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[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
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Klaus Schönhoven

Auf dem Weg zum digitalen Dienstleistungszentrum.
30 Jahre Archiv der sozialen Demokratie und Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Historiker haben bekanntlich die Aufgabe, das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften durch Erinnerungsarbeit zu formen und zu tradieren. Deshalb sind sie wohl auch immer dann die berufenen Festredner, wenn es darum geht, Jubiläen zu begehen und auf die Geschichte von Institutionen und ihre Entwicklung zurückzuschauen. Historiker bewegen sich jedoch - das werden Sie meinen folgenden Ausführungen unschwer entnehmen können - auf unsicherem Boden, wenn sie in die Zukunft blicken sollen. Das Thema meines Vortrags hat nämlich einen leicht visionären Titel. Er signalisiert, daß die beiden Einrichtungen, an deren Gründung vor dreißig Jahren wir heute erinnern [ Der Text des Vortrages vom 7. Juni 1999 wurde geringfügig erweitert und mit Fußnoten versehen.] , sich auf einem Entwicklungspfad befinden, der für ein Archiv und für eine Bibliothek auf den ersten Blick höchst sonderbar zu sein scheint: auf dem Weg zum digitalen Dienstleistungszentrum und damit auf dem Weg in eine virtuelle Welt. Wen diese futuristische Perspektive des Themas beunruhigt, der sollte sich an die Devise des sozialdemokratischen Parteitheoretikers Eduard Bernstein halten, der mit Blick auf die Zeitdauer und das Ziel von Reformprozessen feststellte: „Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles." [ So in dem 1898 verfaßten Artikel: Zusammenbruchstheorie und Kolonialpolitik; zitiert nach: Eduard Bernstein, Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus, Berlin-Bern 1901, S. 234.]

Mit dem unscheinbaren, aus dem Lateinischen stammenden Adjektiv digital wird nämlich angekündigt, daß sich die herkömmlichen Techniken des Lesen, Lernen und Forschens an der Wende zum 21. Jahrhundert in einem tiefgreifenden Wandel befinden, der von manchen bereits als „digitale Revolution" charakterisiert wird. [ So Thomas A. Schröder, Historisch relevante Ressourcen in Internet und Worldwideweb. Angebot, Bewertung und Ausblick, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 44. Jg. 1996, S.465-477, Zitat S. 465.] Auch wenn man den vielgeschundenen Revolutionsbegriff für diese technische Innovation nicht verwenden will, wird man doch zugestehen müssen, daß sich das Informationsverhalten und die Informationsmöglichkeiten im letzten Jahrzehnt dramatisch verändert haben. Jeder

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von uns kennt mittlerweile die Abkürzung PC und weiß, daß die Begriffe Software und Hardware in der Computersprache unterschiedliche Dinge bezeichnen. Die meisten von uns haben auch schon etwas von E-mail, Internet und Worldwideweb gehört. Viele von uns besitzen bereits eine Homepage und eine Mail-Box, schreiben ihre Briefe nicht mehr auf Papier, sondern tippen sie auf die Oberfläche eines Bildschirms und versenden sie mit einem Mausklick. Ganz zu schweigen von denen, die auf Datenhighways durch das Internet surfen und sich so tief in seinen virtuellen Räumen verirren und verlieren, daß ihnen die Rückkehr in die Realität immer schwerer fällt.

Aus der gedruckten Welt der Bücher, Zeitungen und Zeitschriften entsteht die digitale Welt der Zeichen und Ziffern. In diese Welt werden auch die real existierenden Bibliotheken transformiert, um dann an jedem beliebigen Ort wieder in einen lesbaren Text zurückverwandelt zu werden. Der Leser hat dann kein gebundenes Buch mehr in seinen Händen, das er anfassen und in dem er blättern kann, sondern einen Bildschirm vor Augen, vor dem er sitzt, um ein irgendwo vielleicht wirklich vorhandenes Buch in seiner virtuellen Form zu studieren. Und der Archivbenutzer der Zukunft wird wahrscheinlich keine Archivreisen mehr einplanen müssen; er wird keine Lesesäle mehr betreten und keine Aktenbündel mehr aufschnüren; er wird keine Originaldokumente mehr in Händen halten, die vor ihm vielleicht nur ihr Autor und ein Archivar berührt haben; er wird sich aber auch nicht mehr durch staubige Berge von vergilbten Schriftstücken, Zetteln und Notizen wühlen müssen, sondern seine Quellen durch elektronische Raster erschließen und daheim im eigenen Computer speichern können.

Diese „schöne neue Welt" der digitalen Information und Kommunikation wird die konventionellen Formen der schriftlichen Korrespondenz und das Forschen in Bibliotheken und Archiven zunächst ergänzen, später dann vielleicht völlig ersetzen. Das von der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert zum Programm erhobene Diktum der Aufklärung „Wissen ist Macht" wird im Zeitalter der elektronischen Übermittlungssysteme, die weltweit den Zugang zu Kenntnissen verfügbar machen und zugleich globale Netze der Kommunikation knüpfen, eine völlig neue Qualität gewinnen. Schon heute reden Fortschrittsoptimisten davon, daß eine neue Internationale entsteht: die virtuelle Internationale der politischen Linken und der Gewerkschaften und der mit beiden verbundenen Wissenschaftler. [ Vgl. etwa Eric Lee, The labour movement and the internet: the new internationalism, London 1997.] Ob über das Worldwideweb mehr Solidarität als auf den klassischen Wegen der Kommunikation und Kooperation erzeugt werden kann, bleibt allerdings abzuwarten.

