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Rudolf Scharping
Vermächtnis und Auftrag - zum 100. Geburtstag Kurt Schumachers


Kurt Schumacher wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Er ist vergleichsweise früh gestorben, am 20. August 1952, an den Folgen der schweren Gesundheitsschäden, die er sich während der 11jährigen Haft unter der Nazi-Herrschaft zugezogen hat.

Wir ehren heute das Andenken eines Mannes, der in nahezu symbolischer Weise das andere, das demokratische Deutschland verkörpert, und wir ehren einen Mann, der uns vorgelebt hat, wie sich leidenschaftlicher Patriotismus mit kompromißlosem Eintreten für Demokratie und Rechtsstaat verbinden läßt. Wir ehren einen Mann, der uns Sozialdemokraten gezeigt hat, wie die Treue zum politisch-moralischen Kern der sozialen Demokratie und der Mut zum Umdenken, zur Aufgabe unfruchtbar gewordener Tradition und zur Neuorientierung in einer sich rasch verändernden Welt miteinander verbunden werden können.

Die Sozialdemokratische Partei wurde nach den 12 Jahren des Verbots und der Verfolgung 1945 neu gegründet. Kurt Schumacher, der ihren Widerstandswillen und ihren Willen zum Neubeginn so sinnfällig wie kein zweiter in ihren Reihen verkörperte, hat diesen Neubeginn mit der Kraft seiner Erfahrungen, seiner moralischen Stärke, seiner Glaubwürdigkeit entscheidend mitgeprägt. Er hat den Geist ihrer Neuorientierung, ihren Willen, die Demokratie in Deutschland auf den stabilen Fundamenten der sozialen Gerechtigkeit neu zu begründen, und ihren Willen zur Modernisierung geprägt und repräsentiert. Er hat in den Jahren bis zu seinem Tod das Bild der Partei in Deutschland und der Welt geformt. Von ihm sind schon früh wesentliche Impulse ausgegangen, die Jahre nach seinem Tod zum Godesberger Programm der Sozialdemokratie, dem Dokument ihres Willens zur Erneuerung, hingeführt haben. Kurt Schumachers zu gedenken heißt nach all dem alles andere als Traditionspflege. Es ist eine Gelegenheit zur Selbstbesinnung, zum Lernen und, angesichts der Biographie dieses aufrechten Kämpfers für Demokratie und sozialen Fortschritt, auch eine Gelegenheit zur Selbstprüfung.

Wenn die Sozialdemokratie in diesem Jahr auch ihrer Neugründung vor 50 Jahren gedenkt, so sollte niemand vergessen, daß die

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Partei vor mehr als 130 Jahren gegründet wurde und eine Geschichte verkörpert, die auf weiten Strecken, zumal an den Kreuzwegen unserer Geschichte, mit dem Kampf um Demokratie in Deutschland und ihre soziale Fundierung identisch ist.

In jenen Frauen und Männern, die die Partei 1863 gründeten, in den Ideen, die die Gründung möglich machten und prägten, in den Zielsetzungen, um die es seit Anbeginn bis heute immer gegangen ist, erweist sich die Sozialdemokratie als die eigentliche Erbin der demokratischen Revolution von 1848, des ersten auf breiter Basis gemachten Versuchs, Demokratie in Deutschland zu schaffen. Angesichts dieser Geschichte, derer sich Kurt Schumacher stets in vollem Maße bewußt war, mußte es für die Sozialdemokratie als Partei und für Schumacher persönlich eine historische Herausforderung ersten Ranges sein, die Demokratie in Deutschland nach der Niederlage des Nationalsozialismus mit Entschiedenheit neu zu begründen, aber diesmal so, daß sie von ihren sozialen Grundlagen her ebenso wie durch die Architektur ihrer politischen Institutionen Bestand haben konnte.

Die Sozialdemokratie ist nicht nur in ihren Ideen, sondern auch als Organisation 1848 entstanden. Die "Arbeiterverbrüderung" von Stephan Born mit ihren Ideen, ihrer sozialen Basis und den Zielen ihres Kampfes war Teil der 48er Demokratiebewegung selbst. Wir werden also in drei Jahren, 1998, allen Anlaß haben, die Rückbesinnung auf die demokratische Revolution nach 150 Jahren auch als Rückbesinnung auf 150 Jahre soziale Demokratie in Deutschland zu begehen.

