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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 25 ]
Bernd Faulenbach I.
Anders als noch lebende Zeitzeugen, etwa Annemarie Renger, die Kurt Schumacher ganz nahe stand und steht, sehe ich Kurt Schumacher als Historiker des Jahrgangs 1943, zu dessen frühesten politischen Erinnerungen zwar die im Radio übertragenen Debatten zwischen Kurt Schumacher und Konrad Adenauer gehören, für den Kurt Schumacher jedoch eine Gestalt der Geschichte ist - freilich eine ungemein faszinierende. Wie mir geht es den meisten heutigen Zeitgenossen: Sie haben Schumacher nicht selbst erlebt, für sie ist er -soweit sie ihn kennen - eine historische Figur. Vieles spricht dafür, daß uns Kurt Schumacher in jüngster Zeit, seit 1989/90, wieder näher gerückt ist. Wir fragen angesichts der deutschen Vereinigung und ihrer Probleme nach den Ursachen der deutschen Spaltung und ihrer Schicksalhaftigkeit: Gab es eine sozialdemokratische Alternative zur dominanten Linie der Nachkriegsentwicklung, eine Alternative, die uns, vor allem den Menschen in der SBZ und DDR, manches erspart hätte? Und wir beschäftigen uns dabei zwangsläufig mit Kurt Schumacher, der charismatischen Gestalt der deutschen Nachkriegssozialdemokratie, mit Schumachers Einschätzungen der damaligen Situation, die im Lichte jetzt zugänglicher Quellen in erheblichem Maße bestätigt erscheinen, auch mit seiner Auffassung von Demokratie, Nation und Europa. Schumacher scheint geradezu im gegenwärtigen historisch-politischen Bewußtsein wiederentdeckt zu werden. Das Schumacher-"Jubiläum" kann helfen, diesen Prozeß der Vergegenwärtigung Schumachers, einer ebenso herausragenden wie komplexen Persönlichkeit, zu fundieren. Die Beschäftigung mit der Gestalt Schumachers in den Kontexten ihrer Zeit ist geeignet, einer Tendenz zu abstrakt-abgehobener Geschichtsbetrachtung entgegenzuwirken.
[Seite der Druckausg.: 26 ]
II.
Kurt Schumacher entstammte einer bürgerlichen Familie im westpreußischen Culm, die ihn nicht gerade zum klassischen Sozialdemokraten prädisponierte. Sein Vater war kommunalpolitisch engagiert für den Freisinn, er war Stadtverordnetenvorsteher. Sohn Kurt wandte sich schon als Schüler der Sozialdemokratie - und zwar ihrem revisionistischen Flügel - zu, wobei manches dafür spricht, daß er später - nach dem Zweiten Weltkrieg - in der Sozialdemokratie die zu Ende gedachten Ziele der bürgerlichen Demokratie sah. Er glaubte, alles, was vom Liberalismus noch lebensfähig sei, sei in der deutschen Sozialdemokratie - im Hegelschen Sinne - aufgehoben. Für Schumacher wurde - wie für seine Generation - der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, zum schicksalhaften Ereignis. Schon im Dezember 1914 wurde er verwundet und verlor im Alter von 19 Jahren einen Arm, war fortan einer von Hunderttausenden Kriegsversehrten. Vom Wintersemester 1915/16 bis zum Wintersemester 1918/19 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Halle, Leipzig und Berlin, legte seine erste juristische Staatsprüfung ab. 1920 promovierte er an der Universität Münster bei Johann Plenge mit einer Arbeit zum Thema "Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie", in der er die Bedeutung eines positiven Staatsbegriffs, den er vor allem bei Ferdinand Lassalle sah, für die deutsche Sozialdemokratie - durchaus mit Blick auf die Gegenwart - herausarbeitete. Hier deutet sich eine wesentliche Komponente seines Politikansatzes an.
III.
