arno Scholz/Walther G. Oschilewski (Hrsg.), Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Bd. 2, Berlin 1953,S.37.] - bei Schutz des kleinen und mittleren Besitzes.

Für Schumacher hatte die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in erster Linie die Funktion der Befestigung der Demokratie durch Brechung der ökonomischen Macht des Großbesitzes, wie er auch im Hinblick auf die Besatzungsmächte ständig betonte. Die katastrophale ökonomische Lage erlaube Deutschland zudem nicht länger den Luxus kapitalistischer Profitwirtschaft, sondern mache den Übergang vom wirtschaftlich, politisch und moralisch zusammengebrochenen kapitalistischen System zur sozialistischen Planung notwendig.

Hier unterlag Schumacher demselben Trugschluß wie andere Funktionäre der Arbeiterbewegung und viele Basisaktivisten in den Betrieben und Gewerkschaften, die die Diskreditierung der Großkapitalisten, die zeitweilige Suspendierung von Eigentümerrechten auch im Westen und die bedeutende Rolle der Betriebsräte beim Wiederingangsetzen der Produktion als Schritte zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses interpretierten. Angesichts der materiellen Zerstörungen konnten sie sich nicht vorstellen, wie ein sozial erträglicher Aufbau im Rahmen des Marktkapitalismus möglich sein sollte, und setzten dem die Alternative der "Wirtschaftsdemokratie" entgegen.

Nur vor dem Hintergrund einer Situationseinschätzung, nach der die SPD eine reale Chance besaß, in der Folgezeit durch Wählerwillen zur eindeutig führenden Kraft zu werden, wird die von Schumacher in der Parteiführung durchgesetzte Entscheidung plausibel, im Wirtschaftsrat der amerikanisch-britischen Bizone freiwillig in die Opposition zu gehen, nachdem der sozialdemokratische Personalvorschlag für das Wirtschaftsressort im Direktorium im Sommer 1947 an der CDU-geführten bürgerlichen Mehrheit gescheitert war. Die Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu Lasten der Arbeiterbewegung spätestens seit 1947 sah und beklagte Schumacher. Insofern revidierte er stillschweigend seine anfängliche Einschätzung. Die Verelendungstendenz schien ihm jedoch keineswegs mit der Währungsreform gebrochen - trotz der schlagartig verbesserten Ver-

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sorgung. Ein krasser Akt des "Klassenkampfes von oben" sei diese in ihrer Durchführung gewesen, und in der Tat schien bis zum Korea-Boom und selbst darüber hinaus eher die kapitalistische Normalität wiederhergestellt, als daß schon der kommende epochale Aufschwung mit gravierenden Folgen für das Lebensniveau sichtbar gewesen wäre. Und auch auf der politischen Ebene schien es bis weit in die 50er Jahre noch keineswegs sicher zu sein, daß Bonn nicht Weimar sein würde.

In seinen geistigen Ursprüngen Lasalleaner eher als Marxist, war das Nationale, ebenso wie der Staat, für Schumacher ein Wert im Sinne Max Webers. Nach 1945 verbanden sich mit seinem Nationalpatriotismus indessen ganz konkrete politische Forderungen und Aufgaben. Das Ziel: die Neuschaffung Deutschlands als eines selbstbestimmten, demokratischen Nationalstaats. Das erforderte, neben der sozialen Neuordnung, die Verteidigung der Lebensinteressen des deutschen Volkes nach außen, gegen die Siegermächte, aber auch das Annehmen der kollektiven Verantwortung für die Verbrechen Hitler-Deutschlands und die unsentimentale Bestrafung krimineller Taten bei gleichzeitiger unzweideutiger Ablehnung der These von der Kollektivschuld. Es müsse die Aufgabe der Sozialdemokratie sein, "diesem Volk bei aller Anerkennung des Verschuldens, das es durch das Dritte Reich auf sich genommen hat, zu einem inneren, klaren und freien Selbstbewußtsein zu verhelfen." [Fn 11: Kurt Schumacher: Bundestagsreden, hrsg. v. Annemarie Renger, Bonn 1972,8. 137(1.6.1947).]
Andernfalls würden die Deutschen auch nicht lernen, Achtung vor anderen Völkern zu haben, international zu denken und zu handeln.