Die beispiellosen Diskontinuitäten der deutschen Geschichte können auch als das widerspruchsvolle Ringen um Demokratie in Deutschland gelesen werden. Auf abgebrochene Versuche in Demokratie folgten Zeiten des Rückschlages und der Reaktion, auf die Einrichtung demokratischer Institutionen folgten ihre Zerstörung, die Verfolgung der Demokraten und dann nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg doch wieder der demokratische Neubeginn mit seinem Versuch, aus den Niederlagen endlich die Lehre zu ziehen. Dieser widerspruchsvolle Verlauf deutscher Geschichte hat seine Spuren auf nachhaltige Weise in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie hinterlassen. Dreimal in der Geschichte war die Partei verboten, wurden ihre Mitglieder und Anhänger verfolgt, wurden der Geist sozialer Demokratie, wurde die politische Bewegung für Demokratie unterdrückt. Stephan Borns "Arbeiterverbrüderung" von 1848, die entsprechend der Situation der Zeit die Aufgaben einer po

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litischen Partei mit denen einer gewerkschaftlichen Vertretung der Interessen der sozial Schwachen verbinden wollte, wurde zum Opfer des ersten Verbots, das verhängt wurde, sobald die Kräfte der Reaktion die Demokratiebewegung von 1848 endgültig niedergeschlagen hatten. Born und seine Anhänger hatten immerhin, gleichsam als historische Erinnerungsmarke, in der öffentlichen politischen Debatte beim ersten Demokratisierungsversuch Deutschlands zu Protokoll gegeben, daß die politische Demokratie ohne soziale Fundamente, ohne gesellschaftliche Demokratisierung nicht nur ein Torso bleiben müßte, sondern in ihrem Bestand dauernd gefährdet bliebe.

Erst 1863 konnte die Partei neu gegründet werden. Es war Ferdinand Lassalle, der ihr Programm und ihre leitenden Ideen formulierte und ihr mit dem Gewicht und der Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit Anziehungskraft und Selbstbewußtsein verlieh. Er hat im Programm der Partei zwei Gedanken formuliert, die in der Geschichte der Sozialdemokratie immer Orientierung geblieben sind und die in der Sprache ihrer Zeit dieselben sind, die Kurt Schumacher nach 1945 beim neuerlichen Versuch einer Demokratiegründung in Deutschland als Beitrag und als Forderung der Sozialdemokratie in das neue Deutschland einbrachte. Der eine Gedanke war, daß die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die demokratische Kontrolle politischer Macht, der erste Schritt für die Schaffung einer Gesellschaft sein muß, in der die Grundwerte der Französischen Revolution und der Demokratiebewegung in Deutschland Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit eine wirkliche Chance haben würden. Der zweite Gedanke war, daß die Demokratie als Hebel zur schrittweisen Einführung einer sozialen Demokratie genutzt werden müsse, wenn es ihr mit ihren Zielsetzungen der gleichen Menschenwürde für alle wirklich ernst ist und wenn sie fest in der Gesellschaft fundiert werden soll.

Solche Ideen hielt Bismarck bekanntlich für gemeingefährlich mit der Folge eines erneuten Verbots der Partei zwischen 1878 und 1890. Gedanken, die politisch an der Zeit sind, Werte, die in die Herzen und Köpfe der Menschheit Eingang gefunden haben, Interessen, die berechtigt sind, lassen sich aber nun einmal nicht einfach verbieten. Das mußten Bismarck und die, die ihn unterstützten, schmerzlich erfahren. Selbst das "Zuckerbrot" erster Ansätze zur Sozialgesetzgebung in Deutschland reichte nicht aus, die Empörung und den Widerwillen gegen die Peitsche, die er gleichzeitig gegen den demokratischen und sozialen Fortschritt schwang, erträglich zu machen. Die Unterstützung für die Sozialdemokratische Partei wuchs in der Zeit ihres Verbots als Partei - die einzelnen Mandatsträger

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durften als Personen ja weiterhin politisch wirken -, und am Ende der Verbotszeit war die Partei zur stärksten einzelnen politischen Kraft in Deutschland geworden.

Die deutsche Sozialdemokratie hat den Weltkrieg, der dann kam, im Gegensatz zu den nationalistischen Kräften in Deutschland, die meinten, für das Land zu sprechen, weder gewollt noch vorbereitet. Im Gegenteil, sie hat alles bekämpft, was die entstehende Konfliktsituation verschärfte und ihren Kampf gegen den deutschen Militarismus und für eine friedliche Verständigung der Völker bis zum letzten Augenblick geführt. Als dann aber der Krieg ausbrach, haben sie in der Gewißheit, ihrem Vaterland und der Demokratie in Deutschland einen Dienst zu erweisen, das Land unterstützt, nicht um ihren Ursprungsideen der Demokratie, des sozialen Fortschritts und der internationalen Verständigung den Rücken zu kehren, sondern um nach der baldigen Beendigung des Krieges, für die sie arbeiteten, ihnen im eigenen Lande endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Demokratie in Deutschland, die 1918 erkämpft wurde, war in besonderer Weise eine Leistung der deutschen Sozialdemokratie. Sie ist auch, das ist Konsens der Historiker, bis zu ihrem Ende, das sie nicht verhindern konnte, die eigentliche Verfassungspartei der Weimarer Republik geblieben. Sie hat bis an die Grenzen der politischen Selbstverleugnung das Ziel der Erhaltung und Unterstützung der Demokratie all ihren weiteren politischen Zielen untergeordnet. Kurt Schumacher gehörte zu denen, die später die Gründe der Niederlage der ersten deutschen Demokratie sorgfältig analysiert haben in dem Willen, die neue deutsche Demokratie auf solideren Fundamenten zu erbauen. Als die Weimarer Demokratie schon wankte und im Begriffe war, zu Boden zu gehen, hat sich Schumacher als einer ihrer leidenschaftlichsten Anwälte und Kämpfer gegen die nationalsozialistische Gefahr den Haß der Nazis zugezogen und dafür unsägliches Leid in ihren Kerkern und Konzentrationslagern ertragen müssen. Er schleuderte von der Tribüne des Reichstages den Naziagitatoren sein berühmtes Verdikt entgegen: "Dem Nationalsozialismus ist zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen." Das haben sie ihm nie verziehen, weil sie ahnten, daß er Recht hatte.