Schumacher erlebte die Revolution 1918 als Student in Berlin. Seit 1917 gehörte er dem SPD-nahen "Reichsbund der Kriegsbeschädigten" an, trat 1918 der MSPD bei, wurde nach Ausbruch der Revolution Mitglied des Großberliner Arbeiter- und Soldatenrates - er engagierte sich in dieser Zeit auch als Versammlungsredner für Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann. 1920 wurde er Redakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung "Schwäbische Tagwacht", übernahm Funktionen in der Partei in Württemberg und gründete im Sommer 1923 den regionalen Wehrverband "Wandervereinigung Schwabenland", der sich 1924 dem "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" anschloß. Schumacher wollte die [Seite der Druckausg.: 27 ] Demokratie - gegen den Extremismus auf der Linken und auf der Rechten - mit allen Mitteln verteidigen. Ein militantes Eintreten für Republik und Demokratie war für ihn zeitlebens kennzeichnend. 1924 wurde er in den Württembergischen Landtag gewählt, wo er sich - abgesehen davon, daß er sich besonders den Fragen der
Trotz seiner vielfältigen Arbeit als Parlamentarier, Parteifunktionär, Zeitungsredakteur und Reichsbannerführer ging Schumacher in seiner Stuttgarter Zeit - wie sein Biograph Willy Albrecht feststellt
1930 wurde Kurt Schumacher in den Reichstag gewählt. Er hielt 1932 im Reichstag eine einzige, ihn damals bekannt machende Rede; er wurde daraufhin in den Fraktionsvorstand gewählt. Auf eine Attacke von Goebbels reagierend, der die SPD als Partei der Deserteure beschimpft hatte, bezeichnete er die Nazis als die Partei, der "die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit" gelungen sei, was zu Tumulten führte. Sich vielfach scharf gegen Faschismus und Kommunismus wendend, kämpfte Schumacher - wie andere "militante Sozialisten", etwa Carlo Mierendorf, Theodor Haubach und Julius Leber - für die Erhaltung der Republik, wobei für sie Reichsbanner und Eiserne Front wichtige Mittel waren, um aus einer reinen Defensivhaltung herauszukommen. Die SPD stritt für die Demokratie auch nach der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933, veranstaltete Massenkundgebungen, bei denen Schumacher auftrat, machte unter erschwerten Bedingungen Wahlkampf, letztlich vergeblich. Die SPD stemmte sich gegen das Ermächtigungsgesetz - Schumacher war an der Vorbereitung der berühmten Rede von Otto Wels beteiligt, in der es heißt: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht" - ein Satz, der über dem weiteren Lebensweg Schumachers stehen könnte.
[Seite der Druckausg.: 28 ]
IV.
Kurt Schumacher wandte sich im Frühjahr 1933 gegen einen Kurs der Anpassung, hoffte kurzzeitig sogar auf eine Zusammenarbeit mit Kommunisten, bereitete Widerstandsaktionen vor. Im Juli 1933 wurde er verhaftet: Mehr als 10 Jahre war er, ohne je von einem Gericht verurteilt worden zu sein, in Konzentrationslagern eingesperrt, zunächst in den KZs Heuberg und Oberer Kuhberg bei Ulm, dann jahrelang in Dachau bis 1943, unterbrochen durch Flossenbürg 1939/40. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er erneut verhaftet und von August bis September 1944 im KZ Neuengamme festgehalten. Er machte Entsetzliches in den KZs durch, überstand jedoch alle Peinigungen und Schikanen der SS - trotz seines geschwächten Gesundheitszustandes - mit äußerster Willenskraft, wie Mithäftlinge berichtet haben. Seine Neigung zum Unbedingten und Prinzipiellen, die sich in der Nachkriegszeit vielfach zeigte, hat sich in dieser Zeit wohl verstärkt. In den Konzentrationslagern knüpfte er Verbindungen zu Mithäftlingen, in Neuengamme insbesondere zu Sozialdemokraten in Hannover, Kontakte, die in der Nachkriegszeit relevant wurden. Bemerkenswert - so sei hier eingeschoben - sind manche Parallelen in den Biographien Julius Lebers und Kurt Schumachers. Wie Leber stammte Schumacher aus einem der Grenzgebiete, beide meldeten sich als Kriegsfreiwillige, beide - promovierte Akademiker - wurden Redakteure sozialdemokratischer Parteizeitungen, verteidigten kämpferisch die Republik und wurden in der NS-Zeit im KZ eingesperrt. Leber wurde freilich 1937 entlassen, näherte sich der Widerstandsbewegung an und gehörte zu den Verschwörern des 20. Juli. Die Frage läßt sich nicht beantworten, wie sich das Verhältnis zwischen Leber und Schumacher, die sich trotz vieler politischer Berührungspunkte nicht besonders mochten, nach 1945 entwickelt hätte - welche Rolle dann beide gespielt hätten, wenn Leber nicht im Januar 1945 von den Nazis umgebracht worden wäre.
