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[Seite der Druckausg.: 23]

Erhard Eppler:

Ich will es jetzt einmal ganz primitiv sagen: Wir sind zum Kommiß gekommen, zum preußischen Kommiß. Der war stupide, da wurde man gedrillt, da wurde man geschliffen, da hat man sich über den Unteroffizier mokiert und geärgert, da wurde man auch gelegentlich gedemütigt, wie das beim Kommiß üblich ist. Aber in meiner ganzen Ausbildung habe ich nie irgendeinen Offizier oder sonst jemanden gehört, der uns vorbereitet hätte auf einen Vernichtungskrieg, das heißt darauf, daß man die Haager Landkriegsordnung nicht einzuhalten braucht. Nie. Übrigens dann auch nicht - aber ich war eben nicht im Osten, sondern ich war im Westen -, als ich nicht mehr in der Ausbildung gewesen bin. Ich glaube, das war ja auch eine der großen Schwierigkeiten für die NS-Führung, daß es so viele Offiziere gab, von denen sie genau wußte, daß sie dabei nicht mitmachten. Ich will einmal sagen, direkte ideologisch-propagandistische Vorbereitung für diese Art Vernichtungskrieg hat es – soweit ich sehe – in der Wehrmacht - von der SS kann ich nicht reden - jedenfalls nicht gegeben.

Ich hatte - über den Kirchentag - viel zu tun mit Klaus von Bismarck, der inzwischen gestorben ist. Er ist für mich einer der großartigsten Menschen dieses Jahrhunderts. Er war auch Wehrmachtsoffizier, Stabsoffizier. Er erzählt, wie er als preußischer Offizier, als Großneffe Otto von Bismarcks seine Pflicht zu erfüllen versuchte, dann aber irgendwann an den Punkt kam, wo er sah, daß etwas passierte, was ganz, ganz anders war und diesen Vorstellungen nicht entsprach. Man kann das einem Klaus von Bismarck vielleicht übel nehmen und fragen: Warum hast Du darauf nicht härter, schärfer reagiert? Aber ich glaube, da kam dann der Patriotismus ins Spiel. Ich glaube, daß das, was die Wehrmacht am Schluß zusammengehalten hat, keineswegs mehr die NS-Ideologie war, sondern ein uralter Patriotismus, der viel älter war und sagte: Alles darf passieren, aber wir dürfen doch nicht besetztes, fremdes Gebiet werden. Das konnte man sich gar nicht vorstellen, und dagegen mußte man sich wehren. Das hat dann wiederum für viele dieser - ich sage jetzt einmal: anständigen Offiziere und Soldaten - dazu geführt, daß sie bis zum Schluß mit einem mehr oder minder guten Gewissen dabei geblieben sind.

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Hermann Rudolph:

Das erinnert mich, Herr Eppler - ich möchte das an Herrn Naumann und Frau Weinzierl weitergeben -, an eine Diskussion, die wir in Deutschland schon einmal hatten. Das ist jetzt gut 15 Jahre her und verband sich mit dem Namen des Historikers Andreas Hillgruber. Er hatte in einem Aufsatz über den Rückzug der deutschen Truppen an der Ostfront in den letzten Kriegsjahren versucht, Verständnis zu wecken für die Soldaten, die in erster Linie ihre Familien, die Flüchtlinge und überhaupt das Land und was davon übrig geblieben war, geschützt haben. Deshalb ließ er ihnen eine gewisse Rechtfertigung zukommen. Er bekam dann sehr starkes Gegenfeuer. Ich weiß nicht mehr, wer es war, der sagte: Ja, aber sie haben nicht nur die Zivilbevölkerung und die Flüchtlinge geschützt, sondern auch die KZs.

Klaus Naumann:

Beides ist richtig. Das eine ist objektiv richtig, und das andere ist subjektiv richtig.

Hermann Rudolph:

Ja, die Frage ist, wie? Wir wollen die Diskussion nicht noch einmal aufnehmen, aber trotzdem zeigt das doch in einer bestimmten Zuspitzung das Problem, über das wir hier sprechen. Wie weit kann man sich sozusagen rechtfertigen in einer Situation, in der man, wenn man für etwas als Recht Empfundenes kämpft, gleichzeitig etwas ganz Ungeheures, nämlich die KZs, schützt?

Klaus Naumann:

Ich glaube, es ist generell sehr schwer, wenn ich das als Nachgeborener sagen darf, diesen Ereignissen des Krieges irgendwie gerecht zu werden. Mit diesen Ereignissen und Erfahrungen ist ja immer der Versuch verbunden, für die Teilnehmergeneration vor allen Dingen, ihnen irgendeine Art von Sinn zu verleihen. Und diese Sinnsuche, die hält, glaube ich, auch diese Generation in gewissem Sinne in ihrem Bann. - Sie haben das

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mit dem Brief ja auch zitiert, und wenn es nur der private Sinn persönlicher Trauer ist, der angeblich durch diese Ausstellung beschmutzt werde... Dem möchte ich widersprechen und fragen: Wieso eigentlich? Die Vorstellung, jemanden mit der Ausstellung denunzieren zu wollen, ist mir völlig fremd. Aber sie wird ja offenbar sehr eng angebunden an die Wahrnehmung des Themas der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht". Es wird gesagt, das beleidige unsere Gefallenen, unsere Angehörigen und so weiter. Ich glaube, es ist schwer, hier einen Trennstrich zu machen und zu sagen: Nein, das beleidigt die Toten überhaupt nicht, sondern die Ausstellung macht nur das Dilemma sichtbar, vor dem wir selbst als Teilnehmergeneration, Angehörige oder als Nachgeborene stehen, nämlich damit umzugehen, daß unsere Angehörigen oder Vorfahren an diesen Aktionen dieses Krieges direkt oder indirekt beteiligt oder auch nur Mitwisser gewesen sind und daß alledem im Grunde kein höherer Sinn unterliegt. Es war sinnlos! Es war schlicht und einfach sinnlos! Das aber im Angesicht des Todes zu sagen ist, glaube ich, eine sehr schwierige und äußerst trostlose Aufgabe. Aber ich wüßte nicht, wie man das anders formulieren sollte. Denn im nachhinein diesem ganzen Unternehmen einen Sinn zu verleihen, das ist unmöglich. Meine Erfahrung mit der Diskussion über die Ausstellung ist die, daß sich die Sinnfrage sehr oft an die Wehrmachtsfrage anlagert. Da wird beispielsweise gesagt, das einzige, was in diesem zerfallenden Reich damals noch funktionierte und irgendwie auf Recht, Pflicht, Ordnung und Anstand beruhte, war die Wehrmacht. Wenn ihr - also: wir - jetzt auch noch die Wehrmacht beleidigt - das Reich ist sowieso schon zerbrochen -, dann zieht ihr uns den letzten Boden unter den Füßen weg. Das ist eine merkwürdige Identifikation von Patriotismus und Wehrmacht, in der das Vaterland und das Militär dann auf einmal ein und dasselbe werden.