Selten ist aufgenommen worden, daß dieser Satz weit mehr bedeutete als bloß eine Invektive gegen die Feinde der Demokratie. Er enthält ja auch die warnende Einsicht, daß unter bestimmten Bedingungen die menschliche Dummheit eben politisch wirksam mobilisiert werden kann und damit zu einem Faktor wird, der denen,

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die sich ihrer zu bedienen wissen, Einfluß und Macht verleiht. Schumacher hat später einmal, als die Demokratie in der Bundesrepublik schon ihre ersten Bewährungsproben bestanden hatte, davor gewarnt, die politische Auseinandersetzung "mit kriegswissenschaftlichen Mitteln" zu führen, also so, daß nicht mehr Verständigung, Streit, Information und das überzeugende Plädoyer für die eigene Sache das politische Klima bestimmen, sondern Verstellung und List, der Wille, den anderen hinters Licht zu führen, niederzuwerfen, taktisch auszumanövrieren. Ich halte es für wichtig, daß wir uns in einer Zeit, in der die Gesetze der Medien und die Logik ihrer Inszenierungen die politische Kommunikation in unseren Gesellschaften doch zumindest immer stärker mitprägen, auch dieser Erfahrung nüchtern vergewissern bei aller gewaltigen Unterschiede, die in der Zielsetzung zwischen damals und heute bestehen.

Die Nationalsozialisten haben schon in den letzten Jahren der Weimarer Demokratie, aber mit allen verfügbaren Mitteln der Massenbeeinflussung nach ihrer Machtergreifung, nicht allein mit Unterdrückung und Terror regiert. Der Terror war denen vorbehalten, die sich nicht verführen ließen. Die Nazipropagandisten haben mit einer bis dahin nicht gekannten ästhetisch-politischen Raffinesse und technischen Perfektion vor allem die Sinne geblendet mit ihren unentwegten Inszenierungen von Harmonie und Größe, Stärke und Gemeinschaftserlebnis, Triumphalismus und Gleichrichtung im vermeintlichen Volksganzen. Die Parteitagsfilme von Leni Riefenstahl, die subtil inszenierten Aufmärsche und Feste, der Einsatz des Radios in fast jedem Wohnzimmer mit dem Transport der Agitatorenstimmen in die Intimsphäre der Menschen hinein, das alles trug bei zur Fabrikation eines schönen Scheins, von dem sich allzu viele gegen ihre eigenen Lebensinteressen und besseren Erfahrungen blenden ließen, eines Scheins, der mehr und mehr an die Stelle von Information und Diskussion treten konnte und zur Nebelwand wurde, hinter der sich lange und für die Augen allzu vieler die sozialen Widersprüche dieser Gesellschaft, ihr gewalttätiger Charakter und ihr Vernichtungswille verstecken ließen.

Die Mobilisierung der menschlichen Dummheit, die diese Herrschaft trug, war klug inszeniert, sonst hätte sie die Machterfolge nicht erzielen können, die sie hatte. Es bleibt bemerkenswert, daß diese Erfolge der Mobilisierung menschlicher Dummheit in allen sozialen Schichten und Milieus möglich gewesen sind und so lange andauerten, wie die Nazis über die Massenmedien und die Mittel des kulturellen Lebens verfügten. Auch solche Sachverhalte, wie die Ver-

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drängung der Kriegsgreuel aus dem Bewußtsein vieler durch die Inszenierung allabendlicher Wunschkonzerte mit Life-Schaltung in die Schützengräben fremder Länder, in die deutsche Soldaten einmarschiert waren, ist ein politischer Sachverhalt, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Schumacher hat es nie vergessen.

Kurt Schumacher hat persönlich mehr als jeder andere dafür gesorgt, daß der demokratische Staat der Bundesrepublik zu einem effektiven Bundesstaat werden konnte und nicht, wie die alliierten Siegermächte es zeitweilig wollten, zu einem schwachen Staatenbund, der nicht über die Kompetenzen und Finanzen verfügte, die politischen Energien der Bundesländer ausreichend zu konzentrieren, zu bündeln und zusammenzuführen. Ein schwacher Bund, der wohl auch kaum in der Lage gewesen wäre, den gesellschaftlichen Neubeginn politisch zu steuern.

