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Widerstand

Reichwein trafen die Entwicklungen im Grundsätzlichen nicht unvorbereitet. Denn die Veränderungen deutscher Politik und ihres Stiles hatte eine Gruppe jüngerer Sozialdemokraten beobachtet, die in der Weimarer SPD zwar nicht ohne Einfluß, innerhalb der überalterten Sozialdemokratie aber ohne eine feste Basis war. Der Erfahrenste war Julius Leber, der Lebhafteste Carlo Mierendorff [ Adolf Reichwein an Harro Siegel, 18.12.1943: „Carlo ist nicht mehr unter uns. Am 4. Dezember hat eine Bombe in Leipzig dieses von Kraft und Feuer strotzende Leben ausgelöscht." Charakteristisch schien Reichwein an Mierendorff der „wild daher strömende Lebenstrieb, den wir Ahnungslosen noch herzhaft belachten."] , und mit diesen „Jungen", die ihr politisches Selbstbewußtsein, ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und ihr Mut zur offenen Auseinandersetzung auszeichnete und die auch als „militante Sozialdemokraten" bezeichnet wurden, waren auch Theodor Haubach und Kurt Schumacher verbunden. In dieser frühen Verbindung zeichnete sich eine neue und wichtige Episode von Reichweins Entwicklung nach 1933 ab. Denn drei dieser „jungen" oder „militanten" Sozialdemokraten gehörten zehn Jahre später dem Kreisauer Kreis an, einer Gruppe von Regimegegnern, die durch Beratungen, Diskussionen, Abstimmungen und geistige Klärungsversuche die Voraussetzung einer „Neuordnung" der deutschen Gesellschaft, ihrer Kultur und Politik, aber auch ihrer Wissenschaft und Wirtschaft erörterten - zunächst ohne den Blick auf einen aktiv betriebenen Umsturzversuch, bald aber als entscheidender intellektueller Motor eines Widerstandes, der nicht mehr aus engen sozialen Milieugrenzen und politisch-konfessionellen Traditionen erfolgte.

Die ersten Mitglieder dieses Kreisauer Kreises trafen sich seit dem Sommer 1940, vielleicht auch schon etwas früher, zunächst in Berlin. Ausgangspunkt war der Versuch, im kleinen Kreis Vertrauter im Gespräch und in der Lektüre Austausch zu fördern. Die Anfänge dieses Kreises gehen auf Versuche von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg zurück, die im kleinen Zirkel von Diskutanten besonders intensiv Probleme der postdiktatorischen „Neuordnung" diskutieren wollten.

Die verschiedenen Gesprächspartner waren sich teilweise aus dem Studium, teilweise durch verwandtschaftliche, nicht selten auch durch politische Verbindungen bekannt. Sie beabsichtigten zunächst nicht mehr, als in der Diskussion und im Nachdenken über das „Danach" neue politische Grundlagen zu schaffen. Dabei brachten sie nicht zuletzt ihre politischen Differenzen zur Sprache. Wer Differenzen artikulieren wollte, um sie zu klären, mußte zunächst einmal die Konfrontation mit abweichenden Meinungen suchen. So schritt die pluralistische Strukturierung des Kreises voran. Dies war die Voraussetzung für den Versuch, vorhandene Unterschiede zwischen den einzelnen Teilnehmern gemeinsam zu durchdenken und zu überwinden. Deshalb zeichnete diesen Kreis der Wille aller Beteiligten aus, sich im Gespräch mit den Denkvorstellungen und Zielen, aber auch den Erfahrungen anderer auseinanderzusetzen.

Auch Reichwein gehörte früh in diesen Kreis. Schon 1940 erwähnte er eine Begegnung mit Carl Dietrich von Trotha [ Adolf Reichwein an Annemarie Pallat, 6.8.1940.] . Beide hatten manche gemeinsamen Ziele und Prägungen, die letztlich in der Überzeugung gründen mochten, daß aus der „Zusammenarbeit der Menschen ein Zusammenleben" werde [ Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand: Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 95.] . Trotha kam aus der Jugendbewegung der christlichen Pfadfinder, Reichwein aus dem „Wandervogel", und beide waren durch die Idee der „Waldenburger Arbeits-
lager" beeinflußt worden. [ Vgl. Adolf Reichwein, Jungarbeiter-Freizeit, in: Fritz Klatt, Freizeitgestaltung: Grundsätze und Erfahrungen zur Erziehung des berufsgebundenen Menschen, Stuttgart 1929, S. 27-30; ders., Ein Arbeitslager, in: Volkshochschulblätter für Thüringen 10, 1928/29, H. 1, S. 14-19; ders., Jungarbeitererziehung durch Auslandsreisen, in: Der Zwiespruch 13, 1937, Bl. 27 v. 5.7.1931, S. 315 f.]