Wir müssen uns nun fragen, wie weit wir in dieser Diskussion eigentlich gekommen sind. Was ist das für eine merkwürdige Situation, in der die Wehrmacht selbst Jahrzehnte später noch diese starke identifikationsstiftende Kraft ausüben kann? Wie ist es möglich, daß von einem „Wir" geredet wird, aber die Kriegsteilnehmer von damals keineswegs ganz naturwüchsig etwa folgendes sagen: Ich war zwar dabei, aber Ihr da oben habt das und das gemacht, ich aber bin betrogen worden! Damit allein würde schon ein ganz anderer Gestus in die Diskussion kommen. Der Historiker Norbert Frei hat bei der Amnestie-Debatte über die Kriegsverbrecher in alliierter Haft in den 50er Jahren beobachtet, daß das Engagement für die verurteilten Kriegsverbrecher von Manstein, Kesselring usw.

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in der Bevölkerung damals so groß gewesen sei, daß dies wie eine nachholende Bestätigung der deutschen „Volksgemeinschaft" gewirkt habe.

Hermann Rudolph:

Herr Eppler, ist das so?

Erhard Eppler:

Ich glaube, wir sollten diesen Unterschied zwischen objektiv und subjektiv einfach einmal hinnehmen. Der Krieg im Osten war objektiv ein Vernichtungskrieg. Und deshalb habe ich ja darauf Wert gelegt, daß die entsprechenden Befehle schon Monate vor dem Überfall ergangen sind. Aber was war er subjektiv? Die Frage, was der einzelne Soldat und der einzelne Offizier empfunden hat, kann man nicht nachträglich beschließen, sondern das war eben so, wie es war.

Wir haben vorhin Viktor Klemperer erwähnt. Für mich bietet er aus den verschiedensten Gründen eine aufregende Lektüre. Viktor Klemperer war ja im Grunde ein deutscher Patriot! Als er sich dann aber so weit durchgerungen hatte zu sagen: Dieses Deutschland muß diesen Krieg verlieren, da gab es sogar jüdische Freunde, die ihm widersprachen. Das heißt, sogar bei deutschen Juden war dieser Patriotismus noch einige Zeit lang mächtiger als der Abscheu gegen dieses Regime. Und was mir auch noch bei Klemperer auffiel: Noch zu der Zeit, als der Holocaust im Osten im vollen Gange war, als zum Beispiel in der Ukraine die Erschießungen - es waren ja erst Erschießungen und erst später Vergasungen - im vollen Gange waren, wußte er davon noch nicht. Und noch relativ spät - ganz zum Schluß schon - wußten die Juden in Dresden nicht, was es bedeutet, da- und dahin geschickt zu werden.

Ich will damit nur sagen, es gab Informationen, die immer in Form von Gerüchten kamen, die nie in Form von wirklich soliden Informationen kamen. Darüber konnte man immer streiten, was nun stimmte und was nicht. Sogar ein Mann wie Klemperer hat über das ganze Ausmaß des Holocaust erst nach dem Kriege wirklich erfahren. Ich will nur sagen, die objektiven Tatsachen und das, was subjektiv etwa ein Soldat oder Offizier empfunden haben, die müssen auseinanderklaffen. Ich glaube,

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wir müssen es aushalten, daß dieses Objektive ganz anders, noch viel schrecklicher war als das, was das subjektive Empfinden des einzelnen war. Nur: wir müssen, vor allem als Spätgeborene, in unserem moralischen Urteil dann doch dieses subjektive Empfinden einigermaßen ernst nehmen. Denn sonst wird aus der summa moralitas die summa immoralitas. Das wußten schon die Scholastiker.

Hermann Rudolph:

Herr Naumann, Sie hatten bemerkenswerterweise eingeräumt, daß die Ausstellung eine Seite zeigt, und der Weg von einer Seite zur Einseitigkeit ist ja relativ kurz. Meine Frage ist: Müßte es nicht eine andere Ausstellung zur Wehrmacht geben, eine Ausstellung, die das, was eben Herr Eppler gesagt hat, in irgend einer Weise einfinge? Also das, was man offensichtlich leichter in Geschichten, Erinnerungen, Briefen und so weiter finden wird als in der Geschichtsschreibung, sozusagen die innere Geschichte des Krieges von der Seite derer, die ihn so empfunden und erlebt haben, wie Herr Eppler das eben beschrieben hat. Gibt es so etwas unter den Zeithistorikern, Frau Weinzierl? Sozusagen die andere Seite des Krieges?

Erika Weinzierl:

Es tut mir leid, das sagen zu müssen, Herr Naumann, Verzeihung! Es gibt junge Gruppen, die so etwas versuchen, und die stehen sehr rechts. [Zwischenruf: Ja eben]. Und ich muß jetzt doch - ich halte mich da immer sehr zurück - Herrn Eppler sagen, daß die Situation in Österreich doch tatsächlich eine andere war. Hunderttausende haben sich im März 1938 schäbig benommen, wir haben uns schäbig benommen 1945 und die folgenden Jahre. Aber wir waren, und das ist eben auch das Objektive und das Subjektive, ja wirklich das Opfer der politischen Erpressung und das Opfer eines militärischen Einmarsches. Als dann die Moskauer Deklaration das anerkannt hat mit dem russischen Zusatz – man wird aber bei der Abrechnung sehen müssen, was die Österreicher dazu selbst beigetragen haben –, da ist der Widerstand tatsächlich, vor allem von kommunistischer Seite, stärker geworden. Die Jahre 1945 und folgende waren, was Wiedergutmachung betrifft - in meinem Verständnis kann es so etwas gar nicht geben -, unterlassene Rückrufung der Emigranten, Behandlung der

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Widerständler und der überlebenden Juden, sie waren alles andere als vorbildlich. Und wir wissen seit einigen Jahren, daß in der ersten provisorischen Staatsregierung von Innenminister Helmer angefangen bis zum Bundeskanzler Figl antisemitische Äußerungen gefallen sind. Das waren aber unsere Helden in meiner Jugend.