Schumachers Kritik an Adenauers Politik in der Deutschen Frage, die ihn einmal sogar zu der Zuspitzung vom "Kanzler der Alliierten" veranlaßte, war nie nationalistisch gemeint. 1946 hatte er festgestellt:

"Wir treiben keine amerikanische, keine britische, keine französische und erst recht keine sowjetische, sondern deutsche Politik." Er hatte dabei weder Deutschtümelei noch nationale Arroganz im Sinn. Im Gegenteil, Schumacher war mit Leib und Seele das, was Dolf Sternberger später einen "Verfassungspatrioten" nannte. Ein Politiker nämlich, der auf sein Land in dem Maße stolz sein wollte und konnte, wie es den Idealen der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit entsprach. Es sollte und konnte nur die Vorbildlichkeit der politischen und sozialen Institutionen sein, womit sich der Patriot Schumacher identifizieren wollte, und nicht etwa wie bei den rechten Nationalisten, die mehr als einmal über Deutschland Verderben und Schrecken gebracht hatten, solange sie über die Macht dazu verfügten, der Dünkel, am deutschen Wesen sei irgend etwas, woran der Rest der Welt genesen könne.

Schumacher wollte, und das meinte er mit "deutscher Politik" in dieser Zeit, vor allem zweierlei erreichen: Zum einen, daß die Menschen im anderen Teil des Landes nicht abgeschrieben und zur Beute der Machtinteressen der Kommunisten und der sowjetischen Siegermacht werden sollten. Sie hatten den gleichen Anspruch auf ein Leben in Freiheit und Würde. Dafür fühlte sich der Politiker Schumacher verantwortlich, und dafür hat er bis zu seinem Tod 1952 mit der ganzen Leidenschaft seiner faszinierenden Persönlichkeit gekämpft. Zum anderen wollte er, daß die neu zu gründende deutsche Demokratie über die Mittel auch wirklich verfügte, die eine

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erfolgreiche Politik des sozialen Fortschritts, der demokratischen Stabilisierung und des Hinwirkens auf die baldmögliche Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands auch wirklich zuließ. Das war der Kern seiner Magnettheorie der Wiedervereinigung.

Schumacher war, wie jeder weiß, durch und durch Gegner des Kommunismus. Er war es, weil seine demokratischen und sozialen Überzeugungen allem widersprachen, was die Kommunisten predigten und praktizierten.

Er war es auch, weil er im deutschen Kommunismus nichts anderes sah als ein Werkzeug der Machtinteressen der Sowjetunion. Das freiheitlich demokratische Motiv seines Ringens um eine baldmögliche Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands unterschied Schumacher von denen, die in seiner Zeit die Wiedervereinigung gar nicht mehr ernsthaft betrieben, weil sie ihren Interessen nicht entsprach, ebenso wie von allen, denen es gar nicht um Demokratie, Rechtsstaat und sozialen Fortschritt gegangen war, sondern nur um Futter für einen deutsch-chauvinistischen Nationalismus.

Es wäre geschichtsblind, wollte man die Politik der Nachfolger Kurt Schumachers in der Führung der Sozialdemokratischen Partei, vor allem die Ostpolitik Willy Brandts, in einen Gegensatz zu Schumachers Deutschlandpolitik rücken. In Wahrheit haben diese Nachfolger unter gänzlich veränderten Bedingungen auf anderen Wegen dieselben Ziele erreichen wollen, um die es Schumacher bei all dem letztendlich ging. Und sie haben, wie die Jahre 1989 und 1990 gezeigt haben, auf ihre Weise die Ziele Schumachers auch erreicht. Es war der Wille, den Zusammenhalt der Menschen in beiden Teilen Deutschlands zu erhalten und die Fortschritte in Richtung auf eine Befreiung von Gängelung und Bevormundung, auf die Erweiterung von Spielräumen der Selbstentfaltung und den freien Zugang zu politischen Informationen unter den Bedingungen der zementierten deutschen Teilung beharrlich weiterzuverfolgen.

Es war diese Politik einer Annäherung durch politische Kooperation, durch Gespräch, durch Verständigung dort, wo sie möglich schien, die letztlich den Erfolg der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands möglich gemacht hat.

Kurt Schumacher wäre, davon bin ich überzeugt, damit sehr einverstanden gewesen, nicht nur wegen des Erfolgs, der diese Politik am Ende gerechtfertigt hat, sondern auch, weil er ein politischer Realist von hohen Graden war. Er wußte und hat es mehrfach gesagt, daß sich der Wirklichkeit Dogmen nicht aufzwingen lassen, sondern daß die

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Kraft zur Gestaltung der Wirklichkeit nur gewinnt, wer sich auf ihre Bedingungen kundig, vorurteilsfrei und nüchtern einzulassen versteht, ohne dabei aus dem Auge zu verlieren, was er selber politisch will. Daß die Wiedervereinigung am guten Ende sich in der Weise vollzog, wie es dann geschehen ist, war in den 70er und 80er Jahren auch für eingeschworene Realisten kaum abzusehen. Realistischer erschien in dieser Zeit eine politische Vision, die von einer zunehmenden und schließlich vollständigen Durchlässigkeit der Grenzen und für ein politisches Zusammenleben der beiden Teile Deutschlands in Europa unter einem gemeinsamen europäischen Dach ausging. Dadurch wäre in praktischer Hinsicht das meiste von dem erreicht worden, worum es politisch in Wahrheit immer ging: Selbstbestimmung der Deutschen in Ost und West, Zusammenhalt der Nation, Demokratisierung, Wohlstand und soziale Sicherheit.

