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Immer wieder: Übergänge

Die Übergänge zwischen Bildung und Politik, zwischen Politik und Wissenschaft und schließlich wieder von der Erziehungswissenschaft in die praktische Schulbildung gestalteten sich schwierig und waren nicht ohne soziales Risiko. Reichwein konnte bei jedem Wechsel seiner Tätigkeitsbereiche an frühere Leistungen anknüpfen, im Sommer 1933 nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst aber auch zeitspezifische Möglichkeiten ausnutzen, denn vermutlich hatten die Nationalsozialisten Interesse daran, daß auch ihnen gegenüber distanzierte Zeitgenossen nicht wie Tausende anderer deutscher Emigranten das „Reich" verließen. Reichwein hatte sich bereits einen Namen gemacht und besaß auch internationale Verbindungen. Als Schwerverwundeter des Weltkrieges genoß er Anerkennung, und die Novemberrevolution hatte ihn 1918 nicht in eine Position gebracht, in der er die weiteren Entwicklungen der von den Nationalsozialisten verabscheuten „Novemberrepublik" hätte beeinflussen können. Die Übergangsphase zur Weimarer Republik war für ihn durch das zielstrebige Studium in Frankfurt am Main, damals einer der jüngsten, und in Marburg, einer der traditionsreichsten deutschen Universitäten, bestimmt gewesen. In den Endjahren des Krieges und in der Revolutionszeit überschlugen sich für ihn manche persönlichen, aber keine politischen Entwicklungen: Beeinflußt durch die Ideale der bündischen Jugend, war er unmittelbar im Anschluß an seine Schulzeit Soldat geworden. Alle seine damaligen Erfahrungen, auch die des Krieges, integrierte er in sein Konzept von Bildung und Erziehung. Dies mag erklären, weshalb er die Tätigkeit des Pädagogen mehrfach als Einsatz an der „Erziehungsfront" charakterisiert hat.

Überraschend bleibt, wie wenig sich die Brüche der dreißiger Jahre in Reichweins Briefen und Schriften niederschlagen. Aber möglicherweise sind wir gerade mit dieser Erwartung ein Opfer der Geschichtsschreibung zum Widerstand, die natürlich in Kenntnis der eingetretenen Entwicklungen vieles eindeutiger sieht, was selbst der beteiligte Zeitgenosse nicht immer ganz deutlich erkannte. Die zeithistorische Forschung hat das Jahr 1930 zu einer der wichtigsten Zäsuren der Weimarer Republik gemacht. Nicht nur nach dem Urteil von Arthur Rosenberg [ Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1961.] bedeuteten die Präsidialkabinette das Ende der Weimarer Demokratie. Denn die plebiszitäre Überformung der politischen Auseinandersetzungen wurde durch die Militarisierung der deutschen Gesellschaft verstärkt. Diese mündete in eine wachsende Bereitschaft der Bevölkerung zur Gewaltsamkeit.

Gewaltbereitschaft ist immer eine Herausforderung für die Vertreter der politischen Pädagogik gewesen, die durch politische Bildung das Zusammenleben auf eine gemeinsame Grundlage der Einzelnen stellen und sie zur „Verfassung" im umgreifenden Sinne erziehen wollen. Dies setzt den Respekt vor dem anderen und die Bereitschaft zum Wechsel des Blickwinkels voraus. Im Fremden spiegelt sich das Eigene und begründet Respekt vor dem, was Menschenantlitz trägt, so sehr sich Lebensstile auch unterscheiden mögen. Nur - wir wissen dies alles, weil sich die Katastrophe ereignet hat. Reichwein stand mitten in den Veränderungen und durchlebte eine Gegenwart als Zeitgeschichte, die ihren Ausgang noch nicht kannte. Deshalb gab es verschiedene Antworten und Alternativen zu dem, was sich dann letztlich durchsetzte.

Politik allerdings hält in der Massendemokratie diese Vielfalt nur schwer aus, sondern strebt nach Homogenität. Der Respekt vor dem Fremden wird durch die Furcht vor dem Anderen ersetzt. Mit offenem Blick durch die Welt zu gehen ist die Voraussetzung geistiger Souveränität und Selbstsicherheit. So geriet Reichwein in den späten Jahren der Weimarer Zeit in ein Spannungsverhältnis: Was er pädagogisch wollte, wurde durch die Politik gefährdet und schließlich unmöglich gemacht. Was er nicht wollte, erfuhr er als Zumutung, auf die zu reagieren war. Diese Erfahrung teilte er mit anderen Pädagogen dieser Zeit, von denen manche emigriert waren, viele sich angepaßt hatten. Reichwein gehörte weder zu den einen noch zu den anderen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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