V.
Schumacher, dessen Lebensgefährtin mit seinem Willen in die USA emigriert war, war aus dem KZ nach Hannover, wo eine seiner Schwestern lebte, entlassen worden. Der von der Haft im KZ schwer gezeichnete Schumacher begann gleich nach der Befreiung der Stadt im April 1945 mit äußerster Energie, die Sozialdemokratie wieder [Seite der Druckausg.: 29 ] aufzubauen, wobei er aus Widerstand und Verfolgung der Sozialdemokratie im Dritten Reich den Führungsanspruch der Partei in der Nachkriegsepoche ableitete. Aus seiner Sicht hatte die SPD als einzige Partei 1918 - 1933 "an der großen Linie der Demokratie und des Friedens ohne Konzessionen" festgehalten und die Prüfung der Geschichte bestanden. Angesichts der Rolle des Widerstandes, insbesondere der Sozialdemokratie, lehnte Schumacher die These von der Kollektivschuld der Deutschen ab. Er wollte gewiß einen konsequenten wirklichen Neubeginn und die Ausschaltung ehemaliger Nazis. Dennoch mag man fragen, ob er nicht doch das Ausmaß der Verstrickungen großer Teile der deutschen Gesellschaft in die NS-Politik unterschätzt hat. Jedenfalls pochte er allzu nachdrücklich auf die Gleichberechtigung des deutschen Volkes - konkret auf die Verpflichtung der Alliierten zur Hilfe für das deutsche Volk. Zugleich hob er freilich die Haftung des deutschen Volkes für die NS-Untaten hervor und plädierte frühzeitig - was keineswegs damals populär war - nachdrücklich für Wiedergutmachungsleistungen an die Juden. Was heute manchmal vergessen wird: Konrad Adenauer hat die Wiedergutmachungsregelung nur mit Hilfe der geschlossen abstimmenden SPD - gegen starken Widerstand in seiner Partei, insbesondere in der CSU, die im Bundestag dagegen votierte - 1953 durchsetzen können - Schumacher hatte dafür den Weg geebnet.
VI.
Schumacher hielt schon am 6. Mai 1945 in Hannover seine erste große Rede "Wir verzweifeln nicht". Er wurde rasch zur dominanten Figur nicht nur der SPD in Hannover, sondern in den Westzonen, ja im Nachkriegsdeutschland überhaupt. Schon in Wennigsen im Oktober 1945 war seine Führung in den Westzonen unbestritten, auf dem Parteitag im Mai 1946 wurde er dann auch zum Vorsitzenden der SPD in den Westzonen gewählt. Schumacher, der die Unterstützung des Exil-Parteivorstandes in London fand und sich erfolgreich um die Sammlung der kleinen Gruppen zwischen der Sozialdemokratie und den Kommunisten bemühte, trieb nicht nur den Aufbau der Partei voran, er formte auch entscheidend ihre Ziele und ihre konkrete Politik. Schumacher wollte die Partei nicht einfach wiederaufbauen, sondern auch neu bauen, partiell auch neu orientieren: [Seite der Druckausg.: 30 ]
Keine Frage: Schumacher war ein Anhänger westlicher Demokratie und lehnte nachdrücklich eine deutsche Brückenfunktion im Sinne einer Synthese von westlichem und kommunistischem System ab. Intensiv bemühte er sich um Kontakte zu den sozialdemokratischen Parteien und zu den demokratischen Staaten des Westens; Reisen führten ihn 1946/47 nach England, in die USA und in die skandinavischen Länder.