Bezeichnenderweise hat Schumacher unmittelbar nach Kriegsende auf die Judenvernichtung als ein besonderes moralisches und politisches Problem der Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus hingewiesen. Er half den Weg zur Regelung der materiellen Wiedergutmachung so weit ebnen, daß die SPD als einzige Bundestagsfraktion einige Monate nach seinem Tod dem diesbezüglichen Gesetz geschlossen zustimmte. Schumacher trat aber andererseits nachdrücklich dafür ein, die unbelasteten oder gering belasteten früheren Anhänger des "Dritten Reiches", insbesondere in den jüngeren Jahrgängen, großzügig zu behandeln und schnellstmöglich politisch zu integrieren. Schon der erste SPD-Nachkriegsparteitag verlangte eine Jugendamnestie. Vergleichbare Bemühungen unternahmen alle Parteien, auch die SED im Osten. Das Charakte-

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ristische an Schumacher war der Versuch, auf die seelische Verfassung der desillusionierten Frontkämpfer- und HJ-Generation einzugehen, die große versöhnende Geste zu wagen. Er mußte dabei keine inhaltlichen Konzessionen machen, denn nicht wenige der Umworbenen fühlten sich von dem gesellschaftspolitischen Profil der SPD in Verbindung mit Schumachers lassalleanischem Patriotismus angesprochen.

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2. Das Dilemma der Schumacher-SPD

Es gehört zu den unbestrittenen Leistungen Kurt Schumachers, daß er sofort nach Kriegsende - noch ohne legale Basis - die Initiative ergriff, um aus den zahlreichen lokalen SPD-Gründungszirkeln eine überregionale Partei zu bilden. Die Geschwindigkeit und die zahlenmäßige Ausdehnung des Organisationsaufbaus der SPD, ähnlich wie auf seiten der Gewerkschaften, sind allein schon ein Argument gegen die pauschale These von der politischen Apathie der Deutschen nach 1945. Bereits gut ein Jahr nach dem Beginn der Legalisierung, Ende 1946. hatte die Sozialdemokratie in den Westzonen rund 700 000 Mitglieder; das entsprach unter Berücksichtigung der Ostflüchtlinge und -vertriebenen ungefähr den Ziffern der späten Weimarer Zeit. Gleichzeitig vermochte Schumacher die wiedergegründete sozialdemokratische Massenpartei, deren Mitglieder und Wähler zunächst wie bis 1933 überwiegend aus der, zumal gelernten. Industriearbeiterschaft kamen, für seine Linie zu gewinnen. Das ist um so bemerkenswerter, als anfangs viele Vorbehalte dagegen bestanden. Zudem war Schumacher 1945 ein, auch unter Sozialdemokraten, relativ unbekannter Mann.

Darüber hinaus gelang ihm bis Anfang der 50er Jahre, was die SPD in der Weimarer Republik nicht geschafft hatte: die Sozialdemokratie faktisch zur Einheitspartei der Arbeiterbewegung zu machen, zuerst durch die Hereinnahme der früheren, vor allem qualitativ gewichtigen sozialistischen Splittergruppen, dann durch das, was Schumacher die "Sozialdemokratisierung der kommunistischen Anhänger'' [Fn 12: Schumacher 1985, S. 268 (25.8.1945).] nannte.
Erleichtert durch den beginnenden Kalten Krieg und die ultra-radikale Wendung der KPD ab 1948, saugte die SPD den größten Teil der Wählerschaft und einen erheblichen Teil der Mitgliedschaft der westdeutschen KPD auf. Das war kein Automatis-

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mus, sondern - zumindest auch - das Ergebnis eines auf allen Ebenen, bis in die Betriebe hinein, erbittert geführten Verdrängungskampfes.

Drei wichtige Einschränkungen sind zu machen: Erstens gelang in dieser Phase kein Einbruch in die katholische Arbeiterschaft und ihr Vereinswesen. Die Bindekraft der neuen, überkonfessionellen bürgerlichen Sammlungspartei CDU/CSU wurde von Schumacher unterschätzt. Der Frontalangriff hatte hier statt des gewünschten den gegenteiligen Effekt: Trotz zurückgehenden innerparteilichen Einflusses wurden der Arbeitnehmerflügel der CDU und seine Klientel an diese Partei gebunden. Auch die Möglichkeit, über die in den ersten Nachkriegsjahren noch als relevanter Faktor existierende, links von der CDU angesiedelte katholische Zentrumspartei einen Differenzierungsprozeß im bürgerlichen Lager zu fördern, scheint von Schumacher nicht systematisch bedacht worden zu sein.