Jetzt weiß ich das und kann es wörtlich zitieren. Ich gehöre zu den letzten, die einen patriotischen Mantel um dieses Österreich werfen. Auf der anderen Seite warne ich aber immer die jüngste Generation, wenn sie ganz besonders auf ihrer Heimat herumhackt: Wir haben eigentlich überhaupt keinen Widerstand gehabt, und wir waren lauter Anpaßler und Feiglinge. Ich sage dann: So geht es nicht, das ist auch nicht die Wahrheit, nicht die volle Wahrheit. Man muß auch die andere Seite sehen. Aber, und das wissen wir ziemlich genau, je mehr der Krieg vorangeschritten ist, desto mehr Widerstand hat es gegeben. Interessanterweise waren in Österreich die stärksten Widerstandsgruppen auf der einen Seite die kommunistischen Eisenbahner und auf der anderen Seite die Legitimisten und die Priester. Das waren die Gruppen mit den meisten Opfern.

Zum Thema Patriotismus bis zum Ende muß man sagen - ich bin eine Wienerin: In Wien war wirklich, vor allem seit Stalingrad, damals der NS-Glaube kaum mehr vorhanden. Denunziationen hat es bis zum Schluß gegeben. Da waren die Nachrichten in der BBC, und mein Vater hat selbst das Drama gehört und hat es geheimnisvoll weiter erzählt. Wir haben gewartet und das war dann wirklich nicht mehr unser Krieg. Ich kann mich gut erinnern, ich habe am 6. Juni Geburtstag, und ein Kollege ist zu mir im Jahr 1944 gekommen und hat mir zugeflüstert: Die Alliierten sind in der Normandie gelandet. Das war für uns ein Freudentag. Das war für mich das schönste Geburtstagsgeschenk. Sagen will ich damit - das haben mittlerweile sowohl Soziologen als auch Historiker erwiesen -, daß wir uns lange genug sehr, sehr schwer getan haben mit unserem österreichischen Nationalgefühl, nach 1918, in der Zwischenkriegszeit, in der Nazizeit. Aber in dieser NS-Zeit, das erkennt auch die Bevölkerung bei Befragungen an, da hat die Erkenntnis: Wir sind ein eigenes Volk, wir sind Österreicher, zu wachsen begonnen, besonders stark 1945, dann 1955. Und heute meinen es immerhin 95 % der Österreicher. 77 % sagen, sie seien eine Nation, und die anderen sagen, sie sei im Werden, und der Rest sagt gar nichts. Das heißt, das, was Sie von diesem Patriotismus bis zum Schluß sagen: Das ist unser Krieg und unsere Wehrmacht, das war in

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der Mehrheit - jedenfalls der Wiener Bevölkerung -, auch zu einem Teil bei den österreichischen Soldaten, damals nicht mehr der Fall.

Hermann Rudolph:

Darf ich mal Herrn Eppler beispringen, ich hoffe, richtig: Dieser Patriotismus war ja wirklich nicht nur nationalsozialistisch...

Erika Weinzierl:

[Zwischenruf]

Hermann Rudolph:

... es gibt die Forschungen des Instituts für Zeitgeschichte über diese Zeit, die belegen, daß seit Stalingrad dieser nationalsozialistische Patriotismus, den es ja gegeben hat, wirklich schon zusammenbricht, so daß 1945 das plötzliche Verschwinden des Dritten Reiches durchaus erklärbar war. Er war nämlich vorher auch im Grunde genommen nur noch in ruinöser Form vorhanden.

Erika Weinzierl:

Darf ich da noch einen kurzen Satz einfügen? Ich habe nicht das Wort Nationalsozialismus verwendet. Das, was sich in diesen Jahren abgespielt hat, das war etwas anderes schon im Jahr 1938. Da gab es wirklich das Gefühl: Wir Österreicher, was ja lange gegolten hat – die SPÖ hat es noch in ihrem letzten Programm gehabt –, wir Österreicher bekennen uns nicht mehr zur deutschen Kulturnation, sondern zum deutschen Volk. Das sagt heute nur eine Minderheit, und der Herr Haider hat es aus dem Programm herausgeholt. Ich meine tatsächlich jetzt nicht nationalsozialistisch und nicht national, sondern österreichisch und deutsch. Es tut mir leid, wenn ich mich damit unbeliebt mache.

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Hermann Rudolph:

Das machen Sie keineswegs.

Klaus Naumann:

Den Forschungen des Instituts für Zeitgeschichte in dem Band „Von Stalingrad zur Währungsreform", über den gleitenden Übergang von 1943 bis 1948, über die „innere Verabschiedung" des Nationalsozialismus noch in nationalsozialistischer Zeit, kann ich ein Stück weit folgen. Die andere Seite der Medaille ist aber, daß dieser Krieg tatsächlich bis zum letzten Tage intensiv geführt wurde. Und das höhlt für mich jeden Begriff von Patriotismus in einem Maße aus, daß ich mich frage, was da noch dran ist außer der salvatorischen Klausel: Ich glaube, was ich glaube. Nationalsozialismus war sozusagen das Totengebet dieses Patriotismus. Das hat für mich mit Patriotismus überhaupt nichts mehr zu tun! Bestenfalls war das, um das böse Wort zu zitieren, ein Patriotismus der Sekundärtugenden, das heißt, der Patriotismus einer bestimmten Funktionsmoral, einer Moral, die sich auf das Funktionieren irgendwelcher - das kann die Wehrmacht sein, das kann etwas ganz anderes sein - Organisationen bezieht, ohne Rücksicht auf Recht, Leben und Zukunft. Ist das Patriotismus?

Hermann Rudolph:

Ich möchte jetzt die Frage hier oben nicht mehr hin und herschieben, es sei denn, Sie möchten sich dazu äußern?