Kurt Schumachers Patriotismus war ja zu keinem Zeitpunkt ein Nationalismus, der in einen Gegensatz zur Europäischen Einigung gebracht werden konnte.

Schumacher war stolz darauf, eine deutsche Partei zu repräsentieren, die schon im Jahre 1925 das Ziel der "Vereinigten Staaten von Europa" in ihr politisches Grundsatzprogramm geschrieben hatte. Er wollte, daß das ganze Deutschland Teil eines geeinigten demokratischen und sozialen Europas werde. Auf Wegen, über die nachzusinnen er in der Zeit seiner politischen Wirksamkeit keinen Anlaß haben konnte, haben seine Nachfolger in denselben Traditionen und aus denselben Überzeugungen, die Schumacher prägten, einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß diese Vision nun Realität werden konnte. Damit haben sie einen entscheidenden Beitrag zur Vollendung der Neugründung der Demokratie in Deutschland geleistet. Es liegt an uns, nun ebenfalls im Geiste Schumachers dafür zu sorgen, daß die deutsche Einheit nicht trübem Nationalismus neuen Auftrieb gibt und daß das Bewußtsein für die mögliche Gefährdung der Demokratie nicht verlorengeht. Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit ist darum keine fragwürdige Wohltat, die bei wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten jederzeit zur Disposition steht, sondern Arbeit für die politische Festigung der Demokratie.

Für mich kann es unter Gutwilligen keinen Zweifel geben, daß die Ostpolitik Willy Brandts die entscheidende Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung gewesen ist und einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat, daß kommunistische Machtansprüche am Ende überall in Europa der Demokratie weichen mußten. Es wäre zu jedem

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Zeitpunkt politisch durch und durch töricht gewesen, hätten die sozialdemokratischen Politiker, die das Konzept der Entspannungspolitik entworfen und Schritt für Schritt realisiert haben, die Hoffnungen bei jeder Gelegenheit lautstark und öffentlich zum Ausdruck gebracht, die sie mit dieser Politik doch unbeirrt immer verbunden haben. Es konnte ja gar nicht anders sein, als daß die Vermehrung der Kontakte, die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen, die Zunahme von Informationen, die zunehmend weniger behinderte Zirkulation von Ideen, Erfahrungen und Meinungen zwischen Ost- und West-Europa, die Vervielfältigung der Formen und der Bereiche der Zusammenarbeit, die Erweiterung des Reiseverkehrs zwischen Ost und West in beiden Richtungen den Westen stärkte, denn er beruhte in seinem Legitimationsverständnis auf diesen Ideen, deren Einlösung die kommunistische Diktatur im Osten aber schwächte, da diese Öffnung ihren Herrschaftsanspruch zumindest mehr und mehr fragwürdig erscheinen ließ und dann massiv in Frage stellte. Das lag in der politischen Logik der Sache. Es wäre vermessen, nun im nachhinein zu behaupten, daß diese Politik die Wiedervereinigung oder auch nur den Fall der kommunistischen Regime garantiert hätte. Garantien dieser Art kennen Politik und Geschichte nicht. Aber es kann doch festgestellt werden, daß die Politik der Öffnung die Bedingungen dafür maßgeblich verbessert hat, daß kommunistische Herrschaft sich nicht halten konnte und am Ende die Menschen im anderen Teil Deutschlands selbst entscheiden konnten, wie sie ihre politische Zukunft gestalten wollen. Sie hat Voraussetzungen geschaffen, die die Menschen selbst, die der kommunistischen Herrschaft überdrüssig waren, dann auf überzeugende und eindrucksvolle Weise genutzt haben.

Ich sehe die sanfte Revolution unserer Landsleute in der ehemaligen DDR vor allem auch als einen Beitrag zur Stärkung des Selbstbewußtseins der Demokratie in Deutschland, einen Beitrag zur Entwicklung und Förderung einer demokratisch-politischen Kultur. Dieser Beitrag verdient im Gedächtnis der Deutschen einen ehrenvollen Platz. Wir Deutschen sind nicht reich an demokratischen Erfolgserlebnissen dieser Art. Wir sind gut beraten, wenn wir die Traditionen, an die wir anknüpfen können, pflegen und in unserem gemeinsamen Bewußtsein lebendig halten.

