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Herausforderungen - immer wieder

Wiederum drückt sich dies in einem wichtigen Brief an Ernst Robert Curtius aus. Was klagend beginnt, endet selbstbewußt: „Es ist schon", schreibt Reichwein nach seiner Entlassung, „ein merkwürdiges Schicksal bei aller Leidenschaft für Wirken an der Jugend, an Volk und Nation." Und er setzt den Gedanken auf überraschende Weise fort: „Aber der totale Staat macht ganze Arbeit." Aus dieser bedrängenden Formulierung, die mit eben diesem Begriff wenig später auch ein völlig anders geartetes Bekenntnis - das „Barmer Bekenntnis" der „Bekennenden Kirche" - prägt, zieht Reichwein eine ganz persönliche Konsequenz, wenn er betont, er sei „heiter und gelassen" [ Zwei Monate vorher, am 4.3.1933, hatte er an Bettina Israel geschrieben, ihm sei „erbittert zu Mute [...] in dieser traurigsten Zeit Deutschlands", er hoffe „noch genügend Heiterkeit aufzubringen".] . Denn er „spüre mächtiger denn je, was sittliche Gewißheit und gutes Gewissen in einem bedeuten können, wieviel Kraft einem von da kommen kann." [ Ebda.] Heiter sein - dies war die Voraussetzung für Ungebrochenheit [ Reichwein an Harro Siegel, 9.5.1933.] , und dies verband Reichwein mit seiner Frau Rosemarie Pallat. Heiterkeit war die Voraussetzung für alle zeitbedingte Unsicherheit überspielendes sicheres Zukunftsgefühl, für jenen spezifischen Optimismus, der sich auf den Willen gründet, die Gestaltung der Zukunft keinem anderen, und schon gar nicht dem „Gegner", zu überlassen.

Wenn es gelingt, die verschiedenen Aspekte von Reichsweins persönlicher und beruflicher, wissenschaftlicher und pädagogisch-philosophischer Entwicklung gemeinsam in den Blick zu nehmen, dann wird deutlich, mit welcher geistigen Ausstattung er in den Kreisauer Freundeskreis trat. Viele der dort erörterten Fragen hatten ihn schon während seines Studiums beschäftigt; sie waren ihm vertraut. Bei Reisen hatte er ebenso wie bei menschlichen Begegnungen immer die Begegnung mit dem anderen gesucht.

Bereits in seiner Dissertation hatte ihn ja das beschäftigt, was man heute „Kulturaustausch" [ Adolf Reichwein, China und Europa: Geistige und künstlerische Beziehungen im 18. Jahrhundert, Berlin 1923.Vgl. dazu Horst E. Wittig, Adolf Reichwein und Ostasien, in: Pädagogik und Schule in Ost und West 15, 1967, S. 353-360.] nennt. Auf Reisen hatte er seine persönliche Konfrontation mit dem Fremden gesucht. Immer hatte er das Gesehene und Erlebte reflektiert, schriftlich verarbeitet, in prinzipielle Perspektiven gehoben. Dabei ging es nicht um Räume, um Entfernungen, um Bodenschätze oder Volkskunde, sondern es ging immer wieder, und man kann dies nicht deutlich genug betonen, um den Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner Welt. [ Vgl. die Veröffentlichungen von Adolf Reichwein in der Bibliographie von Ursula Schulz, Adolf Reichwein, hg. von der Bremer Volkshochschule, Bremen 1966 sowie die Auswahlbibliographie von Ullrich Amlung, „...in der Entscheidung gibt es keine Umwege": Adolf Reichwein 1898-1944 - Reformpädagoge, Sozialist, Widerstandskämpfer, Marburg 1994.]

Mitte März 1939 trat Reichwein, wie bereits beschrieben, seine neue Stelle als Abteilungsleiter „Schule und Museum" am Berliner Museum für Deutsche Volkskunde an. Überraschend war die Übernahme eines neuen Arbeits- und Aufgabenbereiches nicht, denn Reichwein hatte in seinen lebenskundlichen Unterrichtsbemühungen stets den Blick auf die Alltagswirklichkeiten lenken wollen und können. Er gehörte so gewiß zu den Pädagogen, die am zielstrebigsten und zielbewußtesten die Möglichkeiten des Museums für den lebenskundlichen Unterricht und die schulische Bildung nutzen wollten. Schule und Museum werden als Teile eines verbundenen museumspädagogischen Dienstes aufgefaßt. Nach seinem Wechsel von Tiefensee nach Berlin entwickelte Reichwein verschiedene volkskundliche Ausstellungen, verfaßte zahlreiche Broschüren zu seinen Ausstellungen und veröffentlichte bis heute nachwirkende museumspädagogische Abhandlungen. Fast unvorstellbar ist, daß gleichzeitig eine ganz andere Tätigkeit beginnt - der Weg in den konspirativen Widerstand, der schließlich durch die Kontakte zum kommunistischen Widerstand über den Kreisauer Kreis hinausführt.

So wird im Rückblick deutlich, daß die museumspädagogische Arbeit vor allem die Voraussetzungen für eine ausgedehnte Vortrags- und Reisetätigkeit und somit für eine politische Tätigkeit geschaffen hat, die in vielen früheren Äußerungen Reichweins angelegt ist, aber sich doch nicht mit zwangsläufiger Konsequenz entwickelt. Das verbindet ihn mit anderen Regimegegnern, von denen manche nicht selten sogar die Ziele überwinden müssen, die sie partiell in der Außen- oder Sozialpolitik mit den Nationalsozialisten geteilt haben. Die Bemühungen um das „Danach" lenken den Blick in grundsätzlicher Weise auf die Zeit nach der nationalsozialistischen Herrschaft. Reichweins Arbeitszimmer im Berliner Prinzessinnenpalais wird bald zu einem wichtigen Treffpunkt jener Regimegegner, die seine Nähe suchen, wie Moltke, oder zu denen er Verbindungen knüpfen kann, wie zu Mierendorff, dessen Tod ihn tief traf. [ Adolf Reichwein an Harro Siegel, 18.12.1943.] Reichwein verknüpfte zunehmend die Fäden zwischen Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner, Hermann Maass und Julius Leber, also jener Gruppe, deren Mitglieder aus der demokratischen Arbeiterbewegung kamen und eine entscheidende Rolle bei dem Umsturzversuch zu übernehmen hatten, weil sie die Chance verkörperten, aus dem militärisch-bürgerlichen Widerstand ohne Volk unmittelbar nach dem Umsturz einen Widerstand aus dem Volk werden zu lassen. Sie verkörperten die Aussicht, eine breitere Unterstützung in der Bevölkerung zu finden.

Unübersehbar überlagern sich Reichweins Bemühungen im Widerstand mit seiner normalen beruflichen Tätigkeit im Museum für Deutsche Volkskunde. Dies war eine Frage der Tarnung, aber auch eine Zwangsläufigkeit, denn eine den Tag ausfüllende konspirative Tätigkeit war nicht realistisch. In der Deutung rückt natürlich die Regimegegnerschaft in den Vordergrund. In ihr zeigt sich die historisch-politische Verortung von Reichwein, der gewiß als einer der bekanntesten deutschen NS-Gegner in beiden Teilen Deutschlands verehrt worden ist und insbesondere als Mitglied des Kreisauer Kreises bekannt und geehrt wurde. Dies hatte zur Folge, daß sein Leben vor allem vom Ende her gedeutet wurde. Viel entscheidender war aber seine Brückenfunktion innerhalb des bürgerlichen Widerstands - und darüber hinaus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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