VII.
Von Anfang an nahm Kurt Schumacher eine scharfe Abgrenzung zu den Kommunisten vor und lehnte eine Einheitspartei - übrigens auch eine nach rechts ausgreifende, die Kontinuität zur SPD aufgebende Labour Party - entschieden ab. Dabei spielten die Erfahrungen mit der KPD, ihr Kampf gegen die Sozialdemokratie unter der Parole Sozialfaschismus, in der Endphase der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Noch bedeutsamer war für ihn, daß er in der KPD keine eigenständige Partei, sondern eine von der Sowjetunion beherrschte Größe sah. Tatsächlich lassen die jetzt zugänglichen Quellen die unmittelbare Leitung der kommunistischen Führung durch Moskau und die zentrale Rolle der Sowjetischen Militäradministration bei der Durchsetzung kommunistischer Politik in der SBZ und in der DDR erkennen - sie geben Schumacher im wesentlichen Recht. Bei dem Gegensatz zum Zentralausschuß in Berlin ging es nicht nur um die Frage, wer die SPD führen sollte, sondern auch um die [Seite der Druckausg.: 31 ] Beurteilung kommunistischer Politik. Keine Frage, Otto Grotewohl, Max Fechner, Gustav Dahrendorf und Erich W. Gniffke wollten sich nicht einfach vor den kommunistischen Wagen spannen lassen, aber sie machten sich zeitweilig gefährliche Illusionen über die sowjetische Politik und ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten. Dahrendorf und Gniffke flohen bald aus der SBZ, Fechner wurde 1953 verhaftet; nur Grotewohl blieb in einer Spitzenfunktion. Schumacher unterstützte die Berliner, die eine Urabstimmung veranstalteten und sich der Zwangsvereinigung entzogen. Das "Ostbüro" der Partei versuchte, sozialdemokratischen Flüchtlingen aus der SBZ zu helfen und sozialdemokratische Kommunikationsstrukturen in dieser Zone zu erhalten, ob immer mit geeigneten Mitteln, mag man bezweifeln. Schumacher wurde von den Kommunisten heftigst attackiert, Sozialdemokraten, die sich dem Einheitskurs in der SBZ und DDR widersetzten, wurden als "Schumacher-Agenten" verfolgt. Die Geschichte der Verfolgung der Sozialdemokratie in der SBZ und in der DDR ist noch zu schreiben; sie gehört zu den bedeutsamen Aufgaben der Zeitgeschichte der nächsten Zeit. Schumacher personifizierte wie kaum eine andere Gestalt der Parteigeschichte die sozialdemokratische Frontstellung gegen jede Diktatur.
VIII.
