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Rückblick auf Tiefensee

Am 24. April 1933 erreichte Reichwein die Nachricht von seiner Beurlaubung. Ohne Zweifel steht er im Unterschied zu manchen seiner Freunde zu dieser Zeit aber nicht im Zentrum der nationalsozialistischen Rachegefühle. Dies unterscheidet sein Leben in den ersten Jahren des NS-Staates von dem seiner späteren Leidensgenossen im Kreisauer Kreis. Deshalb kann sich Reichwein auch gegen die Emigration entscheiden. Der Wunsch, in Deutschland zu bleiben, verbindet ihn mit Carlo Mierendorff, Wilhelm Leuschner, Hermann Maass, Theodor Haubach und Julius Leber, auch mit Dietrich Bonhoeffer. Diese aber werden ausnahmslos unmittelbar nach Hitlers Macht-ergreifung persönlich mit den Folgen politischen Terrors konfrontiert. Reichwein hingegen wurde nicht inhaftiert oder gar, wie Mierendorff oder Leber, gefoltert; er wurde nach der Beurlaubung aus seinem Professorenamt im August 1933 lediglich in „ein anderes Amt" versetzt, das er zum 1. Oktober 1933 antreten konnte.

Reichwein war seit Herbst 1933 Volksschullehrer in Tiefensee, einer kleinen Gemeinde am Rande der Buckower Schweiz. Formal bedeutete dies nach seinem Empfinden „für die Gesellschaft" eine Rehabilitation. „Nicht aus politischen Gründen beurlaubt, und überhaupt wieder aktiver Staatsbeamter" [ Adolf Reichwein an die Eltern, 13.8.1933.] sei er, schrieb er Mitte August seinen Eltern. Er stellte sich der neuen Aufgabe mit großem Engagement, zog sogar Assistenten für die Arbeit in Tiefensee heran, Menschen, denen er vertraute. Er erregte ebenso Aufsehen mit seiner Art des Unterrichts, wie er auch öffentliche Anerkennung erhielt, die ihn möglicherweise sogar belastete. [ Isabella Rüttenauer, Brennpunkt Tiefensee, in: Pädagogik und Schule in Ost und West 15, 1967, S. 348-352; Ullrich Amlung, Adolf Reichweins Alternativschulmodell Tiefensee 1933-1939: Ein reformpädagogisches Gegenkonzept zum NS-Erziehungssystems, in: ders. u.a., Hg., „Die alte Schule überwinden": Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1993, S. 268-288; Karl Christoph Lingelbach,. Adolf Reichweins Schulmodell Tiefensee, in: Demokratische Erziehung 2, 1980, S. 391-397.] Denn Grenzen verfließen in Diktaturen immer - dies ist ein Kennzeichen eines totalitären Systems, welches strukturelle Differenzierungen aufhebt und nicht zuletzt zu einer semantischen Nivellierung neigt. [ Vgl. Wilfried Huber, Die Perversion reformpädagogischer Begriffe im Nationalsozialismus unter Berücksichtigung der Sprache von Adolf Reichwein, in: Christian Salzmann, Hg., Die Sprache der Reformpädagogik als Problem ihrer Reaktualisierung - dargestellt am Beispiel von Peter Petersen und Adolf Reichwein, Heinsberg 1987, S. 285-354.] Tiefensee bedeutete für Reichwein eine glückliche Zeit. Er beklagte sich nicht über sein Schicksal, sondern genoß das Zusammensein mit seinen Kindern und die Arbeit an der, wie er es nannte, „Erziehungsfront" [ Adolf Reichwein an Walther G. Oschilewski, 4.11.1937; dieser Ausdruck findet sich in Variationen des öfteren, etwa in den „Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung", S. 256, wo Reichwein von einer „Front der Volkshochschularbeit" spricht. Wenige Seiten später, S. 260, spricht er erneut von der „Erziehungsfront".] .