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Dieser Blick in die Zukunft ist zugleich auch ein Blick in die Vergangenheit. Verfolgt man nämlich die Forderung nach umfassender Bildung, schneller Information und die Idee der historischen Identitätsstiftung bis in die Frühzeit der Arbeiterbewegung zurück, dann stößt man auf überraschend moderne Überlegungen. So trat der Königsberger Sozialdemokrat Johann Jacobi bereits in der Reichsgründungszeit für das systematische Sammeln von Quellen ein, weil er meinte, für künftige Kulturhistoriker könnte die Erinnerung an die Gründung eines kleinen Arbeitervereins vielleicht wichtiger sein als die Erinnerung an manche große Schlacht. Der aus der Pfalz stammende Sozialdemokrat Johann Philipp Becker forderte schon in den 1860er Jahren als Redakteur der Internationalen Arbeiter-Association in Genf die Einrichtung eines Archivs und einer Bibliothek zur Geschichte der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung. Und der Hamburger Buchhändler August Geib wurde in den 1870er Jahren als Mitglied des Reichstags und des sozialdemokratischen Parteivorstands zum Fürsprecher dieser Idee. Geib war der Mentor von August Bebel, der im Februar 1878 in einem Artikel im „Vorwärts" „die Notwendigkeit der Gründung einer allgemeinen Parteibibliothek" betonte. [ Vorwärts, Nr. 21 vom 20. Februar 1878, abgedruckt in: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, 1863 bis 1878. Bearb. von Rolf Dlubek und Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Dieter Malik, Berlin 1970, S. 480-483. Vgl. auch Paul Mayer, Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs und das Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. VI/VII, 1966/67, S. 1-198, S. 10 ff.; s. auch Susanne Miller, Geschichtsbewußtsein und Sozialdemokratie, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 1994, S. 307-311. Der Text des Artikels von August Bebel ist im Anhang der vorliegenden Broschüre abgedruckt.]

Bebel begründete seinen Appell für eine sozialdemokratische Parteibibliothek, die zugleich die Quellen der Arbeiterbewegung sammeln sollte, mit dem Argument, die existierenden Bibliotheken würden „meist nach ganz anderer Richtung ihre Vervollständigung suchen". Damit umschrieb er vornehm den Tatbestand, daß den öffentlichen Bibliotheken im frühen Kaiserreich der Ankauf von sozialistischer Literatur verboten war. Diese wurde jedoch von den mit der Überwachung der Arbeitervereine beauftragten Polizeibehörden gesammelt und in staatlichen Geheimarchiven verwahrt. Bebel trat aber auch deshalb für die Gründung einer eigenen Bibliothek ein, weil - wie er in seinem Artikel betonte - die Buchpreise und die geringe Auflage vieler Schriften „ein nicht zu überwindendes Hindernis" für Bildungshungrige seien. Außerdem schrecke mancher wißbegierige Arbeiter davor zurück, „sich für teures Geld ein Werk anzuschaffen, das er nur einmal für einen bestimmten Zweck braucht und sonst nie wieder". Schließlich plädierte Bebel für eine

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umfassende Bibliothek, deren Inhalt sich nicht „einseitig bloß auf die sozialistische und volkswirtschaftliche Literatur" beschränken dürfe, sondern die auch „Geschichte und Kulturgeschichte, Statistik, Naturwissenschaften, Gesundheitslehre, Technik und Agronomie" sowie „ebenso einige wirklich gute philosophische Werke" sammeln müsse, die für „das volle und ganze Verständnis der Neubildung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage" erforderlich seien. Der Parteivorsitzende der Sozialdemokratie konzipierte also schon vor 120 Jahren die Sammelgebiete einer historisch-sozialwissenschaftlichen Spezialbibliothek. Seine Erwartungen hat zweifellos die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung erfüllt, die mit rund 600 000 Bänden heute zu den zehn größten Bibliotheken auf diesem Sektor in der Welt gehört.

Bebels Pläne zerstörte das Sozialistengesetz, das im Herbst 1878 die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in den Untergrund verbannte. Es spricht aber für die erstaunliche politische Zuversicht und den wissenschaftlichen Weitblick der verfolgten Sozialdemokratie, daß sie im Schweizer Exil 1882 ein Parteiarchiv einrichtete und dieses damit beauftragte, „eine möglichst vollständige Sammlung aller auf das Parteileben bezüglichen Dokumente und Schriftstücke" anzulegen [ So der Beschluß der Parteikonferenz, die vom 19. bis 21. August 1882 in Zürich tagte; zitiert nach Mayer, S. 13. Dort auch die folgenden Angaben.] . Aufgenommen werden sollte auch die sozialistische Literatur, Parteibroschüren, Zeit- und Flugschriften, Wahlaufrufe und charakteristische Prozeßakten. Die Anhänger der Partei wurden aufgefordert, sich am Aufbau von Archiv und Bibliothek „durch Beiträge aller Art recht eifrig zu beteiligen" [ Der Sozialdemokrat, Nr. 35 vom 24. August 1882.] . Um den Doppelcharakter der Institution exakt zu fassen, sprach man von der „Archiv-Bücherei" der Sozialdemokratie. An diese Tradition knüpften SPD und Friedrich-Ebert-Stiftung bekanntlich in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts an, als sie das „Archiv der sozialen Demokratie" konzipierten.