Erhard Eppler:

Ich möchte, wenn ich das noch geschwind darf. Natürlich ist ein Patriotismus, der tabula rasa macht, kein Patriotismus. Aber es war ja am Ende des Krieges auch so, daß ganze Divisionen sich einfach ergeben haben aus diesem Grund. [Zwischenrufe: Zu spät.] Gut, darüber kann man nun wiederum reden. Aber es war ja nicht so, daß nun sämtliche Einheiten bis zur letzten Patrone gekämpft hätten. Ich wollte nur zu dieser These noch etwas beisteuern, was ich als ganz junger Soldat erlebt habe. Wenn wir

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abends in unserem Bunker oder sonstwo hockten, dann wurde auch politisiert, und zwar sehr offen und sicherlich schrecklich naiv. Da war das Normale, daß einer sagte: Wenn der Krieg zu Ende ist, dann jagen wir erst mal die Goldfasane alle zum Teufel, und dann machen wir unseren eigenen Laden auf. Was das bedeutete, war unklar, denn das wäre ja praktisch auf eine Militärdiktatur hinausgelaufen. Es war sicherlich naiv. Aber es war diese Trennung einerseits: Wir tun, was man als Soldat eben tun muß; und andererseits: Diese Goldfasane jagen wir zum Teufel. Daß man den Krieg nicht gewinnen und die Goldfasane zum Teufel jagen konnte, leuchtete natürlich unmittelbar ein. Man kann auch sagen, wir waren schrecklich dumm. Gut. Aber so war es eben.

Hermann Rudolph:

Ein solcher Bunker und neunzehnjährige Leute, die an die Front geschickt werden, sind wahrscheinlich keine Quelle großer Intellektualität.

Erhard Eppler:

Nein, das waren natürlich ältere. Ich war der einzige Lausbub in dieser Runde. Alle anderen waren 30 und drüber.

Erika Weinzierl:

Aber ist das nicht eigentlich der Grundgedanke der Männer des 20. Juli?

Erhard Eppler:

Wahrscheinlich. Aber der war vielleicht auch naiv.

Hermann Rudolph:

Jetzt würde ich gerne den Zuhörern die Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. Es könnte sein, daß wir inzwischen so viel Interesse und so viel Herausforderung erzeugt haben, daß das angebracht wäre.

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Pedro Wagner:

Ich bin Mitglied der Synagogen-Gemeinde, bin vor dem Krieg geboren. Ich möchte darauf zurückkommen, daß Sie von verschiedenen Kriegen gesprochen haben. Für mich ist diese Trennung nicht hinnehmbar. Dabei haben Sie nämlich die jüdische Gruppe ausgenommen. Von Anfang an war der Krieg gegen die Juden geplant, mit aller ideologischen, propagandistischen, materiellen Schärfe. Und deswegen kann ich keinen Unterschied in diesem rassistischen Krieg finden, der sich nur im Osten anders darstellt, weil das ja nach der Terminologie der Nazis auch eine minderwertige Rasse war. Und die minderwertige Rasse durfte vernichtet werden. Da konnte man ohne weiteres ein paar Soldaten erschießen und ihnen die Filzstiefel nehmen. Das ist doch ganz klar in der Ideologie.

Frau Prof. Weinzierl hat auf den Anteil der westlichen Zivilisation, der Kirche, verwiesen. Hier im Westen hat der Antisemitismus ein Bett gefunden, in Frankreich, in Österreich, in allen besetzten Ländern. Und deswegen stellt sich der Krieg doch etwas anders dar. Die Haager Landkriegsordnung nimmt die Zivilbevölkerung aus den Kriegen heraus. Das galt nicht für die Juden. Zu dem Punkt von Herrn Eppler, als er über Herrn Klemperer gesprochen hat: Das ist in meinen Augen eine Verniedlichung oder eine Angleichung an die Unwissenheit der Soldaten. Was meine ich damit? Seit 1938 war den deutschen Juden nicht erlaubt, ein Radio, eine Zeitung oder sonst etwas zu haben. Sie waren von den Informationen ausgenommen. Die interne Information war nicht so gestaltet, daß man wußte, was im einzelnen geschah. Sie dürfen nicht vergessen: 1941 war schon die Vernichtung im Osten zu Ende. Danach stellte sich der Krieg schon anders dar. 1942 kamen dann die Mischehen-Leute, die Halbjuden, die Vierteljuden - da war das schon ganz anders. Und Sie können nicht die deutsche Bevölkerung mit der jüdischen Bevölkerung, die schrittweise entrechtet wurde, vergleichen. Das geht nicht. Sie haben ein Beispiel in Bonn, Prof. Philipson, der in Griechenland noch immer interessanterweise in den Broschüren steht, weil er im Meteora-Kloster darüber geschrieben hat. Er war ein privilegierter deutscher Jude. Er hatte keine Information. Da gibt es Berichte, einen Brief nach dem Krieg, wo er sich bei den Alliierten beschwerte, daß er von den NS-Verbrechen nicht wußte, weil er keine Informationsmöglichkeiten hatte.

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N.N. (Dame):

Herr Eppler, ich frage mich die ganze Zeit, was Sie uns eigentlich mit Ihren Beiträgen sagen wollen. Ich bin ganz erstaunt und etwas aufgeregt. Es geht um das Thema dieser Veranstaltung: Mein Vater war doch kein Verbrecher. Wir, als Kindergeneration, sind damit groß geworden, daß uns niemals gesagt wurde, was wirklich war. Und Sie versuchen jetzt zu relativieren bis zum Geht-nicht-mehr. Das heißt, es gibt so viele Erklärungen für andere Verhaltensweisen und Entschuldigungen, Besänftigungen, Nichtwissen und subjektives Ich-weiß-nicht-was. Es geht darum, daß es nicht die paar Verbrecher waren, sondern daß wir die Frage haben, wer von unseren Eltern, von unserer Verwandtschaft, Großeltern, Brüdern beteiligt waren. Es waren viel, viel mehr beteiligt, als wir je wissen konnten und wissen können, und zwar deshalb, weil immer ausgewichen wurde, weil immer relativiert wurde, weil die Schuld immer auf irgendwelche anderen geschoben wurde und gerade diese Frage, die hier zur Diskussion steht, bis heute nicht beantwortet ist. Sie tun eigentlich ein übriges dazu, um dieses weiter zu verwirren. [Beifall]

N.N. (Herr):