Schumacher war der erste Politiker, der angesichts der De-facto-Teilung die sog. Magnettheorie vertrat. Der Westen Deutschlands sollte wirtschaftlich, sozial und politisch so entwickelt werden, daß er eine Magnetwirkung auf die Ostzone ausübte. Tatsächlich entwickelte sich dann auch diese Magnetwirkung; sie wurde aber bis 1989 machtpolitisch begrenzt. Schumacher stellte Forderungen an die Westalliierten. Nach Gründung der Bundesrepublik kritisierte er die Adenauersche Politik, die aus seiner Sicht zu weitgehend den Interessen der Westalliierten entsprach - so etikettierte er Adenauer als "Kanzler der Alliierten", was zu einem großen Skandal führte. Schumacher wollte die Zusammenarbeit mit den Alliierten unter Wahrung der von ihm forciert vertretenen deutschen Interessen, die aus seiner Sicht bei den konkreten Remilitarisierungsplänen nicht gewährleistet waren. Leidenschaftlich suchte Schumacher Wege zur Wiedervereinigung in Freiheit. Für ihn stand außer Zweifel, daß bei der Wiedervereinigung die Demokratie auf ganz Deutschland ausgeweitet werden [Seite der Druckausg.: 32 ] mußte. 1952 - in der Reaktion auf die Stalin-Note, deren Substanz er geprüft haben wollte - suchten er und andere Sozialdemokraten einen militärischen Status für das vereinigte Deutschland zu finden, der den Deutschen Sicherheit bot, für die Sowjetunion erträglich war und zugleich eine freie Entwicklung Deutschlands an der Seite des Westens ermöglichte - neutralistisch kann man meines Erachtens diese Politik nicht nennen. Ob 1952 oder 1953 oder zu einem anderen Zeitpunkt eine alternative Entwicklung möglich war, die die Zeit der Spaltung und Zweistaatlichkeit verkürzt hätte, läßt sich - obgleich wir inzwischen in manche sowjetische Aktenbestände Einblick haben - bis heute nicht beantworten; die Antwort muß spekulativ bleiben. Nicht nur Schumachers Deutschland-, sondern auch seine Europapolitik wird manchmal schief dargestellt. Wenn Schumacher gegen eine forcierte Westintegrationspolitik Front machte, so nicht, weil er etwa ein Nationalist und Gegner Europas gewesen wäre - nachdrücklich plädierte er für ein vereinigtes Europa, das er jedoch nicht auf ein kapitalistisch, konservativ und katholisch dominiertes Kleineuropa beschränkt wissen wollte. Er wollte Europa auf der Basis der Gleichberechtigung aufbauen; Europa durfte aus seiner Sicht nicht nur den westdeutschen Teilstaat umfassen - in diesem Punkt gab es Differenzen zu anderen Sozialdemokraten, zu Carlo Schmid, Wilhelm Kaisen, Willy Brandt u.a. Schumacher wollte ein vereintes Europa demokratischer Nationen; Nation und Demokratie sah er dabei in engem Zusammenhang - der westeuropäische Nationsbegriff, den er vertrat, ist auch heute wieder aktuell als Alternative zum stärker ethnisch bestimmten Nationsbegriff Mittel- und Osteuropas.
IX.
Schumacher war ein entschiedener Verfechter der parlamentarischen Demokratie, wie sie sich im Westen, für Schumacher vor allem in England, herausgebildet hatte. Er trug nach der "deutschen Katastrophe" ganz entscheidend zur Etablierung der zweiten deutschen Demokratie bei. Zwar gelang es ihm nicht, die neuen demokratischen Strukturen sozialistisch zu fundieren, doch war es seine Intervention, die den Alliierten das Zugeständnis gegenüber dem Parlamentarischen Rat abrang, eine handlungsfähige Bundesgewalt mit entsprechender Berücksichtigung in der Finanzverfassung im Grundgesetz zu ermöglichen. [Seite der Druckausg.: 33 ] Als die CDU knapp vor der SPD die Bundestagswahl 1949 gewann, akzeptierte Schumacher für die Sozialdemokratie die Oppositionsrolle - die sozialdemokratische Oppositionsarbeit hatte, trotz zuweilen überscharfer Polemik von beiden Seiten, ganz wesentlichen Anteil daran, daß die Bonner Demokratie funktionierte und die Deutschen begannen, demokratische Spielregeln zu internalisieren. Kurt Schumacher war der große Gegenspieler Konrad Adenauers, von dem er sich in Herkunft, politischem Konzept und Temperament diametral unterschied. Und doch stärkte Schumachers Opposition vielfach die Verhandlungsposition Adenauers gegenüber den Alliierten. Nicht beantworten läßt sich die Frage, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn die Sozialdemokraten die erste Bundestagswahl gewonnen hätten und Schumacher erster Bundeskanzler geworden wäre. Auf jeden Fall wäre der politisch-kulturelle Neuansatz entschiedener, auch wäre die Suche nach Möglichkeiten einer Wiedervereinigung intensiver gewesen - ob freilich die Gesamtentwicklung grundlegend anders verlaufen wäre, mag man als fraglich ansehen.