Reichwein konnte in Tiefensee vermutlich eine Chance nutzen, die bisher in der widerstandsgeschichtlichen Forschung nicht recht erkannt worden ist: die Furcht der Nationalsozialisten vor einer breiteren Emigration jener, die nicht unbedingt als „geborene Gegner des NS-Staates" auszumachen waren. Glücklicherweise, so schrieb er später an seinen ehemaligen Kollegen Hans Bohnenkamp [ Vgl. auch Hans Bohnenkamp, Gedenken an Adolf Reichwein, Braunschweig 1949.] , hätten sich vor dem Antritt der Lehrerstelle die Verhandlungen „so lange hingezogen, daß die Stimmung fürs Hierbleiben sich immer mehr festigen konnte." [ Reichwein an Bohnenkamp, 1.10.1933.] Für ihn eröffnete sich in Tiefensee somit eine sogenannte „deutsche Lösung". [ Reichwein an Ludwig Pallat, 10.10.1933.] Sie gab ihm die Möglichkeit, in der Phase seiner persönlichen Diskreditierung und auch Degradierung an eine Tätigkeit anzuknüpfen, die er als seinen ureigenen Auftrag und als Verpflichtung betrachtet hatte: die Erziehung und Bildung junger Menschen.

Im Vergleich mit dem Schicksal von Mierendorff und Haubach, aber auch von Leber wird der Unterschied in der politischen Biographie Reichweins deutlich. Denn ihm blieb bis zu seiner Verhaftung im Sommer 1944 ein Aufenthalt in Gefängnissen und Konzentrationslagern erspart. Reichwein war im Kern seines Wesens Pädagoge; seine späteren Freunde hatten in viel stärkerem Maße die unmittelbare politische Konfrontation mit den Nationalsozialisten gesucht, sei es als Mitarbeiter von kämpferischen Sozialdemokraten, sei es als Reichstagsparlamentarier. Sie wurden vor allem in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Sogströmungen ihrer Zeit zu politisch unbedingten Menschen. Reichwein hatte auch einen deutlichen sozialdemokratischen Hintergrund. Er hatte seit der Mitte der zwanziger Jahre in den „Sozialistischen Monatsheften" publiziert. Entscheidend war aber sein pädagogisches Interesse. Weil Erziehung immer auch politischer „Koordinaten" bedarf, ging es Reichwein aber nicht nur um Menschen-, sondern auch um Gewissensbildung [ Reichwein an Curtius, 3.5.1933: „Ich spüre mächtiger denn je, was sittliche Gewißheit und gutes Gewissen einem bedeuten können, wieviel Kraft einem von da kommen kann."] , vor allem aber um die Voraussetzungen der „Paideia" - um den Titel eines grundlegenden Werkes über die Grundlagen der Erziehung in der Antike aus der Feder des aus dem NS-Staat emigrierten Werner Jaeger hier aufzunehmen. Diese Grundlagen verwiesen auf das Gemeinwesen als die entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung des Menschen.

Die Nationalsozialisten hingegen verfolgten ein ganz anderes Ziel, denn ihre Pädagogen hämmerten in die Köpfe der Menschen ein, das Leben sei Kampf, der Einzelne bedeute nichts, das Volk sei alles. [ Vgl. Kurt-Ingo Flessau, Schule der Diktatur: Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1979; Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1995; Heinrich Kupffer, Der Faschismus und das Menschenbild der deutschen Pädagogik, Frankfurt/M. 1984, S. 19 ff.; Hans-Jochen Gamm, Führung und Verführung: Pädagogik des Nationalsozialismus, München 1964.] Reichwein ging im Unterschied dazu von einem ganz personalen Konzept der Bildung und Erziehung aus. Im Kreisauer Kreis konnte er später diesen Gedanken aufnehmen, in allgemeine und übergeordnete Kontexte rücken und dabei programmatisch verdichten. Bezugspunkt von Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung war der Mensch - alles erhielt die wichtige Rechtfertigung durch ihn, den Menschen, die, wie es in einem sokratischen Dialog hieß, „kleine Polis".


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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