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Im Zentrum des Kreisauer Kreises

Und bald weitete sich sein Kreis. Den Jahreswechsel 1939/40 feierte Reichwein nach der Erinnerung eines Beteiligten in Moltkes Wohnung am Nollendorfplatz und traf dort u.a. mit Hans-Bernd von Haeften, Fritz-Dietlof von der Schulenburg und Horst von Einsiedel zusammen. Ein wichtiger Schritt war damit getan. Aufgrund seiner Funktion konnte Reichwein unverdächtige Reisen unternehmen, denn immer wieder war er zu Vorträgen eingeladen. Im Sommer 1940 war er etwa in Stuttgart, wenig später in Braunschweig, auch Kassel lag auf dem Weg. Er nutzte diese Reisen gewiß für Kontakte. Sein Bekanntenkreis weitete sich.

Wichtig wurden Treffen in Yorcks Wohnung, auch eine Begegnung zwischen Moltke, dem Tegeler Gefängnisgeistlichen Harald Poelchau und Adolf Reichwein. Wichtig waren auch Gespräche mit Eugen Gerstenmeier. Hinzu kamen viele Gespräche, deren Sinn sich den Beteiligten nicht selten erst mit dem Tode Reichweins erschloß. Systematisch lassen sich die Inhalte der Gespräche und die Folgen der Begegnungen nicht erforschen. Sicher ist nur: Die Zahl der Begegnungen wuchs allmählich, gewiß durch die „systematische Pflege" der Verbindung, die Moltke Ende Juni 1940 seiner Frau ankündigte. [ Helmuth James Graf von Moltke, Briefe an Freya 1939 - 1945, hg. von Beate Ruhm von Oppen, München 1988, S. 150 (28.6.1940).]

Vergleichsweise früh, vermutlich vor den anderen sozialdemokratisch orientierten Mitgliedern, kam Adolf Reichwein in diesen Zirkel, den die Gestapo später nach dem dreimaligen Tagungsort „Kreisau" in Oberschlesien, dem Schloß der Moltkes, benannte. Er hatte die drei bereits genannten Sozialdemokraten mit großer Wahrscheinlichkeit sogar erst an den Freundeskreis herangeführt.

Obwohl unbestreitbar ist, daß die Mitarbeit im Kreisauer Kreis für Reichwein den Höhepunkt seiner geistigen und politischen Existenz markiert, ist es doch problematisch, wenn seine Lebensgeschichte von dem durch die Mitgliedschaft bestimmten Ende her gedeutet würde. Dies empfanden auch manche seiner Gesprächspartner, denen sich erst von Reichweins Ende der Sinn mancher seiner Bemerkungen erschließen konnte. [ Vgl. Hans A. Maurer: „Das damals geführte Gespräch ist mir unvergeßlich, wurde aber erst durch die Ereignisse des Jahres 1944 ganz verständlich." Kommentar zu Brief 183 von Ursula Schulz.] Bei aller Zurückhaltung gegenüber der nachträglichen Sinngebung mancher Äußerungen, Begegnungen und Beobachtungen ist aber unübersehbar, daß in der 1940 beginnenden Diskussionsphase genau die kommunikativen Erfahrungen wirksam wurden, die Reichweins frühere berufliche und pädagogische Tätigkeit kennzeichneten.

Im Hinblick auf Reichweins innere Entwicklung ist deshalb eine Trennung des Endes von der persönlichen und politischen Entwicklung ebensowenig möglich, wie es kaum gerechtfertigt werden kann, seine vielfältigen Interessen auf einige auf ihn zurückgehende Positionspapiere des Kreisauer Kreises einzuengen. Deshalb ist es notwendig, auch die Jahre zwischen der Machtergreifung und der Entscheidung für ein Leben im Gegensatz zum Regime in seine politische Entwicklung zu integrieren. Gerade dabei ergibt sich eine beeindruckende prinzipielle Kontinuität. Sie wird sichtbar in einigen Briefstellen. So mag es nur bedingt überraschend sein, daß Reichwein bereits mehr als zehn Jahre vor den Gesprächen im Kreisauer Freundeskreis das Thema gemeinsamer Bestrebungen unbewußt angeschlagen hatte, als er nach seiner politisch bedingten Entlassung im Frühjahr 1933 und der Zerschlagung der Gewerkschaften nach dem 1. Mai 1933 in einem Brief an Ernst Robert Curtius festgestellt hatte, sein Koordinatensystem sei „unerschüttert" [ Reichwein an Curtius, 3.5.1933.] . Es tue ihm allerdings „wohl, einige Menschen zu wissen, die noch in Ordnung sind". Denn um die Bestimmung dieser Koordinaten als Voraussetzung einer institutionellen Neuordnung ging es im Kreisauer Kreis.