Ich war bei Kriegsende 15 Jahre. Mein Vater war in einer verantwortlichen Stellung nicht in der Wehrmacht, aber in der Rüstung, 1898 geboren, Ende des Ersten Weltkrieges zwei Brüder verloren, einen 200 Meter von ihm entfernt. Er hat 1941 mit dem zuständigen Minister zusammen Hitler erklärt: Dieser Krieg ist mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen, bemühen Sie sich um eine politische Lösung. Er hat das zweimal getan. Beim drittenmal wäre er beinahe mit dem Minister hops gegangen. Trotzdem, obwohl er wußte, auch am Ende des Krieges, wie die ganze Lage war, hat er uns, als die Ardennenoffensive begann und er ganz genau wußte, daß die Benzinvorräte nicht reichen konnten, gesagt, und das, Herr Naumann, steht im Kontrast zu Ihnen: Es geht wieder voran. Was ich damit sagen will, ist die Bestätigung dessen, was Herr Eppler gesagt hat. Wir können als Nachgeborene nicht nachvollziehen, wie tief dieses Gefühl war, daß die vaterländische – nicht die nationale – Ehre verletzt ist. Und daß so ein Vormarsch – in den Ardennen –, wo seine eigene Heimat zerstört worden ist, noch einmal ein Stück Ehrenrettung der Nation gewesen ist. Wir können das, glaube ich, gar nicht nachvollziehen, diese Doppelschichtigkeit, seit 1941 völlig klar zu wissen, daß dieser

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Krieg verloren war, und trotzdem noch einmal aufzuatmen: Es geht wieder vorwärts! Obwohl mein Vater uns auch gesagt hat: Das sind Verbrecher da oben. Ich denke, diese Doppelbödigkeit, dieses Nebeneinander - man kann das nicht Schizophrenie nennen, denn diese ist wirklich eine Krankheit, und das war keine Krankheit - von vaterländischem, patriotischem Empfinden und rationalem Wissen um das Verbrecherische dieses Systems und auch das Sinnlose. Mein älterer Bruder ist noch in russischer Gefangenschaft, von russischen Ärztinnen gepflegt, gestorben. Das muß ich dazu sagen. Mein Vater hat also dafür auch mit seinem Sohn gezahlt. Ich denke, dieses Phänomen sollte man vor Augen haben. [Beifall]

N.N. (Herr):

Zunächst eine Frage an Herrn Naumann, die nicht unbedingt in den Rahmen der Diskussion gehört, aber vielleicht ganz interessant für die Intention der Ausstellung ist: Ist Herr Prof. Wette noch wissenschaftlicher Berater der Wehrmachtsausstellung? Gut, lassen wir's. Zweitens haben Sie, Herr Rudolph, öfter die Formulierung gewählt vom Erfolg des Goldhagen-Buches. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie kurz sagen könnten, worin Ihrer Meinung nach dieser Erfolg besteht, also das inhaltlich etwas füllen. Und ein drittes Wort möchte ich an Frau Weinzierl richten: Als vorhin davon die Rede war, man solle doch den Versuch unternehmen, in diese Ambivalenz zwischen dem Vernichtenden und dem Positiven, das festzustellen ist, auch gegenläufige Bewegungen einzuleiten in Ausstellungen und Dokumentationen, haben Sie das in einer für mich sehr bestürzenden Weise abgetan mit der Bemerkung: Das sind rechte Leute. Ich habe hier das Buch von Wladislaw Spielmann über seine Zeit in Warschau. Darin ist bemerkenswert, daß ihn vor seiner endgültigen Vernichtung ein deutscher Offizier, Herr Wilhelm Rosenfeld, gerettet hat.

Und interessanterweise schreibt als ein Nachwort in einem Essay Wolf Biermann, der sicherlich nicht als rechts verdächtigt werden kann, daß ihn diese Dokumentation des deutschen Offiziers Wilhelm Rosenfeld, der nicht nur aus subjektiver Gesinnung heraus etwas anderes empfunden hat, sondern objektiv positiv tätig geworden ist, sehr berührt hat. Und Biermann sagt: Ich hätte das ganze gern als ein eigenes Buch. Der Historiker Hannes Heer sollte diese Dokumente in die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Reemtsma-Instituts einfügen. Für alle solche Versuche wünschte ich mir geeignete Initiativen. Vielen Dank. [Beifall]

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Georg von Koppenfels:

Ich bin Jahrgang 1938. Ich möchte den Diskussionsbeitrag einer Dame aufnehmen und an Herrn Naumann die Frage stellen, wie er denn jetzt nach vier Jahren Ausstellung mit diesem Dilemma umgeht: auf der einen Seite der objektive Befund, Herr Eppler, und auf der anderen Seite das subjektive Empfinden. Das ist doch ein Dilemma, mit dem die Generation, der ich angehöre, groß geworden ist.

Denn das war ja gerade immer das, wenn wir die Eltern gefragt haben oder die Geschichtslehrer: Ja, ja, objektiv, aber wir, wir haben davon nichts gewußt. Dieses Wissen hatten wir nicht. Klemperer hat dieses Wissen offensichtlich gehabt. Ich glaube, das Wort Auschwitz kommt in den Tagebucheintragungen 1942, aber bestimmt 1943 vor. [Zuruf Eppler] Gut, im November 1943. Das Wissen war da.

Noch eine kleine Ergänzung, einfach, um das Dilemma zu beschreiben: Ich habe neulich von einer Aussage gelesen in einem Prozeß. Da ist irgendein General, dem man das wirklich nicht mehr glauben konnte, Herr Eppler, dieses Hehre – objektiver Befund, subjektives Wissen –, der gesagt hat: Wir haben es uns nicht gestattet, das zur Kenntnis zu nehmen. Das ist dann die Symbiose, und damit wird die ganze Sache unglaubwürdig.

Hermann Rudolph:

Ich denke, wir müssen jetzt einmal vom Podium her antworten. Ich möchte zunächst nur klarstellen, was ich mit dem Erfolg von Goldhagen meinte. Damit meinte ich ganz schlicht 165.000 Auflage im ersten Herbst, volle Säle von Hamburg bis München. Und, wenn Sie mir für einen Moment erlauben, ironisch zu sein, dann bei einer Preisverleihung das erstaunlichste Lob für das deutsche Umdenken, das ich je von irgendjemandem gehört habe.