Zweitens war die sukzessive Marginalisierung der Kommunisten von einem Rückgang der Wahlunterstützung für die Arbeiterbewegung insgesamt begleitet. Bei den Landtagswahlen 1946/47 standen sich in den Westzonen die beiden großen Parteien mit einem durchschnittlichen Stimmenanteil von gut einem Drittel gegenüber, mit einem kleinen Vorsprung der CDU/CSU. Sowohl die Rechtsliberalen, die spätere FDP, als auch die Kommunisten lagen nicht weit unter einem Zehntel. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 änderte sich an dem Abstand der beiden Großen nichts. Beide mußten prozentual gegenüber 1946/47 Einbußen in der Wählergunst hinnehmen. Während aber die geschrumpfte Sozialdemokratie eine ebenfalls geschrumpfte Kommunistische Partei neben sich hatte, wurden die Verluste der CDU/CSU von der FDP und verschiedenen bürgerlichen Splitterparteien aufgefangen und überkompensiert. Diese Verschiebung zwischen den sozio-politischen Wählerblöcken setzte sich 1953 mit dem großen Wahlsieg der CDU fort. Die ersten Landtagswahlen als Ausgangsbasis zugrunde gelegt, war eine SPD-Alleinregierung als Voraussetzung für die Verwirklichung des Schumacherschen Programms schon 1949 nahezu ausgeschlossen. Günstigstenfalls konnten ein deutlicher Vorsprung der SPD und damit der Anspruch auf die Kanzlerschaft herauskommen, der eine Koalition mit zumindest einem Teil der CDU ermöglicht, mangels inhaltlicher Alternativen aber auch erzwungen hätte. Schumacher selbst scheint auf einen Zerfall der CDU/CSU gehofft zu haben, eine zu diesem Zeitpunkt nicht ganz abwegige Spekulation, aber kein strategischer Plan.

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Drittens und vor allem wurde die Vereinheitlichung der westdeutschen Arbeiterbewegung in der Sozialdemokratischen Partei bezahlt mit der territorialen Spaltung der gesamtdeutschen Arbeiterbewegung durch Bildung der SED in der Ostzone. Der weitgehend erfolgreiche Widerstand der Berliner Sozialdemokraten gegen den massiven Fusionsdruck seitens der Roten Armee und der ostdeutschen Kommunisten ging übrigens nicht von Kurt Schumacher aus, wenngleich er ihn dann unterstützte. Die sozusagen geographische Bereinigung des sozialdemokratisch-kommunistischen Schismas 1946 war für die SPD der Westzonen nach ihren eigenen Maßstäben eigentlich eine Katastrophe und zudem ein erster, über die Besatzungsmaßnahmen hinausgehender Schritt der Teilung Deutschlands. Die Partei war überzeugt, traditionelle Hochburgen verloren zu haben, deren Einbeziehung ihnen bei gesamtdeutschen freien Wahlen zumindest die relative, vermutlich die absolute Mehrheit bringen würde. Schumacher selbst hielt drei Viertel der Ostdeutschen für verhinderte Sozialdemokraten, und die Entschiedenheit seines Wiedervereinigungsengagements, wie das der Nachkriegs-SPD überhaupt, ist ohne solche Erwartungen nicht hinreichend zu begreifen.

Um so auffälliger, wie unflexibel Schumacher 1945/46 auf das Dilemma des "Zentralausschusses" der ostdeutschen und Berliner Sozialdemokraten reagierte. Die Auseinandersetzung innerhalb der SPD zwischen dem "Büro Schumacher" in Hannover und dem Zentralausschuß unter Vorsitz Otto Grotewohls in Berlin um die "Einheit der Arbeiterklasse", zugleich um die Führung der wiederentstehenden Partei, war keine zwischen "links" und "rechts". Beide setzten deutliche patriotische Akzente, und die gesellschaftspolitischen Positionen der beiden konkurrierenden Zentren waren nicht so weit voneinander entfernt, wie Schumachers Parole vom "Sozialismus als Tagesaufgabe" gegenüber der Grotewohlschen Übernahme der KPD-Losung von der "Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes" als Etappenziel signalisierte. In der Einstellung zu den Kommunisten und in der Demokratie-Konzeption näherte sich angesichts unmittelbarer Erfahrungen in der Sowjetzone der Standpunkt des Zentralausschusses dem des Büros Schumacher seit Sommer 1945 immerhin an. Und die Differenzen im Verhältnis zu den Siegermächten hätten nicht unbedingt parteisprengend wirken müssen. Sie waren trotz des zeitweiligen Spielens mit einer "Ostorientierung" auf seiten der Berliner nicht fest gefügt.

