FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Im Umkreis von Stauffenberg

Reichweins Weg in den Widerstandskreis um Stauffenberg läßt sich nicht schlüssig nachzeichnen. Die Überlieferung ist zu rudimentär. Erstmals fällt sein Name Mitte August 1944 im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Gestapo. Er sei „vor einiger Zeit verhaftet worden im Zusammenhang mit einer Personengruppe, die in der Richtung des Moskauer Nationalkomitees ‘Freies Deutschland’ arbeitet", hieß es. Reichwein galt den Vernehmungsbeamten als Vertreter einer „Ostlösung", also einer „Verständigung mit Rußland". Diese Charakterisierung reflektierte nicht nur die Tatsache, daß Reichwein Verbindungen zu einer „kommunistischen Gruppe" gesucht hätte. Sondern sie stützte sich auf seine angebliche [ Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Berichts für die „Kaltenbrunner-Kommission" über die „Außenpolitik der Verschwörerclique", dem 21.11.1944, war Reichwein bereits vier Wochen tot.] Erklärung, „Rußland sei das große und mächtige Land der Zukunft", dem bedeutende Rohstoffe und Menschenreserven zur Verfügung stünden. Deshalb war Reichwein nach der Überlieferung des SD der Ansicht, daß „ohne oder gegen Rußland eine künftige europäische Politik nicht möglich sei." [ Hans-Adolf Jacobsen, Hg., „Spiegelbild einer Verschwörung": Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung, Stuttgart 1984, S. 492.]

Weiterhin wurde Reichwein durch die Verbindungen charakterisiert, die er „seit der Systemzeit" zu Haubach gepflegt habe. [ Ebda., S. 233. ] Einige Tage später rückte er in den Mittelpunkt, weil er zu den Kritikern der Linie Goerdelers gerechnet wurde. Zugleich wurde deutlich, daß sich Reichwein und Moltke auf ihre Verteidigung konzentrierten, indem sie betonten, sie hätten es für „falsch" gehalten, „in die Entwicklung einzugreifen". Reichwein leugnete jede Kenntnis vom bevorstehenden Anschlag. [ Ebda., S. 264.] Auch dies ähnelte der Verteidigungstaktik von Moltke. Dennoch wurde er neben Leber und Mierendorff von den Verhörbeamten zu den führenden Köpfen gerechnet. Reichwein gehörte zu den Regimegegnern, denen ein unmittelbarer Kontakt zu kommunistischen Widerstandskämpfern nachzuweisen war. Deshalb wurde er bereits in Brandenburg-Görden „scharf verhört".

Nach dem 20. Juli 1944 versuchten die Ermittler, die Verfasser jener Aufrufe zu fassen, mit denen sich die Verschwörer an die Öffentlichkeit wenden wollten. Sie waren alarmiert, denn in den öffentlichen Erklärungen wurden rechtsstaatliche Traditionen des Verfassungsstaates beschworen. Das traf den Nerv des diktatorischen Systems, auch wenn die nationalsozialistischen Ermittlungsbeamten erklärten, der Inhalt dieser Aufrufe bestehe nur „aus den alten liberalen Phrasen: ‘Erklärung der unveräußerlichen Freiheitsrechte, Wiederherstellung von Recht, Gesetz und Ordnung’." Bemerkenswert schien auch die „Toleranzerklärung" in den „Rassen-, Glaubens- und Klassenfragen" zu sein, denn dies bedeutete die Forderung nach einer „Wiederherstellung der jüdischen Rechte."

Die Tätigkeit Reichweins im Kreisauer Kreis ist durch Ger van Roon gründlich erforscht worden. [ Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand, S. 100 ff.] Seinen Befunden ist nichts hinzuzufügen, zumal auch Amlungs Biographie überzeugend die wichtigen Interpretationskontexte erschließt. Gerade auf eine mythisch verklärende Weise wird in diesem Zusammenhang allerdings immer das Treffen zwischen Leber, Reichwein und Saefkow gedeutet. Dieses Treffen hat sehr viel mit dem Anschlag auf Hitler von 1944 zu tun, aber auch mit den Bedingungen des kommunistischen Widerstands, denn nach dem Treffen in der Wohnung des Arztes Dr. Schmid zwischen Reichwein und Leber auf der einen, Saefkow, Jacob und Thomas auf der anderen Seite konnte die Gestapo zugreifen, weil Ernst Rambow, ein in die Dienste des NS-Staates getretener Spitzel, Treffen und Teilnehmer verraten hatte. In den folgenden Tagen wurden ungemein viele Menschen verhaftet, verhört, gequält, verurteilt und hingerichtet. Die Gestapo war bereits seit einigen Wochen auf ihren Spuren und suchte nur nach der Gelegenheit, möglichst viele der Regimegegner zu verhaften.

Am 22. Juni 1944 trafen sie sich zum ersten Male, am 4. Juli erneut, diesmal allerdings ohne Leber. Am selben Tage wurde Reichwein, einen Tag später Julius Leber in seiner Schöneberger Kohlenhandlung festgenommen. Dadurch wurde der von Stauffenberg geplante Umsturzversuch ernsthaft gefährdet. Etwa 200 weitere Verhaftungen schlossen sich an. Wir gehen heute von etwa 60 Strafverfahren aus, die aus diesen Verhaftungen folgten. Nach unseren Kenntnissen wurden mindestens 65 Angeklagte, mit großer Sicherheit, wie Ursel Hochmuth belegen konnte [ Ursel Hochmuth, Kommunisten in Berlin und Brandenburg im Widerstand, Berlin 1998.] , mehr als 90 Menschen hingerichtet. Zu den Opfern gehören Jacob, Saefkow und Thomas, aber auch der einige Wochen zuvor festgenommene Bästlein. Sie alle waren unabhängige und nicht von Ulbricht gesteuerte Kommunisten. Zu den Opfern dieses sozialdemokratisch-kommunistischen Gesprächsversuchs gehörten aber auch die beiden Sozialdemokraten Leber und Reichwein. Die beteiligten Kommunisten wurden am 18. September 1944 ermordet, Reichwein am 20. Oktober hingerichtet. Julius Leber mußte ihnen dann am 5. Januar 1945 folgen. Das ist die Tatsache, an der es nichts zu deuteln gibt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

Previous Page TOC Next Page