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Pädagoge und Erzieher

Reichwein, zehn Jahre später fast noch zu den Jüngeren im Widerstand [ Detlef Graf Schwerin, Die Jungen des 20. Juli 1944, Berlin 1991; ders., „Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt": Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 1991.] zählend, war in den zwanziger Jahren in Fachkreisen als Reformpädagoge und erfolgreicher Praktiker der Erwachsenenbildung bekannt geworden und hatte in einigen bildungspolitisch klaren Stellungnahmen, die ihn als einen in seinen Grundstrukturen sozialdemokratisch denkenden Zeitgenossen verrieten, bewußt gemacht, daß Bildungsfragen nur in allgemeinen Zusammenhängen zu erörtern waren. Auch in dieser Hinsicht darf man sich nicht durch seine späteren Erklärungen irritieren lassen, die man als Korrektur ursprünglicher Positionen im Hinblick auf den Akademiegedanken deuten wollte. [ Vgl. „Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung". Hier wäre es lohnend, auch andere Selbstdarstellungen späterer Regimegegner, die sich an die NS-Machthaber richteten und deshalb die „Kunst der Verstellung" (D. Bonhoeffer, Nach zehn Jahren) voraussetzten, aus der Konsolidierungsphase des NS-Staates heranzuziehen.] Denn entscheidend ist, daß manche seiner bildungspolitischen Grundüberzeugungen nicht in den Details, sondern in den Grundlagen konstant blieben. Diese verwiesen auf den Austausch mit anderen, auf Erfahrungen, die zu sammeln waren, auch auf Einblicke, um die man sich offenen Blicks zu bemühen hatte. Dieser Wille zum Austausch schuf jene Fähigkeit zur kommunikativ vermittelten Nähe, die alle in Bann zog, die Reichwein begegneten. Und ganz sicher erklärten seine Zugewandtheit und Offenheit auch die ausgeprägte Gesprächsbereitschaft, die ihn kennzeichnete. Nicht allein um das Wie, sondern auch um das Was ging es ihm letzten Endes. Und dieser Wille zum Inhalt bestimmte seine politische Verhaltensweise in den Jahren bis zum Kriegsausbruch. Denn Reichwein versuchte, seine Bildungskonzepte zu entwickeln und auch mit nationalsozialistischen Institutionen durchzusetzen, die er eigentlich verachtete.

Die Verantwortung des Pädagogen war in der Weimarer Phase seiner Professionalisierung nicht allein durch die Inhalte seiner wissenschaftlichen Disziplin, sondern auch durch eine mitmenschliche Aufgeschlossenheit und Verantwortung für die öffentlichen Dinge bestimmt. Insofern waren die Weimarer Pädagogen von Nohl bis Flitner, soweit wir heute noch an sie anknüpfen, durch ihre Interessiertheit an allen Fragen der Bildungs-, Unterrichts- und Lebensreform geprägt. Ihre Verantwortung für die politischen Dinge hatte sich in den Endjahren der ersten deutschen Republik täglich zu beweisen. Ende 1931 hatten sich die politischen Verhältnisse ersichtlich zugespitzt. Den Deutschen stand das „Wahlkampfinferno" des Jahres 1932 ja erst noch unmittelbar bevor, ebenso der „Preußenschlag", den Franz von Papen als Reichskanzler gegen das demokratische Preußen führte.

Widerstandslos nahmen Gewerkschaften, Demokraten, Vertreter des politischen Katholizismus und der Arbeiterbewegung das Schleifen des „demokratischen Bollwerks" hin. Sie bereiteten so eigentlich jenen Dammbruch vor, der im Sommer 1932 mit den Reichstagswahlen einen nationalsozialistischen Triumphzug in den Reichstag und von dort in die Regierungsverantwortung einzuleiten schien. Brünings Konzept war zu dieser Zeit ebenso gescheitert wie andere politische Zähmungskonzepte. Die Auflösung der Weimarer Republik hatte begonnen [ Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik: Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 u.ö.] - die Zukunft war nicht mehr offen, sie war verdunkelt. Diese Färbung blieb letztlich auch in den folgenden Jahren bestimmend. Auf unvergleichliche Weise bringt Reichwein dies viele Jahre später auf den Begriff, als er im Zusammenhang mit dem Einfall deutscher Truppen in Norwegen von einem „düsteren Strahlen" sprach, der seinen Alltag beeinflußte. [ Adolf Reichwein an Carl Rothe, 26.4.1940.]

Am Ausgang der Weimarer Republik war es dem politisch Engagierten kaum mehr möglich, sich einer Entscheidung zu enthalten oder ganz der politischen Verantwortung zu entsagen. Diese Entscheidungsprämissen prägten auch Reichwein. Nun schienen sich manche seiner früheren Erfahrungen - Krieg, Studium, Erwachsenenbildung und Konfrontation mit dem Fremden als Folge seiner Aufgeschlossenheit für das jeweils andere - zu bündeln, der so geschürzte Knoten einen neuen Ausgangspunkt zu markieren. Ein Konzept hatte er jetzt wie auch später, und insofern läßt sich das Jahr 1933 (wie 1930) nicht als Einbruch, bestenfalls als wichtige Veränderung seines Handlungsrahmens deuten. Dieses Konzept verband Politik und Erziehung. Deutlich wird es in der Erklärung seines Beitritts zur SPD, wo seines Erachtens ein „erzieherischer Einsatz am dringendsten" schien [ Adolf Reichwein, „Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung", S. 261.] . Er drängte nicht in die Politik, sondern er wollte gleichsam zu ihr, um bildend zu wirken.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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