Von zentraler Bedeutung für die Abwehr kommunistischer Hegemonieansprüche und die Herstellung der nationalen Einheit - so

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meinte Grotewohl - sei die schnelle Bildung von Reichsparteien. Nur ein sozialdemokratischer Reichsparteitag könne über die Vereinigung der Arbeiterparteien entscheiden. Entweder wäre - so sein Hintergedanke - die Aufrechterhaltung einer unabhängigen Sozialdemokratie oder eine sozialdemokratisch dominierte Einheitspartei in Deutschland insgesamt das Ergebnis.

Also kam für die ostdeutschen Sozialdemokraten, seitdem die KPD mit Unterstützung der Roten Armee im Herbst 1945 ihre Fusionskampagne startete, alles darauf an, so schnell wie möglich politisch und organisatorisch Verbindungen zur Partei in den Westzonen zu knüpfen und zu festigen. Nur dann hatten sie eine Chance, dem kommunistischen Druck auszuweichen und das damalige sowjetische Interesse am Offenhalten der deutschen Frage für sich zu nutzen. Ihre Situation erforderte ein gewisses Lavieren und die Unterstützung, mindestens die Tolerierung dieses Lavierens durch die SPD im Westen. Man mag mit guten Gründen bezweifeln, daß eine flexiblere Haltung der West-SPD die ostdeutsche SPD hätte retten können, auch hatte Schumacher sicher recht mit seinem skeptischen Urteil hinsichtlich der persönlichen Standfestigkeit Grotewohls und seiner engeren Genossen. Es bleibt - auch unter Berücksichtigung britischer Quellen - der sichere Eindruck, daß nicht alle Möglichkeiten der SPD ausgetestet wurden. Die Vereinigung mit der KPD wurde deshalb gar nicht erst zu einem Problem der gesamtdeutschen Sozialdemokratie, und daran hatte Kurt Schumacher einen maßgeblichen Anteil. Statt sich um Zusammenarbeit mit dem Zentralausschuß zu bemühen, war er hauptsächlich um Abgrenzung der Operationsgebiete bemüht, um eine Einflußnahme der Berliner auf die Westzonen-SPD zu verhindem. [Fn 13: Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Hannover 1964; Frank Moraw, Die Parole der "Einheit" und die Sozialdemokratie. Zur parteiorganisatorischen und gesellschafts politischen Orientierung der SPD in der Periode der Illegalität und in der ersten Phase der Nachkriegszeit 1933 - 1948, Bonn 1973; Harold Hurwitz u.a., Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, 4 Bde., Köln 1983 - 1990; Lucio Carraciolo, Der Untergang der Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone. Otto Grote wohl und die "Einheit der Arbeiterklasse" 1945/46, in: Vierteljahrs hefte für Zeitgeschichte 36, 1988, S. 281 - 318; Klaus Suhl, Arbei terbewegung, SPD und deutsche Einheit 1945/46, in: Rolf Ebbing hausen/Friedrich Tiemann (Hrsg.), Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland?, Opladen 1984, S. 274 - 300.]

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Der Politiker Kurt Schumacher zeichnete sich durch ein hohes Maß an Risikobereitschaft aus, wenn es um Konfrontationen mit klaren Fronten ging. Er haßte politische Gemengelagen, wagte sich nicht in Konstellationen und Prozesse mit unkalkulierbaren, gar unbekannten Elementen. Das galt nicht nur für die Vorbereitungsphase der SED, sondern auch für die 1947 im Osten erwogene mögliche Relegalisierung der SPD. Ebenso für die interzonalen Kontakte der Landes-Ministerpräsidenten und für die Bemühungen um eine "Nationale [d.h. gesamtdeutsche] Repräsentation" der Parteien, wie sie neben der SED Teile des bürgerlichen Spektrums unternahmen, etwa der ostdeutsche CDU-Vorsitzende Jakob Kaiser, mit einem ähnlichen Motiv wie seinerzeit Grotewohl: nämlich durch gesamtdeutsche Kombinationen den Sowjetisierungsdruck auszubalancieren.

In allen diesen Fällen sah Schumacher scharf die Gefahren und leugnete jede echte Chance. Dafür gab es auch inhaltlich einen gemeinsamen Nenner: In Erinnerung an die Weimarer Republik fürchtete er die Wiederbelebung eines rechten bürgerlichen Nationalismus, der versucht sein könnte, auf Rußland zu setzen oder traditionelle Schaukelpolitik zu treiben, und dessen Zusammenspiel mit einem national drapierten Kommunismus. Seine Ablehnung neutralistischer und pazifistischer Ansätze im echten Sinne des Wortes und ebenso von Konzepten, denen zufolge Deutschland "Brücke zwischen Ost und West" (Jakob Kaiser) sein sollte, erklärt sich hauptsächlich aus dieser Sicht.