Das in den Jahren bis 1888 in Zürich zusammengetragene Material umfaßte eine Vielzahl von Schriften und Dokumenten, unter anderem auch die Briefe und Erinnerungen von Ferdinand Lassalle und die Korrespondenz von Johann Philipp Becker. Schon 1885 wurden die Bestände bei der Brandassekuranz des Kantons Zürich mit der beachtlichen Summe von 8.200 Franken versichert. Drei Jahre später beschloß der Schweizer Bundesrat im April 1888 nach einer massiven diplomatischen Intervention Bismarcks, die Exilvertreter der Sozialdemokratie aus der Schweiz auszuweisen. Mit den Ausgewiesenen reiste auch das Parteiarchiv in 16 Kisten von Zürich nach London. Es umfaßte neben einem großen Anteil von ungedrucktem Material einen Buchbestand

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von über 3.200 Bänden und eine Sammlung von 160 verschiedenen Periodika in insgesamt 372 Bänden.

In London wurde das Parteiarchiv im Haus von Eduard Bernstein verwahrt und von ihm und Karl Kautsky betreut, bevor es dann nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Februar und März 1891 nach Berlin verfrachtet werden konnte. Damit war einem Antrag der Danziger Delegierten auf dem SPD-Parteitag von 1890 entsprochen worden, die gefordert hatten, in Berlin möge eine Bibliothek errichtet werden, „welche nur werthvolle wissenschaftliche Werke führt, die den agitatorisch wirkenden Genossen im ganzen Reiche zur Benutzung stehen sollen" [ Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a.S. vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin-Bonn (Reprint) 1978, Antrag 13, S. 272. ] . Es dauerte jedoch bis 1893, bis das aus London überführte Archiv endlich ausgepackt und im Domizil des Parteivorstandes untergebracht war. Schon damals berichtete das Parteitagsprotokoll von der Ratlosigkeit des Parteivorstandes beim Umgang mit den angesammelten Papierbergen: „Der Eifer und der gute Wille der Parteigenossen" habe dem Archiv „neben vielem außerordentlich Werthvollen auch mancherlei Spreu zugeführt". Deshalb sei „mit schonender Hand Auslese gehalten worden" [ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Frankfurt am Main vom 21. Oktober bis 27. Oktober 1894, Berlin-Bonn 1978 (Reprint), S. 35. ] . Die Geburtsstunde der Aktenkassation in sozialdemokratischen Archivbeständen liegt also auch schon mehr als hundert Jahre zurück.

In den folgenden Jahrzehnten wuchsen die Bestände der sozialdemokratischen Archiv-Bibliothek kontinuierlich an. [ Die Geschichte des Archivs und der Bibliothek im Kaiserreich hat Mayer,
S. 45 ff., minutiös nachgezeichnet. ]
In der Mitte der zwanziger Jahre zählte die Bibliothek über 20.000 Bände, deren wissenschaftlicher Wert nicht quantitativ, sondern nur qualitativ gemessen werden kann. Die Bibliothek besaß eine umfassende Sammlung von Werken zur Geschichte der sozialistischen Ideen und der sozialen Bewegungen; sie verfügte über einen bedeutenden Bestand an Originalschriften und gedruckten Quellen, aus dem die Zeitungen und Zeitschriften herausragten; sie hütete die Erstausgaben der bedeutendsten sozialistischen Theoretiker, angefangen von Saint-Simon und Proudhon, Robert Owen und Wilhelm Weitling bis hin zu den Erstausgaben der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels mit handschriftlichen Widmungen der beiden Autoren. Während der Weimarer Jahre wurde das Parteiarchiv zu einem Zentrum der sozialwissenschaftlichen Forschung, das Benutzer aus dem In- und Ausland anzog. Im Gästebuch des Archivs, dessen Ein-

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tragungen bis zum November 1932 reichen, finden sich viele prominente Namen aus dem geistigen und politischen Leben, angefangen bei dem russischen Revolutionär Leo Trotzki über den Lassalle-Biographen Hermann Oncken bis zu den beiden österreichischen Sozialisten Max und Friedrich Adler.