Das ist es auch, was uns heute mit Schumacher verbindet. Kurt Schumacher wollte eine moderne Sozialdemokratie. Er hat die maßgeblichen Ideen dafür entwickelt, bevor das Godesberger Programm der Sozialdemokratie dann ein neues Gesicht verlieh. Er wollte vor

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allem eine konsequente Entwicklung der SPD zur Volkspartei, die endgültige Überwindung aller Irritationen im Verhältnis von Sozialdemokratie und Staat und die Entfernung aller Reste von theoriefixiertem Dogmatismus aus dem Selbstverständnis und aus den Programmen der Sozialdemokratie.

Schumacher wollte die Sozialdemokratie zu einer Partei des arbeitenden Volkes machen, die in allen Schichten des deutschen Volkes Vertrauen und Unterstützung gewinnt. Er wußte, daß die Stabilität der neu gegründeten Demokratie eine solche Sozialdemokratie braucht. Unentwegt hat Schumacher Mitstreiter, die noch am alten verhaftet waren, davor gewarnt, die alten und die neuen Mittelschichten der deutschen Gesellschaft durch eine allzu enge Sprache und mißverständliche Forderungen von der Sozialdemokratie fernzuhalten. Er war zuversichtlich, daß eine Sozialdemokratie, die dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt den Weg bereiten will, im Interesse aller arbeitenden Menschen handeln muß. Das in der politischen Sprache der Partei, in der Klarheit ihres Programms, in ihrer Symbolik und in ihrem praktischen Handeln unzweideutig zum Ausdruck zu bringen, erschien Schumacher zu Recht als Grundlage für die Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie und gleichzeitig für die Stabilität der neuen Republik. Im Godesberger Programm ist unserer Partei dieser Durchbruch gelungen.

Schumacher war kompromißloser Anti-Kommunist, aber er vergaß nie, weil er redlich blieb, daß Marxismus und Kommunismus nicht dasselbe sind. Er wollte den Kommunisten auch nicht den unverdienten Erfolg gönnen, sich als die wahren Erben des Marxismus ausgeben zu können. Er ließ es nicht zu, daß die geschichtliche Tatsache einfach verdrängt oder das Opfer durchsichtiger Absichten wurde, daß im Westen Europas immer eine demokratische Lesart des Marxismus in den Parteien der Arbeiterbewegung lebendig gewesen war. Er hatte ja selbst erfahren, daß auch auf deren Grundlage Demokratie und Sozialreform erstrebt werden und ein kompromißloser Kampf gegen kommunistische Diktatur geführt werden konnte. Es mag heute nicht unbedingt opportun sein, ist aber doch ohne Zweifel ein Beitrag zur historischen Wahrheit, auch daran aus Anlaß der Würdigung Kurt Schumachers zu erinnern.

Schumacher hat die Erfahrung der Sozialdemokratie im Widerstand gegen die Hitler-Diktatur als einen wesentlichen Impuls der Erneuerung seiner Partei genutzt. Er wollte die Tatsache, daß Christen und ethisch motivierte Sozialdemokraten, Marxisten und Humanisten gleichermaßen für die Ideen der Menschenwürde und der sozialen

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Demokratie gegen Hitler gekämpft hatten, zur Grundlage einer Überwindung der letzten Reste überholter Traditionsbestände in der Sozialdemokratie machen. Die Godesberger Formel eines Begründungspluralismus, die auch im Berliner Programm ihre zentrale Rolle behalten hat, geht auf Schumachers Ermahnungen zurück. Er wollte die Sozialdemokratie zu einer offenen Partei machen, die deutlich zwischen den vorletzten Fragen, die die politische Ordnung betreffen, und den letzten Fragen persönlicher Überzeugungen und Glaubensentscheidungen trennt. Die Motive, die die Energien und die Orientierung verleihen, für eine Politik der sozialen Demokratie zu arbeiten, sind für den einzelnen von entscheidender Bedeutung, aber sie dürfen nicht zum Beschlußgegenstand von Parteien werden. Darum, so sagte Schumacher in der Zeit des Neubaus seiner Partei, müsse für Menschen, die aus dem Geiste der Bergpredigt oder des Humanismus, der marxistischen Gesellschaftsanalyse oder der Ethik ihren Weg in die Sozialdemokratie finden, gleichermaßen Raum sein. Entscheidend ist der gemeinsame politische Wille, die Gesellschaft nach den Grundwerten der sozialen Demokratie, nach Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, zu gestalten. Diese Einsicht Schumachers bleibt für uns wegweisend.