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3. Patriotismus und Internationalismus

Was hat es also mit dem angeblichen Primat des Nationalen bei Schumacher auf sich? Es ging ihm zunächst um einen handlungsfähigen und damit auch zur sozialen Neuordnung fähigen deutschen Staat, um die Verhinderung weiterer Separationen, namentlich im Saarland, sowie um die Zurückdrängung staatenbündischer Tendenzen, die er vor allem in Bayern, auch unter bayerischen Sozialdemokraten, angesiedelt sah. Ohne die sozialdemokratische Drohung vom 20. April 1949, das Grundgesetz abzulehnen, wenn nicht die ausgeprägt föderalistischen Richtlinien der westalliierten Besatzungsmächte verändert würden, wäre die Bundesrepublik laut Schumacher nur ein "koddriger Rheinbund" geworden. Das bezog sich vor allem auf die Finanzhoheit des Bundes gegenüber den Ländern, ein Prinzip, auf das sich auch die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten nur zögernd

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einschwören ließen. Angesichts der Propaganda aus dem Osten, wo der "nationale Widerstand" gegen die trizonale Separatstaatsgründung propagiert wurde, und angesichts des sozialen Elends wäre sogar ein Oktroi der Besatzungsmächte für Schumacher das geringere Übel gewesen. Die SPD sollte nicht wieder, wie in der Weimarer Republik, die Mitverantwortung für Verhältnisse und Entscheidungen übernehmen, die ihren eigenen Auffassungen diametral widersprachen.

Anders als beim Rückzug aus dem Bizonen-Direktorium 1947 hat Schumachers Boykott-Drohung vom 20. April 1949 Erfolg gehabt. Selbst wenn er - wie Adenauer sogleich verkündete - durch britische Gewährsleute gewußt haben sollte, daß die Alliierten ohnehin entschlossen waren, unitarischen Bestrebungen unter den Deutschen entgegenzukommen, so war doch die Umsetzung dieses Eventual-Beschlusses ohne massiven Druck von deutscher Seite unwahrscheinlich. Auch Ernst Reuter, der aus der Berliner Erfahrung für größere Flexibilität plädiert hatte, erkannte später die konstruktive Wirkung des Schumacherschen Nein an. [Fn 14: Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit, München 1957, S. 488.]

Die Weststaatsgründung, die sich spätestens Anfang 1948 abzeichnete, enthielt für die SPD und für ihren Vorsitzenden im besonderen ein unlösbares Dilemma. Einerseits war man ängstlich bemüht, den fragmentarischen und provisorischen Charakter des zu schaffenden Gebildes zu betonen, andererseits bot allein die Effektivierung des Staatsfragments eine Aussicht, wieder echte politische Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten: sowohl im Hinblick auf das Ziel des gesellschaftlichen Neubaus, als auch im Hinblick auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Wiederherstellung, nicht Erhaltung, denn Schumacher ging schon seit 1947 davon aus, daß Deutschland durch einseitige Aktionen der Sowjetunion bereits in Teilung begriffen sei. Aber wie sollte einerseits die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland festgehalten werden, wo doch andererseits offenkundig keiner der Siegerstaaten an der Wiederherstellung der deutschen Einheit interessiert war, zumindest nicht bei Gefahr eigener Machteinbußen bzw. von Machtgewinnen der weltpolitischen Kontrahenten oder mit der Aussicht auf einen unabhängigen deutschen Nationalstaat im Zentrum Europas?

Es spricht vieles dafür, daß die scharfe Opposition der Schuma-cher-SPD gegen die Adenauersche Regierungspolitik der schrittweisen Wiedergewinnung von Souveränität, auch durch einseitige Zuge-

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ständnisse, vermittels Westintegration und Einpassung in die amerikanische Blockbildungsstrategie, dem Kanzler in seinen Verhandlungen mit den Westmächten faktisch geholfen hat. Das ändert nichts daran, daß Adenauers Linie von Schumacher in der Methode wie in der vermuteten Wirkung entschieden abgelehnt wurde. Er hatte -neben den gesellschaftspolitischen Implikationen - stets die Kriterien sowohl der Unabhängigkeit der westdeutschen Politik von den Besatzungsmächten als auch der Wiedervereinigung Deutschlands im Auge. „Wer diesem Generalvertrag [zur Aufhebung des Besatzungsstatus] zustimmt, hört auf, ein Deutscher zu sein." [Fn 15: Schumacher 1985, S. 902 (15.5.1952).] In solchen, auch von Wohlwollenden als deplaziert empfundenen Formulierungen drückte Schumacher seine Erbitterung darüber aus, mit welcher Bedenkenlosigkeit Adenauer seiner Meinung nach den Kurs forcierter Westintegration um jeden Preis fortsetzte.

