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Verwerfungen und Entscheidungen

Das Protokoll der Tagung erschließt eine auf den ersten Blick befremdende Formulierung, die Reichwein in ähnlicher Weise auch später, im Sommer 1933, in seinem Lebensbericht benutzte, den er im Zusammenhang mit seiner Wiedereinstellung in das Beamtenverhältnis niederschrieb. Dabei bekannte sich Reichwein nicht nur zu einer „volkstümlichen Bildung" und Erziehung, sondern auch zu der Vorstellung, gerade durch diese Volkstümlichkeit die „Volksgemeinschaft" verwirklichen zu können. Er habe begonnen, so schrieb er, „zu lernen, daß die Verwirklichung der Volksgemeinschaft eins sei mit der Verwirklichung der sozialistischen Nation". [ „Bemerkungen zu meiner Selbstdarstellung", S. 255.]

Auch diese Deutung ist interpretierbar, denn Reichwein hatte gerade durch seine Übereinstimmung mit den Zielen national geprägter Sozialdemokraten wichtige Voraussetzungen für einen semantisch überzeugenden Anklang an die Terminologie geschaffen, deren Beherrschung eine Voraussetzung für sein Überleben in der Konsolidierungsphase der Diktatur war. Ihm kam zugute, daß er - ebenso wie Mierendorff - als Mitglied des Beirats dem Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus" nahestand, ohne sich allerdings in der Untergangsphase der Republik publizistisch breit entfalten zu können. [ Bekannt geworden ist der Aufsatz von Adolf Reichwein, Pädagogische Akademien - Gefahr im Verzug, in: Sozialistische Monatshefte 37, 1931, S. 988-993.] Ohne Zweifel war er ein national orientierter Sozialdemokrat, auch wenn er sich in einem auf den ersten Blick höchst mißverständlichen Brief als „nationaler Sozialist" bezeichnet hatte, weil er die Forderung vertreten hatte, „durch Sozialismus zur Nation" zu gelangen. [ Adolf Reichwein an Elisabeth Walther, 18.10.1933.]

Auch wenn Reichwein später betonte, sich mit der „Grundidee der Nationalsozialistischen Bewegung [...] nicht im Konflikt" zu befinden oder befunden zu haben, so war dies eine an Adressaten gerichtete Beschwörung, keine Beschreibung seines inneren Zustandes. Denn es war ja gerade deutlich geworden, wie sehr er sich in der Distanz zum NS-System befand. Daß sich nicht offene Bemerkungen der Kritik, des Abscheus, der Gegensätzlichkeit finden, war ohne Zweifel auch das Ergebnis seiner akademischen Belastungen und umfangreichen pädagogischen Verpflichtungen. Die ihm zur Verfügung stehende Zeit für die Auseinandersetzung mit den programmatischen Strömungen der Weimarer Sozialdemokratie war wegen seines aufreibenden pädagogischen Engagements viel zu knapp bemessen.

Im Zentrum von Reichweins akademischen Interessen standen bald die neuen Medien, der Rundfunk und die Möglichkeiten des Unterrichtsfilmes. Dieses Interesse verstärkte sich ganz stark nach 1933. Seine Aufgeschlossenheit teilte er mit anderen Zeitgenossen - etwa Carlo Mierendorff. In seiner Lebensform demonstrierte Reichwein aber bereits lange vor 1933 die Aufgeschlossenheit für das Moderne. Modernität schreckte ihn nicht, sondern forderte ihn heraus. Mit Sicherheit war er der einzige Hochschullehrer in Deutschland, der ein eigenes Flugzeug besaß. So konnte er Verbindungen halten, auch ein Netz knüpfen, persönlich beeindrucken und wirken. Denn Reichwein sprach nicht nur aus den Abhandlungen zu den Menschen, sondern er wirkte persönlich, unmittelbar. Die Mischung einer Aufgeschlossenheit gegenüber Menschen und für Veränderungen war auch die Grundlage seines späteren großen pädagogischen Erfolges. Es scheint, als wenn ihn die positive Resonanz, die seine Arbeit bereits in den späten Weimarer Jahren gefunden hatte und in der NS-Zeit noch verstärkt worden war, letztlich sogar bedrückt habe, denn er lief Gefahr, lediglich nur dazu beizutragen, daß die Nationalsozialisten ein erzieherisches Vorzeigeprojekt erhielten, welches deutlich machen konnte, in welchem Maße im nationalsozialistischen Deutschland die Bildung der dörflichen Jugend gepflegt werde.

Reichweins pädagogische Arbeiten sind in Grundzügen bekannt [ Adolf Reichwein, Ausgewählte Pädagogische Schriften, hg. v. Herbert E. Ruppert und Horst E.Wittig, Paderborn 1978 (=Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften).] . Sie brauchen hier um so weniger aufgeführt und beleuchtet zu werden, als ihre Interpretation aus lebensgeschichtlichen Kontexten von Reichweins Biographen Ullrich Amlung [ Ullrich Amlung, Adolf Reichwein 1898-1944: Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers, 2 Bde., Frankfurt/M. 1991.] kongenial gelungen ist. Amlung konnte auch den Blick auf einen weiteren Bereich lenken, der für Reichwein bezeichnend war und zugleich mit dem Lebensbereich in Verbindung stand, der ihn seit den dreißiger Jahren zunehmend bestimmte: die nach 1933 fortgesetzte Bemühung um die Reform der Schule und des Unterrichts, die Museumspädagogik und, damit zusammenhängend, die neue Grundlegung des Gedankens einer Erziehung und Bildung durch Schule im Widerstand. Die erstgenannten Bereiche sind bestens erforscht, der letztgenannte liegt, wie es der Natur der Sache entspricht, in manchen Zügen noch im Dunkel, so groß auch die Fortschritte der Forschung nach neuen Quellenfunden waren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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