Erhard Eppler:

Zu Herrn Pedro Wagner: Ich glaube, ich muß meine Formulierung präzisieren. Es waren nicht verschiedene Kriege, aber es waren verschiedene

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Formen von Krieg, die wir erlebt haben. Das letzte Ziel dieses Krieges, da haben Sie völlig recht, war jedenfalls, was die Juden angeht, von Anfang an dasselbe und auch in allen Feldzügen dasselbe. Die Juden in den jeweiligen Ländern hatten ja in ähnlicher Weise zu leiden, vielleicht nicht zur selben Zeit, aber immerhin. Worauf ich hinweisen wollte, war eben, daß etwa im Frankreichfeldzug die Haager Landkriegsordnung galt, im Rußlandfeldzug und auch in Serbien aber nicht mehr. Daß zum Beispiel Rommel in Afrika auch von den Engländern als ein außerordentlich fairer Gegner empfunden wurde, während etwa beim Rückzug aus Rußland fürchterliche Dinge, die zum Teil heute noch im Bewußtsein der Deutschen gar nicht vorhanden sind, passiert sind. Ich habe vorhin von den 400 oder noch mehr Lidièe gesprochen, die damals auf dem Rückzug passiert sind und von denen wir wegen des Kalten Krieges jahrzehntelang nichts gehört haben.

Das zweite: Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß den Juden relativ früh das Halten eines Radios und das Halten von Zeitungen und so fort verboten wurde. Aber die Informationen, um die es hier geht, kamen ja gerade nicht im Radio, die kamen nicht in der Zeitung, sondern nur in Form von Erzählungen oder Gerüchten, eben jenseits der veröffentlichten Meinung. Das war doch die Schwierigkeit. Ich wollte damit nur sagen: Sogar diejenigen, die sich sehr darum bemüht haben, aus diesem Teil der nicht veröffentlichten Meinung ihre Informationen zu ziehen, haben nicht immer zur richtigen Zeit davon erfahren.

Und jetzt zum entscheidenden Punkt. Ich bin ja nicht naiv. Ich weiß, daß meine Aussage auch so verstanden werden kann, wie eine Dame hier sie verstanden hat. Damit mußte ich rechnen. Ich habe sie trotzdem gemacht. Sehen Sie, für mich gibt es nicht den geringsten Zweifel, daß Hitler spätestens seit der Zeit des Roßbach-Protokolls einen Krieg haben wollte, und er wollte ihn sogar möglichst noch zu der Zeit haben, wo er noch physisch in der Lage war, den Krieg zu führen. Er wollte ihn also möglichst bald haben, und jenseits dessen, was bislang Recht war. Er wollte ganze Völkerschaften, die er für minderwertig hielt, etwa die Slawen, unterjochen. Er wollte ihnen die Intelligenz nehmen, er wollte sie zu Sklaven machen. [Buhruf] Bitte? [Zuruf] Ja, daran gibt es objektiv überhaupt keinen Zweifel. Dazu gibt es die nötigen Dokumente. Ich bin der letzte, der daran irgendeinen Zweifel hat. Wogegen ich mich wehre, ist, daß man aus dem Tatbestand, daß dies ein verbrecherischer Krieg war, folgert, daß dies eine Generation von Verbrechern war. [Beifall] Ich mei-

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ne, wir sind ja ganz schnell dabei. Wenn wir das Subjektive und das Objektive durcheinanderbringen, dann ist das eine Generation von Verbrechern. Es gab Verbrecher, es gab Verbrechen der Wehrmacht. Sie haben es ja dokumentiert. Diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, waren Verbrecher. Und die, die keine begangen haben. waren keine Verbrecher. So einfach ist das für mich. [Zurufe] Augenblick. Bitte?

N.N. (Herr):

Was ist mit den Mitwissern? [Zurufe: genau so schlimm]

Klaus Naumann:

Vielleicht kann ich da anschließen und sagen: Natürlich sind wir sehr schnell dabei - mit gutem Recht - zu sagen, der Schuldbegriff ist ein individueller Begriff. Wir wollen nicht über Kollektivschuld diskutieren, denn die Frage der kollektiven Beteiligung ist in Formulierungen der Verantwortung, der Scham usw. zu formulieren. Und trotzdem begegnet uns diese bekenntnishafte Ablehnung der „Kollektivschuld", die es natürlich nicht gibt, manchmal viel zu schnell. Denn wir müssen uns fragen, was jenseits der individuell rückführbaren Schuld für ein Begriff anzulegen ist an diese tausendfachen Tatsachen der Beteiligung. Die einen nennen das sehr vornehm „Verstrickung". Das ist für meine Begriffe ein sehr passives Wort, bei dem man eigentlich selbst nichts damit zu tun hat, aber doch in irgendein Gewebe geraten ist, das einen wider Willen festhält. Das ist ein etwas suggestiver Begriff, der nur für einen ganz bestimmten Zusammenhang paßt. Es gibt aber den Begriff der Verantwortung. Es gibt die Frage der Mitwisserschaft, der Teilhabe, die Zuschauerrolle, die beispielsweise in den Feldpostbriefen dokumentiert ist. Und es gibt zumindest das Wissen um die Folgen, die in die Nachkriegszeit hineinreichen, die die Teilnehmergeneration belasten, und zwar jenseits des Problems, ob sie im kriminellen Sinne Verbrecher sind oder nicht.

Das ist auch eine Frage, die diese Ausstellung stellt. Sie stellt nicht nur die Frage nach den Kriegsverbrechen im engsten und strengsten Sinne, sondern, indem sie diese Amateurfotos zeigt, sagt sie ja gerade, daß es offenbar eine Vielzahl gab, die danebengestanden haben. [Zuruf: Grinsend danebengestanden haben.] Das ist neben der unmittelbaren Täter-

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schaft für mich die zweite Frage höchster Beunruhigung: Wie reicht diese Tatsache der Kenntnisnahme, des Hörens, des Hörensagens, des Wissens, des Weitertragens, in diese Geschichte des Krieges als eine Art Komplizenschaft im weitesten Sinne hinein, und wie weit reicht sie in die Nachkriegszeit hinein? Damit kommen wir genau auf die beiden Fragen, die gestellt worden sind. Es gibt ja immer zwei Thesen gegenüber dem Schweigen in der Nachkriegszeit. Es gibt die vornehme These des Gesundschweigens, des Ausheilens, des „kommunikativen Beschweigens" (wie Hermann Lübbe das genannt hat), indem man eine Zeitlang abwartet, bis es dann wieder gut ist. Das hat vielleicht in gewissem Grade eine Berechtigung. Aber es hat einen hohen Preis, nämlich nicht zuletzt die Integrität der zweiten Generation, die ja sehr genau merkt, daß da etwas nicht gestimmt hat und dadurch ein Realitätsbild vermittelt bekommen hat, das sehr brüchig, sehr unvollständig ist; eine Generation von Nachgeborenen, die unter Umständen nicht genau weiß, woran sie eigentlich glauben soll, wenn einer ja sagt, aber nein meint, oder nein sagt und im Grunde ja meint. Dieses Leben in einer moralischen Grauzone hatte klimatische Folgen, die wir ernst nehmen müssen. Sie haben das Klima der frühen Bundesrepublik bis in die 60er Jahre und sicher auch länger geprägt.