Nach Ausbruch des Koreakrieges brachte Adenauer von sich aus einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag ins Gespräch, was Schumacher unter den gegebenen Umständen für einen schweren Fehler hielt. Ab Sommer 1950 entwickelte er ein eigenes Konzept, das er dem Plan einer kleineuropäischen, von Frankreich geführten Verteidigungsgemeinschaft entgegenstellte. Auch Schumacher ging vom aggressiven Charakter der sowjetischen Weltpolitik aus, glaubte allerdings weder an einen Einmarsch der Kasernierten Volkspolizei in die Bundesrepublik nach koreanischem Muster, wie ihn Adenauer beschwor, noch an den Abzug der Amerikaner aus Deutschland, deren Truppen aufgrund eigener Interessen dort stünden. Ein westdeutscher Wehrbeitrag sei aber nur denkbar, wenn die deutschen Truppen keinen minderen Status erhielten und die gemeinsame Aufrüstung des Westens in Deutschland nach Zahl und Bewaffnung erheblich forciert werde. Deutschland dürfe keinesfalls zum Schlachtfeld einer Strategie hinhaltenden Widerstands werden, sondern es müsse gewährleistet sein, daß bei einem sowjetischen Angriff die Entscheidung östlich der Weichsel gesucht werde.

Diese Offensivstrategie war wohl auch taktisch gemeint, denn an der Basis der SPD und in der Bevölkerung war die teils pazifistisch, teils gesamtdeutsch begründete Abneigung gegen neuen Waffendienst weit verbreitet, und es galt für die kritische Haltung der Sozialdemokratie auch Begründungen zu finden, die an ihre kämpferisch antikommunistische Linie anknüpften. Entscheidend ist aber etwas anderes: Schumacher erkannte offenbar in der zweiten Hälfte des

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Jahres 1951 die politische Undurchführbarkeit seines Verteidigungskonzepts und - so scheint es - des Versuchs überhaupt, durch militärischen Druck auf die Sowjetunion den Status quo zu verändern. Er begann, den östlichen Standpunkt und die Möglichkeit von Kompromissen zwischen den Großmächten differenzierter nach Ansatzpunkten für eine Lösung der deutschen Frage zu untersuchen. Damit trat die Wiedervereinigung als Nahziel erneut in den Vordergrund.

Die Stalin-Noten vom Frühjahr 1952 schienen dann zu belegen, daß die UdSSR tatsächlich bereit sein könnte, die DDR freizugeben, um die - jetzt auch militärische - Koppelung des westdeutschen Potentials an den Westen zu verhindern. Es ist hier nicht zu entscheiden, ob diese Chance tatsächlich bestand und ob es ggfs. hätte gelingen können, die Westalliierten dafür zu interessieren. Schumacher hielt Adenauer vor, nichts getan zu haben, das Angebot auszuloten, vielmehr dahin gewirkt zu haben, daß eine ernsthafte Prüfung seitens des Westens in Verhandlungen nicht erfolgte. Hier hätte ein Kanzler Schumacher mit Sicherheit anders operiert. Mehr noch:

Schumacher scheint bereit gewesen zu sein, das Dogma von der souveränen Entscheidung einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung über ihre außen- und sicherheitspolitische Orientierung aufzugeben. Und sogar die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze - damals für alle Parteien noch eine wirkliche Zumutung - scheint für Schumacher nicht mehr tabu gewesen zu sein. So war für ihn in den letzten Monaten seines Lebens die deutsche Einheit mehr denn je "Maßstab aller Dinge", wie er kurz vor seinem Tod in einer Rundfunkansprache an die Menschen in der DDR versicherte. [Fn 16: Zitat in Schumacher 1985, S. 964 (15.7.1952). Siehe ansonsten, neben den in Anm. l genannten Titeln, besonders Albrecht, Kurt Schu macher, S. 75 - 87, und Scholz, Kurt Schumacher, S. 267 - 306; Ulrich Bucykowski, Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951, Stuttgart 1973; Udo F. Löwke, Für den Fall, daß [...] Die Haltung der SPD zur Wehrfrage 1949 - 1955, Hannover 1969.]
Man muß jedoch unterstreichen, daß die je spezifischen Akzentsetzungen Varianten einer einheitlichen, grundsätzlich offensiven deutschlandpolitischen Position waren.