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten gelang es der sozialdemokratischen Parteiführung zwar, die wertvollsten Bestände des Archivs in Sicherheit zu bringen, doch die Vernichtung zahlreicher Parteiakten war nicht zu verhindern. Die Bibliothek wurde von den Nazis ausgeplündert und anderen Institutionen übergeben. Teile tauchten nach 1945 an verschiedenen Stellen auf. Nur weniges konnte zurückerworben werden. Als sich der Parteivorstand im Prager und Pariser Exil neue Finanzierungsquellen für seinen Kampf gegen das NS-Regime erschließen mußte, entschied man sich nach langen Diskussionen dafür, die geretteten Archivbestände, darunter den Marx-Engels-Nachlaß, zu verkaufen: Für circa 98 000 Reichsmark wechselten die bedeutenden Archivalien den Besitzer und gelangten in das Internationale Institut für Sozialgeschichte nach Amsterdam. Als Mitbewerber um das unschätzbare Archivgut trat auch die Sowjetunion auf, deren Millionenofferte der Exilvorstand der SPD aber unter dem Eindruck der von Stalin in Moskau inszenierten Schauprozesse ausschlug. [ Vgl. zur Diskussion in der Sopade Marlis Buchholz/Bernd Rother (Hg.), Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933-1940, Bonn 1995, passim; s. auch die ausführliche Darstellung von Mayer, S. 81 ff.]

Der Wiederaufbau des historischen Parteiarchivs stand in den Nachkriegsjahren zunächst im Zeichen der Improvisation. Die Tagesarbeit war der Parteiführung wichtiger als die Erinnerungsarbeit. Die Initiative für die Wiedergründung eines Parteiarchivs und einer Bibliothek der Sozialdemokratie ging von Rudolf Rothe aus, der kein „gelernter" Historiker, sondern Metallarbeiter war. In ihm lebte aber der Lese- und Bildungshunger der alten Arbeiterbewegung fort, den auch eine zehnjährige Haftzeit im Zuchthaus Waldheim und im Konzentrationslager Buchenwald während der NS-Zeit nicht hatte zerstören können. Als Gegner der Zwangsvereinigung von SPD und KPD floh Rothe 1946 nach Westdeutschland. Als Angestellter beim SPD-Vorstand in Hannover und dann in Bonn legte er eine Sammlung von Dokumenten und Publikationen an, wobei er bis in die USA Kontakte zu Emigranten knüpfte, um seltene Bestände zurück nach Deutschland zu holen. Zunächst war diese Sammlung in einem Hinterzimmer der „SPD-Baracke" in Bonn untergebracht, bevor sich nach der Wiedergründung der Friedrich-Ebert-Stiftung 1954 langfristig die Möglichkeit zu einem systematischen

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Ausbau eröffnete. Vorher begann unter der ebenso hartnäckigen wie geduldigen Regie des Parteiarchivars Paul Mayer ein systematischer Rekonstruk-
tionsprozeß, in dem 1968 mit der Übernahme des jahrzehntelang verschollenen Bestandes des Prager Exilvorstandes der SPD ein spektakulärer Erfolg verzeichnet werden konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war der Grundstein für das Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung bereits gelegt. Willy Brandt hat bei der Grundsteinlegung im Dezember 1967 die politischen und historiographischen Motive herausgestellt, die zu dieser Entscheidung geführt haben: Politisch ging es der Sozialdemokratie darum, dem Alleinvertretungsanspruch Ostberlins für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung entgegenzutreten und deutlich zu machen, „wie sehr etwa die konkreten Erscheinungsformen eines SED-Regimes von dem verschieden sind, was Ursprung, Ziel und Anliegen der Arbeiterbewegung war". Brandt betonte: „Der aufreibende Kampf für die Emanzipation des vierten Standes, für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft wurde geführt mit den Zielen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer Gesellschaft, die die Entfaltung jedes Menschen gewährleistet - nicht für die Ersetzung einer Form der Unterdrückung durch eine andere." Die im Archiv der sozialen Demokratie gesammelten Dokumente sollten als wissenschaftliche Beweisstücke davon Zeugnis geben, „daß der deutsche Sozialismus in seiner heutigen Ausprägung in der Tradition einer Bewegung steht, die durch ihre humanitären und freiheitlichen Triebkräfte gekennzeichnet ist". Unter der Obhut der Friedrich-Ebert-Stiftung sollte das Archiv aber nicht nur Dokumente sammeln und wissenschaftlich auswerten, sondern auch „der politischen Bildung und der Festigung des demokratischen Bewußtseins" dienen. Brandt stellte also das neugegründete Archiv und seine Bibliothek bewußt in die im 19. Jahrhundert in der Arbeiterbewegung von Jacobi, Becker, Geib und Bebel begründete Tradition der historischen Identitätsbildung und der politischen Aufklärung. [ Die Rede Brandts bei der Grundsteinlegung für das Archiv der sozialen Demokratie am 12. Dezember 1967 wurde zitiert nach: SPD. Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 592/67 vom 12.12.1967 (im Anhang abgedruckt).]

Diese Leitmotive griff Brandt anderthalb Jahre später bei der Eröffnung des Archivs der sozialen Demokratie am 6. Juni 1969 erneut auf, als er an den hundertjährigen Kampf der Sozialdemokratie um Demokratie, Freiheit und Mitgestaltung erinnerte. Er beklagte, daß die Arbeiterbewegung von der etablierten Geschichtswissenschaft lange Zeit vernachlässigt worden sei, aber er gestand auch ein, daß sie selbst zu wenig für die kritische Pflege ihres historischen Erbes getan habe. Erneut verwies Brandt auf die fundamentalen Unter-

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schiede zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie und forderte vor allem die jungen Wissenschaftler auf, „mit dem Wissen um die europäischen Freiheitskämpfe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts die Geschichte der sozialen Bewegung in der Dritten Welt zu schreiben". Das Archiv und die Bibliothek sollten „nicht allein unter historischen Gesichtspunkten ausgewertet werden", sondern - so Brandt - auch den „in die Zukunft weisenden Zweigen der Sozialwissenschaften zur Verfügung stehen" [ Der Text der Rede ist im Anhang abgedruckt.] .