Ich möchte darauf bestehen, diese Aspekte zu unterscheiden. Nicht nur die objektive und die subjektive Seite, sondern durchaus auch die Seite der, im engsten Sinne, kriminalisierbaren und die andere Seite der moralischen Schuld. Ich glaube, die Ausstellung über den Vernichtungskrieg könnte einen Beitrag dazu leisten, moralische Kriterien zur Verfügung zu stellen. Sie fordert dazu auf, selbst innerhalb des Krieges, der ja eigentlich immer schlecht ist, genauer hinzugucken und zu fragen, was wirklich passiert ist, was durch Recht und Gesetz gedeckt ist, wo diese Standards aufhören und was das für katastrophale Folgen hat. [Beifall]

Erika Weinzierl:

Es hat in Salzburg den Versuch einer Gegenausstellung gegeben. Sie wissen davon. Außerhalb von Salzburg, in Österreich, weiß es kaum jemand. Diese Gegenausstellung haben farbentragende Verbindungen, im wesentlichen deutsch-nationale Korporationen, getragen. Ich war lange Professorin in Salzburg. Mir hat ein Kollege gesagt, er geniere sich so, denn einer unserer jüngeren Kollegen - kein Neonazi - hat sich denen als

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wissenschaftlicher Berater zur Verfügung gestellt. Zumindest hat es den ernsthaften Versuch zu dieser Gegenausstellung gegeben, und es war ganz klar, von wo er kam. Und daher meine sehr rasche Antwort. Denn da wußte ich wirklich genau Bescheid.

Ich möchte noch ganz kurz etwas sagen zu dem Wissen und Mitwissen und dem Hörensagen. Ich habe schon erwähnt, daß ich Jahre mit „Mischlingsfamilien" gelebt habe und denunziert wurde. Ich habe erlebt, wie Pakete abgesendet wurden und zurückkamen. Dann habe ich noch die ersten Postkarten gesehen mit dem Vordruck: Es geht uns gut. Ich habe auch diese schrecklichen Mitteilungen gesehen: soundso an Lungenentzündung gestorben. Jeder in der Familie hat gewußt, was wirklich geschehen ist. Ich habe also wirklich gewußt, und zwar nicht vom Hörensagen, sondern vom Miterleben. Ich habe auch darüber geschwiegen, obwohl ich es aus unmittelbarer Quelle gewußt, gesehen und miterlebt habe; ich schäme mich heute deswegen. Das Tragischste im Verhältnis zu meinen Freundinnen war, daß ich das miterlebt habe, dann kam das Jahr 1945, und dann kam die Enthüllung der sechs Millionen Toten. Da war ich sogar so fassungslos, daß ich gesagt habe: Sechs Millionen, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das ist ja so viel, wie die Österreicher damals waren. Da haben beide geweint und haben gesagt: Erika, du hast mit uns in diesen Jahren gelebt. Wenn Du das nicht glauben kannst, wer will es denn dann glauben?

Herr Zimmermann:

Ich finde, wir brauchten eine Ergänzung oder einen Zusatz zur Wehrmachtsausstellung. Die Ausstellung war eine Bildreportage dieser furchtbaren Geschehnisse, die da passiert sind. Wenn man aber jetzt aufgrund dieses Materials im Umfeld dessen, was da gezeigt wird, fragt, wer Schuld hat, wer darin verstrickt ist, fehlt etwas. Die Führung des Deutschen Reiches, das Deutsche Reich hat diesen Krieg geführt, und wahrscheinlich gibt es diese Untersuchung auch schon, aber diese Psychologie, die sich da abgespielt hat, von der obersten Führung, von Hitler vor allen Dingen, über die verschiedenen Stufen der Wehrmachtshierarchien, die Psychologie der Generäle, das muß ziemlich genau untersucht werden, damit man weiß, wie das nach unten übertragen worden ist, wo es dann virulent geworden ist. Vielleicht müßte man auch noch vor das Statement: Mein Vater war kein Verbrecher, die Frage vorschalten: Hat mein

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Vater nicht 1933 falsch gewählt oder sich vorher falsch verhalten? Denn von daher ist das ja gekommen.

Helmut Hirsch:

Ich habe auf der anderen Seite, in der französischen, in der britischen Armee gedient. Wir sind weggelaufen vor der Wehrmacht bis Dünkirchen, diese wunderbare Flucht der polnischen und der britischen Truppen nach England. Etwas Wichtiges darf nicht vergessen werden, nämlich daß wir heute durch neuere Erfindungen und durch eine Verbreitung von wissenschaftlichen Arbeiten über viele Länder hin ganz andere Möglichkeiten haben, die Frage zu stellen, die Sie heute hier gestellt haben. Wir hätten dieselbe Frage nicht stellen können etwa über den 30jährigen Krieg. Wir haben Berichte wie den von Grimmelshausen, also etwas ironisch-tragische Berichte. Wir haben Berichte über griechische, römische und andere Kriege. Aber wir haben keine solchen eingehenden Berichte. Darum sind wir in Gefahr, uns selbst etwas zu ernst zu nehmen und uns selbst als etwas zu empfinden, das wir nicht sind, weil wir jetzt diese Unterschiede überhaupt erst kennenlernen können.