Die Klarheit seiner Handlungsbezüge war die Voraussetzung für die Mitwirkung in einem Kreis, dessen Mitglieder der Respekt vor dem anderen und die Kraft zur Eindeutigkeit vereinten. Dies verband ihn mit Moltke, der jede Zweideutigkeit ablehnte und sich sehr abschätzig über unentschiedene Zeitgenossen, ausließ, die er als „Füllsel" bezeichnet hatte. Auch für Reichwein war das Vertrauen in sein Gegenüber eine entscheidende Voraussetzung für das Gespräch, gewiß auch für den Dialog und den Streit. Der Wille zur Eindeutigkeit und die Freude an der Auseinandersetzung verbanden sich zu jenem Selbstbewußtsein, das den zu dieser Zeit noch keineswegs konspirativ agierenden Kreisauern gestattete, Verbindung zu Gruppen von Regimegegnern zu suchen, die von ganz anderen Traditionen geprägt waren und die vermutlich auch ganz unterschiedliche Motive antrieben.

Reichwein stand den beiden führenden Köpfen dieses Freundeskreises - Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg - menschlich besonders nahe, und dies nicht nur, weil sein Büro ein wichtiger Anlaufpunkt für die Freunde geworden war oder seine im August 1943 in Berlin-Südende ausgebombte Familie auf dem Gut Kreisau ein Unterkommen gefunden hatte. Moltke hatte seiner Frau Freya in den Jahren zuvor immer wieder über Treffen mit Reichwein berichtet, der zu den Sozialdemokraten zählte, die auch bei den Angehörigen des bürgerlich-konservativen und militärischen Widerstands Ansehen genossen und zugleich mehr anstrebten, als lediglich eine politische Richtung in einem Diskussionszirkel zu verkörpern. Denn er hatte den Beratungen im Freundeskreis entscheidende Anstöße im Bereich der Erziehung, der Kultur und der Wissenschaft zu vermitteln. Dabei ging es nicht allein um Menschenbildung, sondern vor allem um Fragen der Erziehung als Voraussetzung politischer Gemeinschaftsbildung.

Deutlich wird aber auch, in welchem Maße sich Reichwein nach 1933 politisch verändert hat. Stehen vor 1933 viele politische Ereignisse im Schatten ganz privater Ereignisse und beruflicher Entwicklungen, so überlagerte allmählich die Politik vieles andere. Dies wird an einem Detail deutlich. Am 30. Januar 1933 inszenierte Hitler seine „Machtergreifung", wurde Julius Leber in Lübeck nach einer Demonstration von der Polizei zusammengeschlagen und inhaftiert. Reichwein feierte an diesem Tag seine Verlobung mit Rosemarie Pallat. Zwei Monate später, am 1. April, dem Tag des ersten Massenboykotts der Geschäfte jüdischer Besitzer, geben sich beide ihr Jawort. Das Öffentliche steht in diesen Tagen mithin wohl ganz unvermeidlich im Schatten des Privaten. Jahre später hingegen überlagerten private Ereignisse nicht mehr die Zeiterscheinungen, machten sie den Mund nicht stumm, sondern umgekehrt: Private Ereignisse wurden nun mit den politischen Großereignissen verbunden. „Wer hätte das gedacht", fragte Reichwein Anfang Juni 1944 seine Frau, „daß sich das Datum der Invasion für immer mit Sabines Geburtstag verknüpfen würde?" [ Adolf Reichwein an Rosemarie Reichwein, 7.6.1944.] Und er fuhr fort: „Möge es für ihren Lebensweg ein glückliches Omen sein."

In dieser eindrucksvollen Weise war die Politik allerdings erst ganz allmählich in das Leben von Reichweins Familie gedrungen - zunächst war die Bemühung um Bildung und Erziehung, um die Grundlagen der Menschenbildung bestimmend gewesen. Prägend war vor allem der berufliche Alltag gewesen. Die Märztage 1933 etwa standen noch ganz im Schatten von Prüfungsverpflichtungen und ließen so in den überlieferten Briefen kaum sichtbar werden, daß 1933 in Berlin eine liberal-verfassungsstaatlich geprägte politische Welt zusammenbrach und sich die „Legalisierung der Rache" vorbereitete. Dennoch wurde zunehmend der politische Wandel sichtbar, auch wenn Reichwein die auf die „Machtergreifung" folgenden Wochen keine Verfolgung brachten. Unverkennbar bedeuteten die Apriltage des Jahres 1933 vor allem Unsicherheit angesichts der erwarteten Zwangsentlassung aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7.4.1933.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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