Der Parteivorsitzende der SPD formulierte damit ein inhaltliches und methodisches Konzept, das auf mögliche Verbindungslinien zwischen der europäischen und außereuropäischen Emanzipationsgeschichte hinwies. Dieses Forschungsfeld hatte die traditionelle Arbeiterbewegungshistoriographie noch kaum erschlossen. Sie war auf die organisatorische Entwicklung und die ideologischen Auseinandersetzungen der verschiedenen sozialistischen Parteien in Europa fixiert gewesen, hatte ihren Blick auf Programme und Persönlichkeiten gerichtet und die sozialen Fundamente der Arbeiterbewegung nur selten freigelegt. Seit den späten sechziger Jahren vollzog sich jedoch ein Perspektivenwechsel des historischen Erkenntnisinteresses, das sich nun stärker auf die alltäglichen Formen und Bedingungen des Arbeiterdaseins und die Zusammenhänge zwischen Arbeiterexistenz und Arbeiterbewegung konzentrierte. Diese sozialgeschichtliche Erweiterung der Partei- und Gewerkschaftshistoriographie verlangte nach interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Sozialhistorikern, Soziologen und Ökonomen und ließ eine Forschungsdisziplin entstehen, in deren Zentrum die internationale Gesellschaftsgeschichte im Zeitalter der Industrialisierung steht. [ Vgl. dazu als Zwischenfazit Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich. Berichte zur internationalen historischen Forschung, München 1986. ] Ganz in diesem Sinne entwickelte sich das vom Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung als historisches Jahrbuch herausgegebene „Archiv für Sozialgeschichte", das ab den frühen siebziger Jahren seine Themenschwerpunkte auf die Geschichte der Emanzipationsbewegungen seit dem frühen 19. Jahrhundert ausdehnte und unter der Regie von Dieter Dowe, Kurt Klotzbach und Hans Pelger zum wichtigsten historiographischen Schrittmacher der modernen Sozialgeschichte in Deutschland wurde. [ Dies betonte Gerald D. Feldman in seinem Festvortrag aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des „Archivs für Sozialgeschichte": Sozialgeschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung, Bonn 1985. ]

Wenn es ein Zufall war, daß diese methodische Neuorientierung der Arbeiterbewegungsforschung zusammenfiel mit der Eröffnung des Archivs der

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sozialen Demokratie, dann war dies ein glücklicher Zufall. Die konzeptionellen Wegbereiter des Archivs in der Friedrich-Ebert-Stiftung - hier sind vor allem Alfred Nau, Horst Heidermann und ihre Mitarbeiter zu nennen - wollten bereits mit ihrer Namenswahl andeuten, daß es um die Einrichtung einer Forschungsstätte ging, die über den engeren Parteihorizont der Sozialdemokratie hinausblicken sollte. Man dachte schon damals an die Einbeziehung des Archivguts der Gewerkschaften, und man war von Anfang an entschlossen, die Sammelaktivitäten der Bibliothek nicht parteipolitisch einzugrenzen.

Dieses zukunftsweisende Konzept verloren Vorstand und Geschäftsführung der Friedrich-Ebert-Stiftung fortan nicht mehr aus den Augen. Als sich Anfang der neunziger Jahre unverhofft die Chance eröffnete, das Archiv des Deutschen Gewerkschaftsbundes und dessen Bibliothek in die Obhut der Stiftung zu nehmen, haben Holger Börner und Jürgen Burckhardt entschlossen zugegriffen. Gemeinsam mit Dieter Dowe und den Archiv- und Biblio-theksexperten im Historischen Forschungszentrum nutzten sie - übrigens gegen mancherlei Widerstände aus der Historikerzunft - die Gunst der Stunde, um in der Friedrich-Ebert-Stiftung auch die gewerkschaftliche Tradition der sozialen Demokratie auf Dauer zu verankern.

Blickt man auf die dreißigjährige Entwicklung der 1969 aus den Büchersammlungen des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung und des SPD-Parteivorstandes entstandenen heutigen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung zurück, muß man vor allem betonen, daß der hier über drei Jahrzehnte hinweg erworbene Bücherbestand nicht ungezielt wucherte, sondern gezielt wuchs. Hinter dem systematischen Ausbau zu einer der zehn größten sozialwissenschaftlich-historischen Spezialbibliotheken auf der Welt stand ein wissenschaftspolitisches Konzept: Die Bibliothek sollte zum gedruckten Gedächtnis der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Gewerkschaften werden [ Vgl. dazu Rüdiger Zimmermann, Die Bibliothek des Archivs der sozialen Demokratie, Bonn 1985; ders., Neue Aktivitäten der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 32, 1996, S. 539-551. Rüdiger Zimmermann ist der heutige Leiter der Bibliothek.] , wobei man nicht von einem eng eingezäunten Geschichtsverständnis ausging, sondern die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aus der Perspektive unterschiedlicher Forschungsrichtungen in das Blickfeld rückte. Es entstand eine Bibliothek, in der sich historische und sozialwissenschaftliche Disziplinen begegnen und bestärken, und es entstand eine Bibliothek, die in diesem Spannungsfeld der Interdisziplinarität ein unverwechselbares eigenes Profil erhielt.