Ich frage mich manchmal, ob sie heute in der Gesellschaft im ganzen und vielleicht sogar in der eigenen Partei nicht mitunter im Sinne eines flachen Pluralismus mißverstanden wird, der meint, daß die geistig-moralischen Grundlagen der Politik keine so bedeutende Rolle mehr spielen. Ich nutze diese Gelegenheit, um deutlich zu machen, daß ich in dieser Frage ganz anderer Meinung bin. Wichtig ist - und auch das gehört zum Vermächtnis Schumachers -, daß wir Respekt vor unterschiedlichen geistig-moralischen Überzeugungen haben und uns nicht als Oberlehrer für andere aufführen. Aber es ist ebenso wichtig, daß wir sie haben und daß diejenigen, die sie suchen und danach fragen, sehen und wissen, daß sich unsere Politik letztlich aus ihnen speist. Vielleicht ist ein Stück der Entfremdung zwischen Teilen der jüngeren Generation und unseren Institutionen und großen Organisationen auch darauf zurückzuführen, daß wir zulassen, daß solche geistigen Quellen politischer Arbeit nicht nur aus dem Gesichtsfeld, sondern als Folge davon mitunter sogar aus der Praxis der Politik selber verschwinden. Für Schumacher, der bis zur Selbstverzehrung von seinen humanistischen Idealen politisch angetrieben war, und für die, die ihn erlebten, mußte diese Gefahr nicht zum Thema werden. Heute sollten wir darüber nachdenken, wie wir politisch-moralische Motive und Orientierungen wieder deutlicher

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sichtbar machen können. Zum einen, damit sie ihre orientierende Kraft für die vielen Einzelfragen, die Politik zu lösen hat, nicht verlieren. Aber auch, damit nachwachsende Generationen das Koordinatensystem, das für manchen der Älteren als Selbstverständlichkeit besonderer Erwähnung nicht bedarf, erkennen und sich an ihm reiben können.

Die Verfassung der Bundesrepublik, an deren Zustandekommen Schumacher großen Anteil hatte, begründet eine in der Architektur ihrer Institutionen vergleichsweise gelungene Demokratie. Aber auch sie bedarf einer lebendigen politischen Kultur, um erfolgreich und stabil zu bleiben. Politische Kultur lebt von den Überzeugungen der Menschen, im eigenen Denken und Handeln wirksam werden zu lassen, was Demokratie möglich macht und bedingt.

Das Thema Politikverdrossenheit ist zwar selber in den letzten zwei, drei Jahren bis zum Überdruß strapaziert worden. Vieles von dem, was an unserer Demokratie, an den Parteien und an den politischen Führungspersönlichkeiten gerügt wurde, ist in den Medien über Gebühr hochgespielt worden, wenn auch ohne Zweifel manches berechtigt war.

Wir haben in der Sozialdemokratie begonnen, neue Elemente der politischen Mitwirkung zu entwickeln, um die Parteien weiter zur Gesellschaft zu öffnen. Das Reden über Motive und Werte kann ja auch zur Ablenkung von praktischer Politik werden. Das haben uns die Konservativen vorgeführt, als sie zur Vorbereitung ihrer Übernahme der Regierungsverantwortung zu Beginn der 80er Jahre von einer geistig-moralischen Erneuerung sprachen, aber dann, sobald sie fest im Sattel saßen, vor allem enge Interessenpolitik machten, die nie die so großsprecherisch angekündigte moralisch-politische Substanz erkennen ließ. Heute ist Politik unübersichtlich geworden. Viele schwierige und nicht leicht zu durchschauende Einzelaufgaben sind zu lösen. Deren innere Verbindung ist nicht für jeden auf den ersten Blick zu erkennen. Darum wird es, wenn die praktische Ernsthaftigkeit und das politische Handwerk stimmen, wieder wichtiger werden, die geistig-moralischen Grundlagen im öffentlichen Bewußtsein deutlich zu machen, aus denen heraus Politik in der unübersichtlichen Fülle ihrer einzelnen Aufgaben Orientierung und Kraft, Richtung und Legitimation gewinnt. Schumacher hat die Kunst, beides zu verbinden, überzeugend beherrscht. Wir können, wir müssen darin von ihm für unsere Zeit lernen.

Historiker haben für das Wirken Schumachers als Führer der sozialdemokratischen Opposition gegen die Regierung Adenauer das

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Etikett von der "intransigenten Opposition" gefunden. Das mag zutreffen, wenn es um Schumachers rhetorischen Stil oder einige Kernfragen geht, in denen er unbeirrbar blieb. Das Etikett verfehlt indessen Schumachers Selbstverständnis als Oppositionsführer im ganzen. Es kann Schumacher nicht leicht gefallen sein, in den Anfangsjahren der zweiten deutschen Demokratie die Erfahrung machen zu müssen, daß nicht seine Partei, die Sozialdemokratie, die Führungsrolle im Staate übernahm, wie er es erhofft und immer vorausgesetzt hatte, sondern politische Kräfte, zu denen auch Erben und Mitläufer derer gehörten, die den Nationalsozialismus in Deutschland möglich gemacht hatten.

Sein selbstgewisser Satz, im Angesicht der Niederlage der ersten Demokratie geäußert, "Nach Hitler wir!" war für ihn mehr als ein politisches Schlagwort.

Das Bürgertum hatte für Schumacher mit der Selbstpreisgabe der Weimarer Demokratie seine politische Legitimation eingebüßt. Die Kommunisten waren zwar Gegner des Nationalsozialismus, zugleich aber stets auch Gegner von Demokratie und Rechtsstaat und kamen darum für eine Führungsrolle nicht in Betracht. Darum war für Schumacher der sozialdemokratische Führungsanspruch durch die Geschichte der Partei, ihren unbedingten Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Zukunftsfähigkeit ihres Gesellschaftsverständnisses etwas wie die natürliche Folge der deutschen Geschichte, wie sie sich bis zu diesem Zeitpunkt entwickelt hatte.