Der Nationalstaatsgedanke stand für Schumacher nicht im Widerspruch zum Internationalismus. Wie Jean Jaures konnte er sich eine neue internationale Ordnung nur als freiwillige Zusammenarbeit unabhängiger Völker vorstellen - die Nationen sozusagen als Bau

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steine eines universellen demokratischen Prinzips. In diesem Sinne nahm Schumacher auch wiederholt Bezug auf die Forderung des Heidelberger Programms der SPD von 1925 nach den Vereinigten Staaten von Europa.

Unverzichtbar sei dabei die Gleichberechtigung der Deutschen. Unter dieser Voraussetzung sei nicht nur eine enge politische, wirtschaftliche und soziale Kooperation, sondern auch eine Aufgabe von Souveränitätsrechten zugunsten supranationaler Integration denkbar und wünschenswert. Dabei dachte Schumacher zunächst an ganz Europa, seit der Ablehnung des Marshall-Plans durch das sowjetische Lager (Sommer 1947) an Westeuropa, aber unbedingt unter Einschluß Großbritanniens und Skandinaviens. Dabei gingen Schumacher und andere konzeptionelle Denker der SPD davon aus, ein demokratisch-sozialistisch bestimmtes Europa würde gesellschaftspolitisch eine viel stärkere Anziehungskraft auf den sich formierenden Ostblock entwickeln als ein liberal-kapitalistisches.

Ursprünglich setzte die SPD, wie die Sozialdemokratie ganz Europas, große Hoffnungen in die britische Labour-Regierung. Diese verweigerte sich einer eigenständigen europäischen Führungsrolle nicht nur wegen der finanziellen Abhängigkeit von den USA, zu deren Juniorpartner Großbritannien herabgesunken war, sondern auch, weil sie das traditionelle Verständnis von britischem nationalen Interesse nicht überwinden konnte, am wenigsten in der Deutschlandpolitik.

Daß Schumacher dann in den ersten beiden Jahren der Bundesrepublik im Prinzip eine wirtschaftlich-politische Blockbildung des Westens favorisierte, wurde nicht nur durch die scharfe innenpolitische Frontstellung gegen die Adenauer-Regierung überdeckt, sondern auch durch die Ablehnung aller konkreten Integrationsansätze seitens der SPD: des Beitritts zur Ruhrbehörde, der Mitgliedschaft im Europarat und der Montanunion, in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie in der (ebenfalls nicht verwirklichten) Europäischen Politischen Gemeinschaft. Einem der berühmten Schumacher-Worte zufolge war das sich abzeichnende Kleineuropa der Sechs "konservativ und klerikal [...] kapitalistisch und kartellistisch" [Fn 17: Schumacher 1985, S. 808 (24.5.1951) u.ö.] , überdies auf einen minderen Status und die fortdauernde Teilung Deutschlands angelegt.

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4. Schluß

Mißt man es an der "granitenen Konzeption" von 1945, dem in sich geschlossenen Neuordnungsprogramm, dann war Schumachers politischer Ansatz spätestens Mitte 1948 gescheitert: mit den Londoner Empfehlungen, mit der Blockierung wichtiger auf Länderebene beschlossener Sozialisierungs- und Mitbestimmungsgesetze, mit der marktkapitalistischen Wirtschaftspolitik der Bizonen-Verwaltung, gekrönt von der Währungsreform. Die Bewirtschaftungsökonomie der ersten Nachkriegsperiode mit den "schwarzen" und "grauen" Märkten als Kompensation, mit zurückgestauter Inflation und den allgemeinen Mangelerscheinungen mußte schnell in eine demokratisch geleitete, volkswirtschaftliche Rahmenplanung, die Treuhandverwaltung wichtiger Unternehmen in neue gemeinwirtschaftliche Eigentumsformen, die wilde in eine legale betriebliche Mitbestimmung überführt werden, wenn das Experiment des gesellschaftlichen Neubaus eine Chance haben sollte. Denn die währungslose Wirtschaft förderte bestenfalls Nachbarschaftshilfe auf Stadtteilebene und Betriebssyndikalismus, aber nicht vereinheitlichende Lösungen. Überdies schadete die Zwangswirtschaft, je länger sie dauerte, im Ansehen der Bevölkerung massiv den Verfechtern von Wirtschaftsplanung.