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Diese Profilierung wird geprägt von dem Beschluß, die wissenschaftlichen Publikationen über die deutsche Arbeiterbewegung und die deutsche Sozialgeschichte möglichst vollständig zu erwerben, die sogenannte „graue Literatur" der sonst nirgendwo beachteten Broschüren und gedruckten Traktate aus dem Umfeld von Sozialdemokratie und Gewerkschaften systematisch zu sammeln sowie in die Bestände der Bibliothek auch die Veröffentlichungen der Parteien und Gewerkschaften Westeuropas zu integrieren. Dies alles schlägt sich in einem jährlichen Zuwachs von neuerdings etwa 20.000 Bänden (1998) nieder, die in Bibliothekskataloge eingearbeitet und den Benutzern zur Verfügung gestellt werden müssen.

Das Wachstum der Bibliothek beruht aber nicht nur auf der kontinuierlichen Sammeltätigkeit, sondern auch auf der Übernahme von wertvollen geschlossenen Buchbeständen aus Privatbesitz oder ganzer Organisationsbibliotheken. Hier sind die Nachlaßbibliotheken von Carl Severing oder Walter Auerbach zu nennen, aber auch die soeben erst hinzugekommene Sammlung Kurt Hirche, die eine einzigartige Fundgrube expressionistischer Literatur darstellt. Aus organisationsgeschichtlicher Perspektive war die Übernahme der Bibliothek des DGB-Bundesvorstandes im Februar 1995 das herausragendste Ereignis seit der Gründung, denn mit ihr wuchsen die Bestände um 100.000 Bände. Hinzugekommen sind ferner die Hausbibliotheken von nationalen und internationalen Gewerkschaftsverbänden, die seit einigen Jahren alle unter das schützende Dach der Friedrich-Ebert-Stiftung drängen. [ Die Bestände der Bibliothek werden durch eine Reihe von Publikationen regelmäßig erschlossen. Vgl. zuletzt: Zeitungen und Zeitschriften der deutschen Gewerkschaftsbewegung in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1998; Festschriften der IG Medien und ihrer Vorläuferorganisationen, Bonn 1998; Zeitungen, Zeitschriften, Protokolle, Jahrbücher und Geschäftsberichte aus dem Bestand der IG Medien, Bonn 1998; IUL und IBV: Protokolle und Berichte, Bonn 1998.]

Da Bibliotheken nur dann einen Sinn machen, wenn sie auch benutzt werden und für alle Interessenten bequem zugänglich sind, hat sich seit Beginn der neunziger Jahre in Bonn die eingangs bereits erwähnte digitale Revolu-
tion angebahnt: Die Kataloge wurden - wie es in der Fachsprache heißt - in einem Jahrhundertprojekt maschinenlesbar konvertiert, so daß seit 1995 nationale und internationale Interessenten sich zuhause in Datenbanken mit den Bonner Beständen vertraut machen können, ohne in die alte Bundeshauptstadt kommen zu müssen, um selbst in den Katalogen die Karteikarten umzublättern. Wie schnell sich die Nutzung der Bibliothek seit der Einführung der mit dem programmatischen Namen „Allegro" versehenen Bibliothekssoftware verändert hat, spiegelt sich in folgenden Zahlen wider: 1997 wurden 20.000

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Bände in Bonn direkt und 7.000 Bände über die Fernleihe ausgeliehen, aber schon 200.000 „Kunden" informierten sich über das Internet vom Angebot der Bibliothek.

Dieses Prinzip des offenen Bibliothekszugangs ist die Vorstufe zur digitalen Bibliotheksbenutzung und damit der Möglichkeit, nicht nur die Titelverzeichnisse, sondern auch die Texte weltweit über das Internet abrufen zu können. Bereits heute sind ausgewählte Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung im Netz und damit überall auf der Welt nachlesbar. Außerdem können Nutzer im Internet direkt Kopien von Artikeln bestellen. Aus Bibliothekaren werden elektronische Verleger, die ihre Bestände auf dem virtuellen Markt anbieten. Das mag begeisterte Büchernarren beunruhigen, weil die Texte auf dem Bildschirm nicht mehr greifbar sind, man kein Buch mehr in Händen hält und man keine Seite mehr raschelnd umblättern kann. Andererseits sind gerade die wertvollsten Bestände unserer Bibliotheken von durch Benutzer verursachten Schäden, von Papierzerfall und damit von unwiederbringlichem Textverlust bedroht. Deshalb wird man die digitale Rettung der alten Buchbestände begrüßen müssen, auch wenn man kein Freund aller radikalen Veränderungen ist und dem realen Buch in der Hand immer noch den Vorzug gibt vor seiner virtuellen Fassung auf dem Bildschirm. Bücherverbrennungen sind jedoch im Zeitalter des Internets nicht einmal mehr „im Namen der Rose" (Umberto Eco) möglich.