X.
Kurt Schumacher verkörperte in der Nachkriegszeit wie kein anderer deutscher Politiker den kompromißlosen, opfervollen Widerstand gegen die Nazis. Zugleich aber wurde er, der Einarmige, dem 1948 auch noch ein Bein amputiert wurde, zum "Symbol des geschundenen deutschen Volkes und seines Selbstbehauptungswillens" (Peter Merseburger). Die hagere, ausgemergelte Gestalt, das schmale ausgezehrte Gesicht mit der hohen Stirn beeindruckten die Menschen der Nachkriegsjahre - wie Carlo Schmid feststellte - durch die "Diskrepanz von physischer Schwäche auf der einen Seite und geistiger Willenskraft auf der anderen Seite". Das Bild dieses Mannes vor Tausenden von Zuhörern auf Marktplätzen vor der Kulisse ausgebrannter zerstörter Häuser hat sich den Zeitgenossen eingeprägt. Was Schumacher vielen Menschen innerhalb und außerhalb der SPD in der Nachkriegszeit bedeutet hat, zeigte sich bei seinem Tode im August 1952, als Hunderttausende den Weg des Sarges des toten Schumacher von Bonn nach Hannover säumten. Sicher sind uns manche Züge Schumachers heute fremd - abgesehen von bestimmten politischen Zielen etwa in der Wirtschaftspolitik: seine Rhetorik, die Apodiktik seiner Sprache, die Schroffheit seines Auftretens u. a. Doch keine Frage - er war eine herausragende [Seite der Druckausg.: 34 ] Gestalt. Schumacher, den Intelligenz, analytische Schärfe und ein Hang zur Polemik auszeichneten, war kein Kumpel, sondern ein charismatischer Führer, dem sich auch bedeutende Köpfe wie Carlo Schmid, Adolf Arndt, Fritz Erler und Willi Eichler unterordneten. Sicherlich stützte sich sein Handeln auf tatkräftige Mitarbeiter, insbesondere auf Annemarie Renger, die zu seiner Lebensgefährtin wurde und an seiner Lebensleistung Anteil hat. Umgekehrt motivierte Schumacher unzählige Menschen - insbesondere auch junge Leute - zum politischen Engagement. Gewiß ist die zeitliche Distanz zu Schumacher nicht einfach zu überspringen und der Abstand der damaligen Probleme zu den heutigen so offensichtlich, daß sich der Versuch einer Aktualisierung Schumachers verbietet. Dennoch ist festzustellen: Kurt Schumacher kann uns auch heute nicht nur als historische Gestalt faszinieren, sondern uns auch auf Defizite unseres heutigen politischen Betriebes hinweisen. Peter Merseburger schreibt in seiner jüngst erschienenen Schumacher-Biographie "Der schwierige Deutsche", bei deren Titel man Gustav Heinemanns "schwieriges Vaterland" assoziieren und eine "schwierige Partei" hinzusetzen möchte: "Er war, was wir in der Politik heute schmerzlich vermissen: Ein Unbestechlicher, ein großer Moralist, ein Mann der Prinzipien, ein geschworener Feind alles Totalitären." Am 100. Geburtstag dieses bedeutenden Mannes, der in die Reihe der großen sozialdemokratischen Persönlichkeiten gehört, erinnern wir uns an einen Teil jener sozialdemokratischen Tradition, die in der Gegenwart nicht verspielt werden darf und zum Engagement für eine zeitgemäße Politik auffordert, die den Ideen der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens verpflichtet ist. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999 |