Wer in Amerika gelebt hat, erinnert sich, daß Roosevelt den Müttern gesagt hat: „I’ll tell you again and again", daß Eure Söhne nicht hinübergeschickt werden in den Krieg. Aber er wußte genau, daß das gar nicht anders möglich war, daß man Amerika vorbereiten mußte, daß irgend etwas passieren mußte, um das amerikanische Volk in richtige Stimmung zu bringen. Und bei jedem der amerikanischen Kriege hat es dann eine ähnliche Entwicklung gegeben. Wir, die wir drüben jede Möglichkeit hatten, jede Zeitung zu lesen, so unser Englisch dazu noch ausreichte, was bei mir der Fall war, waren fassungslos, als die Wahrheit langsam durchsickerte. Ich habe mehr als einmal gesagt: Was von den Verbrechen des Dritten Reiches berichtet wird, ist genial erfunden, das ist nicht wahr, das ist unvorstellbar, weil eben so ein Junge, der aus dem preußischen Barmen kam, sich als Absolvent eines deutschen Realgymnasiums, das später die Horst-Wessel-Schule wurde, so etwas gar nicht vorstellen konnte. Also, es ist eine sehr deutsche und sehr heutige Art der Darstellung. Ich bitte Sie, überhaupt kein Volk und überhaupt keinen Krieg als etwas zu begreifen, das völlig unbegreiflich ist oder völlig anders ist. Denn es gibt die jüdische Kunst des Überlebens einer Elite, die es sehr ähnlich bei den Quäkern gibt und gegeben hat oder bei den Parsen in

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Indien. So eine Elite sagt: Wir wollen eine Elite bleiben. Und wenn nur ein paar übrigbleiben, dann bleiben die übrig, wenn nur die Lehre noch erhalten bleiben kann, die eine Lehre der Propheten, die auch die Lehre des jüdischen Propheten Jesus, Josua, auf lateinisch Jesus, ist. Das ist das einzige, was ich dazu sagen will. [Beifall]

Eberhard Schulz:

Ich gehöre zu demselben Jahrgang wie Erhard Eppler. Mich interessiert bei der ganzen Diskussion nicht so sehr die Vergangenheit, sondern mich interessiert die Zukunft. [Beifall] Ich meine, wir müssen versuchen zu erreichen, daß sich diese Dinge, die sich unter Hitler ereignet haben, diese furchtbaren Verbrechen, nicht wiederholen können. Ich habe das große Glück gehabt - ich war auch Soldat, auch nur im Westen bei der Ardennen-Offensive -, daß ich nie einem Erschießungskommando zugeteilt worden bin, daß ich keine Partisanenangriffe erlebt habe, mit dem Befehl am nächsten Tag, darauf mit Erschießungen, Brandschatzungen und anderen Scheußlichkeiten zu reagieren. Und ich muß gestehen, aus der heutigen Sicht weiß ich nicht, wie ich damals als 17- oder 18jähriger reagiert hätte. [Beifall]

Ich sage eindeutig: Die Scheußlichkeit dieser Verbrechen ist heute vollkommen klar. Aber damals war das Bewußtsein darauf nicht vorbereitet. Ich habe bis 1949 gebraucht in meiner Naivität, bis ich Auschwitz geglaubt habe. Bis dahin habe ich das als böse Lügenmärchen angesehen, weil das doch gar nicht sein konnte! Ein Deutscher tut so etwas nicht nach meiner Erziehung! Nun sind nicht alle Leute so naiv wie ich oder zumindest, wie ich damals war. Aber ich bitte Sie zu verstehen, in das Gehirn, in das Bewußtsein geht nur das hinein, was von dem Filter hineingelassen wird. Das war damals bei mir eben nicht so weit offen, daß ich mir so etwas vorstellen konnte.

Aber was mich interessiert, ist die Zukunft. Dieser Zweite Weltkrieg, und die Judenvernichtung gehört in diesen Komplex hinein, war ein Vernichtungskrieg. Es hat in der Geschichte mehrere Vernichtungskriege gegeben. Das waren meistens religiöse Kriege gegen Häretiker oder sonstige Gruppen, die ausgelöscht wurden. Dieser Vernichtungskrieg ist für mich eine Frucht des Nationalismus. Den Nationalismus haben wir bis heute nicht überwunden. Der Nationalismus zeichnet sich dadurch aus,

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daß er die Nation zum Gegenstand des Handelns macht, die Interessen der Nation, die Überlebensinteressen der Nation. Vorher hat es, vor 200 Jahren, älter ist ja der Nationalismus noch nicht, viele Kriege gegeben von Dynastien, die sich bereichern wollten. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, haben sie Frieden geschlossen. Die Untertanen mußten Kontributionen zahlen usw. Aber in dem Augenblick, in dem die Kriege zu Auseinandersetzungen zwischen Nationen um Leben und Tod wurden, in dem Augenblick gab es eben Vernichtungskriege. Wenn wir diesen Nationalismus nicht überwinden, wenn wir nicht begreifen, daß die Nationen miteinander existieren müssen, obwohl die Menschen alle schlecht sind, denn es gibt ja viele, die sich als Christen bezeichnen und die davon gehört haben, daß einmal jemand aus dem Paradies vertrieben worden ist. Sicher nicht ohne Grund. Ich glaube, wir sollten versuchen, nicht zu einfache moralische Kategorien aufzustellen: Die sind gut, die sind böse. Die Menschen sind vielmehr allesamt mit großen Fehlern behaftet. Es kann nur zu leicht passieren, daß sie wieder in die Fehler der Vergangenheit verfallen. Mein Votum ist, überlegt Euch, was man mit dem Nationalismus anfangen kann, damit wir diese Form des Vernichtungskrieges jedenfalls nicht wiederholen. [Beifall]

N.N.

Mein Vorredner hat gesagt: Ein Deutscher tut so etwas nicht. Das haben damals nicht nur Deutsche geglaubt. Ich habe mich mit Russinnen unterhalten, die die deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen erlebt haben und die auch nach ihren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg sich nicht vorstellen konnten, daß sich Deutsche so verhalten, wie sie es im Zweiten Weltkrieg getan haben. Meine Frage ist aber zum einen, wie es zu erklären ist, daß sich das Verhalten deutscher Soldaten innerhalb von weniger als einem Vierteljahrhundert so drastisch verändern konnte? Und die andere Frage, wir müssen an die Zukunft denken: Wie kann man verhindern, daß so etwas wiederkehrt? Ich habe nämlich wirklich das Gefühl, wenn es dieser Generation und unserem Volk passieren konnte, dann muß man Angst haben, daß es jeder Generation und jedem Volk passieren kann. [Zurufe]


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