Die modernen Datenverarbeitungssysteme haben natürlich auch nicht vor den altehrwürdigen Bastionen des Archivwesens haltgemacht. Das 1969 eingerichtete Archiv der sozialen Demokratie ist seitdem quantitativ und qualitativ bedeutend gewachsen. Es zählt heute zu den bedeutendsten Archiven in der Bundesrepublik und ist eines der größten Privatarchive in der Welt. In seinen Magazinen reihen sich die Akten auf einer Länge von mehr als 30 km. Sammelschwerpunkte sind die zentralen und regionalen Bestände von Parteigliederungen der Sozialdemokratie und ihrer Parlamentsfraktionen in Bund und Ländern. Hinzu kommen Schriftgutbestände von befreundeten Organisationen und Archivalien der nationalen und internationalen Gewerkschaftsbewegung.

Ohne das Engagement der Mitarbeiter des Archivs und der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung wäre mancher wertvolle Bestand im Prozeß des Zusammenschlusses von Einzelgewerkschaften und internationalen Dach-
organisationen, der vielfach neben der organisatorischen Konzentration auch von Konfusion im Umgang mit der eigenen Geschichte geprägt war, der Forschung für immer verloren gegangen. Auf diesem Sektor der gewerkschaftlichen Quellensicherung stellte die Eingliederung des Archivs des Deutschen

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Gewerkschaftsbundes und der Archive bedeutender Einzelgewerkschaften - zu nennen ist als jüngste Erwerbung das bedeutende Archiv der IG Metall - sowie des Archivs der Deutschen Angestellten Gewerkschaft in den letzen Jahren einen qualitativen Sprung dar: Das Archiv der sozialen Demokratie ist heute das größte Gewerkschaftsarchiv in Deutschland und nimmt im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Zusammen mit der Bibliothek ist es zu einer zentralen Forschungsstätte geworden, die keinen Vergleich zu scheuen braucht.

In den Archivkellern liegen aber auch noch über 800 Nachlässe und Deposita, in denen sich das Leben der bedeutendsten Theoretiker und Politiker der deutschen Arbeiterbewegung vielfältig widerspiegelt. Die aktuelle Namensliste reicht von Viktor Agartz bis Georg-August Zinn und verzeichnet zentimetergenau, wie umfangreich der einzelne Nachlaß ist. Spitzenreiter ist derzeit Willy Brandt, dessen Nachlaß nach ebenso mühevollen wie langwierigen Verhandlungen in einem eigenen Archivbestand zusammengefaßt werden konnte. Er umfaßt 400 Meter. Nur 20 Zentimeter hinter Brandt folgt Hans-Jochen Vogel auf Platz Zwei mit derzeit genau 399,80 Aktenmetern, die aber - hier muß man kein Prophet sein - noch kräftig anwachsen werden. Auf Platz Drei ist Herbert Wehner mit 250 Aktenmetern registriert, gefolgt von Helmut Schmidt mit 241 Metern, dessen persönliche Akten sich aber noch zum Teil in Hamburg befinden.

Zu diesem Archivbestand gehören natürlich auch die persönlichen Papiere der Gründer und frühen Repräsentanten der Sozialdemokratie, die teilweise aus dem ehemaligen Parteiarchiv der KPdSU auf Mikrofilm nach Deutschland zurückgekehrt sind. Hier reicht die Liste der Parteiführer und Parteitheoretiker von Wilhelm Weitling, Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht über Franz Mehring und Eduard Bernstein bis hin zu Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Diese Heimkehr der Schriften und Korrespondenzen der alten sozialdemokratischen Parteiprominenz in das Archiv der sozialen Demokratie bewegt nicht nur die Historiker.

Die Zahlenangaben über den Umfang der Bestände signalisieren, daß namentlich die Zeitgeschichtsforschung nicht an Quellenmangel leidet, sondern unter Papierbergen zu ersticken droht. Dies ist sicherlich auch ein Grund dafür, daß moderne Archive ebenfalls den Weg der Digitalisierung beschreiten. Sie trägt zur Bestandserhaltung bei, weil Recherchen direkt am Computer erfolgen können und die Originale nicht mehr ausgehoben werden müssen. Man kann Faksimiles und Reproduktionen herstellen; man kann - dies ist der Inhalt eines in der Fachwelt vielbeachteten Pilotprojekts des Archivs - Flugblätter und Flugschriften mit Unterstützung einer Archiv-Software inhaltlich

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erschließen und mit komplizierten Schrifterkennungsprogrammen elektronisch im Volltext erfassen; man kann - auch hier führt das Archiv der sozialen Demokratie die Phalanx der archivalischen Innovatoren an - mit Hilfe der EDV die wertvollen Plakatbestände des Archivs von rund 60.000 Exemplaren verzeichnen, bildlich erfassen und darstellen. Dank der großzügigen finanziellen Ausstattung durch die Geschäftsführung der Friedrich-Ebert-Stiftung und mit Hilfe von Projektmitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der VW-Stiftung ist das Archiv der sozialen Demokratie auf dem Feld der Digitalisierung von audiovisuellen Quellen heute methodisch und technisch führend in der Bundesrepublik.