Die Enttäuschung darüber, daß die Sozialdemokratie dann durch die Entscheidung der Wähler, nicht ganz unbeeinflußt durch die Ausschaltung ihrer ehemaligen politischen Hochburgen in Sachsen und Thüringen, die Oppositionsrolle übernehmen mußte, hat Schumacher aber gerade nicht zu einer intransigenten Verhärtung verleitet. Es ist ihm nicht in den Sinn gekommen, die Legitimität der von der CDU geführten Bundesregierung zu bezweifeln. Wichtige Gesetze und politische Entscheidungen in den Anfangsjahren der Republik sind nur möglich geworden, weil die von Schumacher geführte Opposition ihnen die Zustimmung nicht versagte, wenn sie sie in der Sache für begründet hielt. Eines der herausragenden Beispiele dafür ist das Gesetz über die Montan-Mitbestimmung.

Der politische Konsens zwischen den Parlamentsparteien war in den Anfangsjahren der Republik geringer als heute. Um die soziale Marktwirtschaft gibt es keinen grundlegenden Streit mehr, auch wenn das Gewicht der sozialen Komponente, die Wege der ökologischen Erneuerung und das Verhältnis von privater Initiative und gesellschaftlicher Verantwortung zwischen der Sozialdemokratie und den

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"bürgerlichen Parteien" politisch umstritten bleibt. Die Westbindung der Republik ist Konsens.

Schumacher hat auch in seiner Rolle als Oppositionsführer zur Stabilisierung der zweiten Demokratie in Deutschland beigetragen. Ohne Spektakel hat er die Alternativen seiner Partei öffentlich sichtbar gemacht, wo es geboten war, Kooperation aber nie verweigert, wenn sie möglich und politisch sinnvoll war. Er hatte keinen Sinn für Opposition um ihrer selbst willen - und ich denke, darin hatte er völlig recht.

Ich denke, unser Land ist gut beraten, wenn es sich den Erwartungen, die in Europa und der Welt an uns gestellt werden, ohne jeden Anflug von Muskelspiel, aber auch ohne Verkrampfungen stellt. Die Vollendung der Einheit Europas, eine politische Vision, die das Heidelberger Programm der Sozialdemokratie von 1925 formulierte und die für Schumacher eine der Antriebskräfte seines politischen Handelns blieb, steht weiterhin auf der Tagesordnung. Heute haben wir die Chance, die Europäische Union nach Osteuropa hin zu erweitern, und damit ein politisches Projekt, das in beispielloser Weise Frieden, Zusammenarbeit und Wohlstand fördert, für einen größeren Teil Gesamteuropas Wirklichkeit werden zu lassen. Die deutsche Sozialdemokratie wird solide, beharrlich und zielstrebig, ohne überstürzte Aktionen und ohne Effekthascherei an Schumachers Vision weiter arbeiten und den Prozeß der Vollendung der europäischen Einigung und der Integration osteuropäischer Länder in die Gemeinschaft vorantreiben.

In einem Maße, das in Schumachers Zeiten unvorstellbar gewesen wäre, ist die Weltgesellschaft in ihren realen Verflechtungen, Abhängigkeiten und den Formen der Arbeitsteilung zusammengewachsen. Ihre politische Steuerungsfähigkeit aber hinkt weit hinter dem Notwendigen her. Willy Brandt hat uns darauf hingewiesen, daß wir neben einer wachsenden Rolle für die Vereinten Nationen, die sich aus der globalisierten Weltgesellschaft ergibt, die Rolle der regionalen Systeme politischer und wirtschaftlicher Kooperation nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Die Europäische Union ist ein gutes Beispiel. Willy Brandt nannte diese regionalen Kooperationssysteme "Bausteine für eine politische Weltgesellschaft". Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir diese Vision mit neuem Leben erfüllen.

Politik, Schumacher wußte das und hat es uns vorgelebt, ist nach dem berühmten Wort Max Webers "das beharrliche Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß". In der Mediengesellschaft, in der wir heute die Aufgabe der politischen Zukunftsgestaltung zu

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leisten haben, ist die Versuchung oft groß, Schaueffekte an die Stelle des Augenmaßes und Unterhaltsamkeit an die Stelle der Leidenschaft treten zu lassen. Das mag für den Tag seine Effekte bringen, löst aber auf längere Sicht keines der Probleme. Ich denke, wir stehen in einer guten und zukunftsfähigen sozialdemokratischen Tradition, die auch der Demokratie als ganzer am besten dient, wenn wir Leidenschaft und Augenmaß praktizieren, Leidenschaft für unsere Ziele, Augenmaß bei ihrer Umsetzung. Das politische Werk Schumachers bleibt für uns Sozialdemokraten dabei Verpflichtung und Orientierung.

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