Kennzeichen der Kreisauer war eine immer wieder spürbare Distanz gegenüber dem NS-Staat, die auch nicht durch die Übernahme beruflicher Funktionen innerhalb des Systems gemildert, sondern vielleicht durch die dabei gewonnenen Kenntnisse über den Zustand Deutschlands und die Realität des Rassen- und Weltanschauungskrieges gesteigert wurde. [ Auch in dieser Hinsicht gibt es eine bezeichnende Briefstelle. An Hannes Bohnenkampf schreibt Adolf Reichwein am 10.3.1940: Moldenhauer (ein gemeinsamer Bekannter, der im Westen eine MG-Kompanie führte) „meint, der Krieg würde unanständig, wenn aus Rotationspressen und Rundfunksendern statt aus Kanonen und Gewehren gefeuert würde."] Diese Distanz steigerte sich augenscheinlich angesichts außenpolitischer und militärischer Erfolge. Dies machen die wenigen überlieferten Bemerkungen aus den Vorkriegs- und den frühen Kriegsjahren aus der Feder von Reichwein deutlich. Wenn etwa in Deutschland und auch in Europa das Münchener Abkommen vom Herbst 1938 weitgehend als Erfolg empfunden wurde, so wuchs gerade unter dem Eindruck dieses diplomatischen Erfolges, der nicht vom Pogrom des November 1938 getrennt werden kann, der Pessimismus unter den Regimegegnern und steigerte sich fast zur Niedergeschlagenheit. Reichwein schreibt seinem britischen Briefpartner wenige Wochen nach dem Abschluß des Münchener Abkommens: „Im ganzen der europäischen Dinge" seien „natürlich die letzten Wochen sehr schmerzlich" gewesen. „Ich zog mich ganz nach innen und in meine tägliche Arbeit." [ Adolf Reichwein an Rolf Gardiner, 19.12.1938.] Neben dem Rückzug „nach innen" ist zur gleichen Zeit der starke Wunsch spürbar, als verhängnisvoll empfundene Entwicklungen zu beeinflussen. Seinem langjährigen Freund, dem Eucken-Schüler Paul Hensel, klagt er am 6.11.1938, er sehe die „Zeit echter kulturpolitischer Einsätze noch nicht gekommen". Deshalb sei es „um so wichtiger [...], sie vorzubereiten." [ Adolf Reichwein an Paul Hensel, 6.11.1938.] Er selbst sei bei dieser Vorbereitung nicht müßig und „pflege mit Bedacht die vom Reichsnährstand und Hitlerjugend aufgenommenen Verbindungen." Die von ihm bewußt gesuchte Nähe war kein Ausdruck der Anpassung, sondern der Bemühung um die Abwehr verhängnisvoller Entwicklungen.

Selbstdistanziert schrieb Reichwein deshalb wenige Wochen später an Wilhelm Flitner: „Wenn meine politische Struktur tagesgemäßer wäre, könnte jetzt wahrscheinlich Großes erreicht werden." [ Adolf Reichwein an Wilhelm Flitner, 3.12.1938.] In den zitierten kleinen Briefstellen wird deutlich, daß sich Reichwein in einer tiefgehenden Umbruch- und Neuorientierungsphase befand. Er hat die Stimmung, die seine frühe Selbstdarstellung prägt und den an Elisabeth Walther gerichteten Brief [ Adolf Reichwein an Elisabeth Walther, 18.10.1933: „Mit der Grundidee der Nationalsozialistischen Bewegung befand und befinde ich mich also nicht in Konflikt. Ich versuche also für meine alte Idee in neuen Verhältnissen zu leben und zu wirken, brauche mich in nichts wesentlichem zu ändern und behalte mein grades gesundes Rückgrat."] gekennzeichnet hat, ganz augenscheinlich endgültig überwunden. Nun beginnt eine Phase konspirativer Tarnung. Deshalb steht eine Grußformel wie „In ausgezeichneter Hochachtung Heil Hitler! Ihr sehr ergebener" [ Adolf Reichwein an Hans Keller, 28.4.1939.] neben dem klaren und - der Krieg hatte noch nicht begonnen - visionären Bekenntnis zum deutsch-französischen „Verstehen" als Grundlage eines „späteren Friede[ns] unseres Erdteils" [ Adolf Reichwein an Annemarie Pallat, 8.8.1939.] .

Ende der dreißiger Jahre vollzog Reichwein einen Wechsel von der Schulpädagogik zur Museumspädagogik. Er war die Voraussetzung für nur aus dem Rückblick wenig überraschende Verwerfungen, welche den Übergang in die vierziger Jahre prägten. Sicher ist: Beim Übergang vom dritten in das vierte Jahrzehnt betrachtete Reichwein seine schulpädagogische Aufgabe als erfüllt, sei es, weil er an Grenzen gestoßen war, sei es, weil für 7ihn nach der Errichtung der geplanten neuen Landschule nichts Konzeptionelles mehr zu tun blieb, sei es, weil sich in Berlin einfach eine andere Notwendigkeit der Beeinflussung von Zeitströmungen und Entscheidungskonstellationen abzeichnete.

Der Wechsel seines Aufgabenbereichs führte Reichwein mit dem Beginn des Krieges unmittelbar nach Berlin und überdies in das Regierungsviertel. Hier bot sich für ihn wiederum, zumindest oberflächlich betrachtet, die Chance, pädagogische Konzeptionen praktisch umzusetzen. Reichwein erhielt eine Leitungsfunktion der Museumspädagogik, und mehr noch: er sollte den Schulfunk, der im Rundfunk täglich ausgestrahlt wurde, pädagogisch betreuen. [ Adolf Reichwein an die Eltern, 7. u. 25.10.1939.] Viel wichtiger als diese Dinge wurde aber die Chance, alte politische Verbindungen aufzunehmen. In Berlin lebte Julius Leber mit seiner Familie von einer Kohlenhandlung, hier begegnete Reichwein seinen alten engen Freunden wie Carlo Mierendorff und Theodor Haubach.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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