Die geradezu mythische Zauberformel für den Zutritt zu diesen Schatzkammern lautet „FAUST". Hinter diesem an Goethe erinnernden Begriff verbirgt sich die computergestützte Datenbank des Archivs. Deren ungeahnte Recherchemöglichkeiten jenseits der klassischen Findbücher erschließen sich dem Benutzer erst Schritt für Schritt, wenn er sich auf ungewohnte Codierungssysteme einläßt und mit zwölfstelligen Zahlen- und Buchstabenungeheuern umzugehen lernt. In dieser modernen Archivwelt ist weder für Digital-Legastheniker ein Platz noch für Schatzsucher, die Faszikel für Faszikel eigenhändig unter die Lupe nehmen möchten, sich in Handschriften und apokryphen Kritzeleien auf Notizzetteln vertiefen wollen, von Randnotizen und vom Reiz des Authentischen elektrisiert werden, Farbstiftvermerke als Wegweiser durch die Akten nutzen, um herauszubekommen, wie fleißig oder wie faul Politiker das tägliche Aktenstudium betrieben haben.

Aus diesen nostalgischen Bemerkungen spricht - ich gebe es gerne zu - eine unzeitgemäß gewordene Forscherneugier und ein Hang zum Historismus, der durch die regelmäßige Archivarbeit noch verstärkt wird. Nur dabei stößt man als Historiker auf bislang unbekannte Briefe oder Akten, die es möglich machen, aus vielen kleinen Mosaiksteinen Entscheidungsprozesse zu rekonstruieren oder das persönliche Profil von Politikern zu konturieren. Archiv-
arbeit ist immer Fronarbeit und Freude zugleich. Sie erzieht zum konkreten Denken, vermittelt Einblicke in die Mehrdeutigkeit historischer Situationen und veranschaulicht das Eigengewicht von Details, sie zeigt die Vielschichtigkeit von individuellen Konstellationen und die Relativität von übergreifenden Erklärungen. Im Archiv erfährt der Historiker wie sonst an keinem anderen Ort, daß Forschen spannend ist und durchaus Vergnügen bereiten kann.

An dieser Stelle ist es höchste Zeit, auch diejenigen zu erwähnen, die in der Bibliothek und im Archiv der sozialen Demokratie dafür sorgen, daß man sich hier besonders wohl fühlt. Wer in der deutschen und internationalen Archiv- und Bibliothekswelt seine Erfahrungen gemacht hat, wird jeden Be-

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such im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung genießen. Hier findet er nicht nur freundliche, sondern auch kompetente Mitarbeiter, deren Geduld zumeist grenzenlos ist, wenn es um die Erschließung der archivalischen und bibliothekarischen Schatzkammern der Friedrich-Ebert-Stiftung geht. Diese Fürsorge für Forscher und Leser beginnt an der Ausleihe von Archiv und Bibliothek, wo freundliche Begrüßung und geduldige Beratung oft Hand in Hand gehen; die Fürsorge findet ihre Fortsetzung in den Gesprächen mit den Fachreferenten, und sie endet schließlich bei den vielen Mitarbeitern hinter den Kulissen, die im Archiv und in der Bibliothek tagtäglich den langen Marsch durch die Regale antreten, um auch die abgelegensten Benutzerwünsche zu erfüllen.

In diesem modernen Gebäude der Friedrich-Ebert-Stiftung wird noch eine weitere Forderung erfüllt, die bereits zu den Zeiten Bebels als eine Vorbedingung für erfolgreiches Forschen und Lernen formuliert wurde: 1878 schlug ein Leser des Artikels von Bebel vor, man solle an die Lesezimmer des Archivs und der Bibliothek ein gut frequentiertes Lokal anreihen. Dies müsse jedoch bedeutend schöner und eleganter, besser und billiger als die gewöhnlichen Arbeiterkneipen sein. Auch dieser Wunsch ist in der Friedrich-Ebert-Stiftung erfüllt worden. Die Hoffnung dieses Lesers, daß man aus den Gewinnen des Lokals den Ankauf der Bücher für die Bibliothek bestreiten könne, diese Hoffnung hat sich allerdings nicht erfüllt. Er vertraute damals aber auch, wie er schrieb, auf die „Macht der Association" [ Vorwärts, Nr. 51 vom 3. Mai 1878, zitiert nach Mayer, S. 12 f.] , die das Arbeiterschicksal verändern und verbessern werde.

Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Macht ist nach wie vor Wissen. Dieses Wissen stellt die Friedrich-Ebert-Stiftung als Association seit nunmehr dreißig Jahren in vorbildlicher Weise in ihrer Bibliothek und in ihrem Archiv zur Verfügung und vermittelt es nunmehr digital und damit weltweit. Dafür durfte ich - im Namen aller anderen Nutznießer - heute der Friedrich-Ebert-Stiftung und allen ihren Mitarbeitern danken.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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