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Das Ende der Weimarer Republik

Reichwein stand nicht im Zentrum dieser Veränderungen, aber sie beeinflußten ihn - trotz der weitgehenden Absorption durch seine Arbeit, die insbesondere aus den überlieferten Briefen deutlich wird. Die Konsequenzen wurden von Woche zu Woche deutlicher. Nach dem Rücktritt des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller hatte der ehemalige Generalfeldmarschall und nunmehrige Reichspräsident Paul von Hindenburg mit parlamentarischer Duldung erstmals eine Präsidialregierung unter Heinrich Brüning etabliert, die nicht mehr einen aktuellen Notstand bewältigen, sondern eine neue Politik machen sollte. Aus dem demokratischen und parlamentarischen Parteienstaat sollte ein eher autoritär strukturiertes Gemeinwesen hervorgehen. [ Vgl. zu diesem Ansatz Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit: Der Weg der Republik von Weimarer in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989.] Manche Politiker träumten auch von der Rückkehr zur Monarchie.

Die Präsidialregierungen zerstörten seit 1930 das parlamentarische System in Deutschland, denn sie stützten sich nicht mehr auf parlamentarische Mehrheiten, sondern wurden bestenfalls parlamentarisch toleriert. Sie benötigten vor allem das persönliche Vertrauen des Reichspräsidenten und höhlten deshalb ganz entscheidend die demokratische Substanz der Republik aus. Institutionen wurden zunehmend von den Gegnern und Feinden der Republik mißbraucht, teilweise verändert, in jedem Fall geschwächt. Und damit schwand auch das Vertrauen in die Kalkulierbarkeit der Politik. Unkalkulierbarkeit verursacht ein Gefühl der Unsicherheit. Auch diese Stimmung begleitete Reichwein in den folgenden Jahren. „Alle Dinge bei uns" seien „unsicher", schrieb er am 1. Februar 1939 an einen englischen Freund, und verglich die angelsächsischen Schulreformen mit den deutschen. „Wir sehnen uns nach solcher Stetigkeit", setzte er fort und verglich die kulturelle Unstetigkeit mit der, die in „weniger wichtigen Bereichen" festzustellen sei, etwa bei der Gestaltung von „Plätzen und Prachtbauten". [ Adolf Reichwein an Rolf Gardiner, 1.2.1939.] Hier wurde deutlich, wie Reichwein seine Distanzierung von den Zeitströmungen vorantrieb, die ihn augenscheinlich zunächst keineswegs negativ berührt, sondern sogar vergleichsweise positiv gestimmt hatten. [ Vgl. dazu seine „Bemerkungen zu meiner Selbstdarstellung".] Daß er immer wieder betonte, daß die Sozialdemokratie auf dem Boden der Nation stand, machte ihn wie seine späteren Kreisauer Freunde zum nationalbewußten Sozialdemokraten, vielleicht auch zum „nationalen Sozialisten" - keinesfalls aber zum „Nationalsozialisten". Dennoch wird deutlich, auf welch dünnem Eis sich Regimegegner bewegten. Erst in der Regimegegnerschaft schälte sich jene Eindeutigkeit heraus, die auch auf semantische Abgrenzung durch Klärung und Unterscheidung zielte.

Wenngleich für Reichwein die Orientierung an der Möglichkeit einer Begründung des pädagogisch verantwortlichen Handelns des „volkstümlichen" Erziehers im Mittelpunkt stand, so ist doch unübersehbar, daß er immer wieder die politischen Entwicklungen [ Vgl. etwa Adolf Reichwein, Mit oder gegen Marx zur Deutschen Nation?, in: Mit oder gegen Marx zur Deutschen Nation, Leipzig 1932, S. 12-22.] reflektierte. In der Situation der Endjahre der Republik bekannte er sich zu seinen Absichten, die ihn 1918 und 1919 angetrieben hatten. Zwar deutete er diese 1933 so verklausuliert, daß sie mißverständlich wurden - dies aber war eine kluge Taktik seiner persönlichen Verteidigung. [ Ebda., S. 255.] Positive Äußerungen über Hindenburg, der mit der Republik niemals seinen Frieden geschlossen hatte, sind nicht bekannt. Der überforderte Reichspräsident hielt diejenigen, welche die erste deutsche Republik geschaffen hatten, schlechterdings für Landesverräter, die den Dolch in den Rücken der von ihm geführten, angeblich unbesiegten kaiserlichen Armee gestoßen hätten.

Demokraten, die sich dieser Deutung widersetzten, verloren seit 1930 zunehmend an Boden, aufgerieben zwischen den Flügeln extremistischer Parteien. Sie waren zumindest auf der Linken aber auch ein Opfer des Wunsches, der sich in der Parole Bahn brach: „Republik, das ist nicht viel! Sozialismus ist das Ziel!", und des verlorenen Vertrauens in kooperationsfähige Partner. Die Folgen dieses politischen Mißtrauens waren nicht nur ausgeschlagene parlamentarische Koalitionsmöglichkeiten, sondern eine Ausbreitung der Neigung zur politischen Destruktion. Wahlbeteiligung diente nicht mehr der politischen Beeinflussung des Gemeinwesens, sondern der Demonstration des Protestes, der Abneigung, der Manifestation eines verlorenen politischen Konsenses. Diese Erfahrung erklärt zu einem guten Teil, weshalb sich Regimegegner nach 1933 kaum auf das Ziel bezogen, diese Republik zu restaurieren. „Über Weimar hinaus zu gehen", diese Absicht bestimmte ihr politisches Wollen.

Reichwein gehörte nicht zu den entscheidungsschwachen oder gar zu den politisch kraft- oder gar willenlosen Menschen der ausgehenden Weimarer Republik. Im Gegenteil, denn er gab diese Republik nicht preis: Im September 1930 hatte er sich zur SPD bekannt, fast zur gleichen Zeit wie Karl Barth, und damit zu jener politischen Kraft, die nicht nur konsequent zur Weimarer Republik stand, sondern die der Stärkung durch entschiedene Republikaner bedurfte. Dabei versuchte er, in der Sozialdemokratie auch eine Bewegung zu gestalten, die eben nicht mehr als un- oder antinational diffamiert werden konnte. Das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Sozialdemokratie trieb mehrere, wenn auch kleine Gruppierungen von Sozialdemokraten um, die sich im Hofgeismarkreis oder im Leuchtenburger Kreis gesammelt hatten. Sie beschäftigte die Frage, wie die Nationalsozialisten an der Wähler- und Anhängerbasis zu bekämpfen seien. Dazu suchten sie die persönliche Ansprache der von den Nationalsozialisten umworbenen, aber auch die persönliche Konfrontation mit ihren politischen Gegnern. Die Vorstellungen Reichweins wurden während eines Kurses sichtbar, der in den späten Augusttagen des Jahres 1932 in Prerow auf dem Darß unter Leitung von Fritz Klatt stattfand und einer politischen Bestandsaufnahme gleichkam. Reichwein argumentierte entschieden, aber unaufgeregt. Er verteufelte die Nationalsozialisten nicht, sondern setzte unter Hinweis auf die „Doppelung" der Partei auf den linken Flügel um Otto und Gregor Strasser.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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