Das antikapitalistische Strukturreformen begünstigende Massenbewußtsein in den frühen Nachkriegsjahren war diffus und fragil. Die zunächst offenbar vorhandenen Mehrheiten hätten nur dann politisch relevant werden können, wenn sie von den Besatzungsmächten nicht entmutigt worden wären. Hier lag Schumachers Hoffnung, der noch im Herbst 1947 bei einem Amerika-Besuch plausibel zu machen versuchte, daß in Deutschland allein die Entmachtung des Großkapitals eine Gewähr für Friedenssicherung und Demokratisierung biete. [Fn 18: Schumacher 1985, S. 562 - 569 (Rede vor der AFL am 14.10.1947).] So sehr er die internen restaurativen Tendenzen in Deutschland spürte, so wenig wollte er sich die antisozialistischen Konsequenzen des Kalten Krieges eingestehen.

Sowohl im ganzen wie in den wichtigen Teilelementen, etwa beim Lastenausgleich, bestimmte die CDU-geführte bürgerliche Koalition den Kurs in die Bundesrepublik. In diesem Rahmen allerdings gestaltete die Schumacher-SPD die zweite deutsche Demokratie maßgeblich mit, auch auf Bundesebene. Das gilt in erster Linie für das Grundgesetz, aber auch für die großen sozialpolitischen Herausforderungen der frühen Bundesrepublik wie den Wohnungsbau und

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die Eingliederung der Heimatvertriebenen. Man kann natürlich fragen, ob ein konzilianterer Parteiführer, etwa vom Bürgermeisterflügel, hier nicht mindestens so viel erreicht hätte. Sicher ist das aber nicht, jedenfalls nicht durchweg, wie das von Schumacher inspirierte Nein zu den Verfassungsvorstellungen der Westalliierten 1949 zeigt, zweifellos eine Konfrontation mit konstruktiven Folgen.

Das Ziel der deutschen Einheit in einem freien, nicht blockgeteilten Europa trieb Schumacher zu frühzeitigem Protest gegen die sowjetische Macht und zu heftiger Opposition gegen Adenauer. Dessen Bewunderer sehen heute im Zusammenbruch des Ostblocks die späte Frucht der 1949 eingeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik. Von anderen Einwänden abgesehen: Die Aussicht auf vier Jahrzehnte Teilung wäre damals für viele, auch aus dem bürgerlichen Lager, einem Verdammungsurteil über die Politik Adenauers gleichgekommen. Zweifellos hat der erste Kanzler die Entwicklungslogik der internationalen Beziehungen mit ihren Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der Bundesrepublik besser erkannt als der Oppositionsführer, der zu stark in den Kategorien der Zwischenkriegszeit dachte. Analytisch scharf sah Schumacher aber die Folgen der, zumal militärischen, Westintegration für die deutsche Frage.

Anders als bei Adenauer, für den die Prioritätenfolge klar war, stand Schumachers Deutschlandpolitik im Spannungsverhältnis von Antitotalitarismus, demokratisch-sozialistischer Orientierung und Wiedervereinigungsziel. Das schloß die Bereitschaft und Fähigkeit nicht aus, in konkreten Situationen - wie beim Vorgehen gegen den Zentralausschuß 1945/46 - eindeutige Prioritäten zu setzen. Möglicherweise war die Einheit Deutschlands in den späten 40er und frühen 50er Jahren unter demokratischen Vorzeichen überhaupt nicht zu erreichen. In keinem Fall war sie denkbar, ohne die Interessen der Sowjetunion nüchtern in Rechnung zu stellen. Erst ganz zu Ende seines Lebens scheint Schumacher klar geworden zu sein, daß weder der demokratische Sozialismus als unabhängige Formation noch die sogenannte "Weltdemokratie" mit der Sozialdemokratie als linkem Flügel die Sowjetunion würde aus Deutschland verdrängen können, daß also irgendein Arrangement unvermeidlich sein würde. Immerhin erlaubte sein Denken eine solche vorsichtige Neuorientierung.

Ungeachtet aller kritischen Anmerkungen gehörte Kurt Schumacher - beinahe gleichrangig mit Adenauer - zu den prägenden Führungspersönlichkeiten der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik, "und er stellte darüber hinaus eine politisch-moralische

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Kraft dar, deren Bedeutung für den Geist des Neuanfangs nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nicht leicht zu überschätzen ist." [Fn 19: Rürup, Kurt Schumacher (wie Anm. 3), S. 424.]

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