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Das Fremde suchen und respektieren - politische Krise

Der Weg in das neue akademische Engagement erfolgte nicht direkt, sondern über die Konfrontation mit dem Fremden. Ausgestattet mit einer Förderung der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft", knüpfte Reichwein nach seiner Scheidung an ältere Interessen [ Vgl. Adolf Reichwein, Die Rohstoffe der Erde im Bereich der Wirtschaft, Weimar 1924.] an und verfolgte erneut ein sozial-, kultur- und wirtschaftsgeographisches Forschungsvorhaben. Dies führte ihn von der Ost- zur Nordwestküste der USA, nach Seattle, von dort dann als Matrose über Yokohama nach Hongkong und zurück nach Mexiko [ Adolf Reichwein, Mexiko erwacht, Leipzig 1930.] . Reichwein schien sich für die Rohstoffvorkommen der großen Länder [ Adolf Reichwein, Die Rohstoffwirtschaft der Erde, Jena 1928. Dazu dann später: Rohstoffe im Kräftespiel der Zeit, in: Deutsche Rundschau 62, 1935-36, Bd. 248, H. 12, S. 208-219.] zu interessieren; tatsächlich aber fesselten ihn die Menschen in ihren Lebensverhältnissen [ Vgl. Adolf Reichwein, Japans Arbeiter- und Bauernbewegung, in: Sozialistische Monatshefte 33, 1927, Bd. 65, S. 533-540; ders., Ursprünge, Wandlungen und Tendenzen amerikanischer Arbeiterbewegung, in: ebda., S. 808-815. Im Jahre 1936 entstand eine umfangreiche Sequenz über unterschiedliche Erntetechniken in Lateinamerika.] . Er publizierte verschiedene kleine Studien [ Adolf Reichwein, Weltwirtschaft: Eine Studie, in: Gewerkschafts-Archiv 3, 1926, Bd. 4, H. 5,S. 193-208; Bd. 5, H. 1, S. 1-10. ] , aber auch umfangreichere Bücher über seine Reiseeindrücke [ Adolf Reichwein, Blitzlicht über Amerika, Jena 1930; ders., Erlebnisse mit Tieren und Menschen zwischen Fairbanks, Hongkong, Huatusco, Jena 1930.] und konnte sich auch auf diesem Gebiet einen Namen machen. Aber dieses Interesse diente nur der Abrundung seines Blicks, nicht der Vorbereitung eines neuen Aufgabenbereichs. Der lag in der Fortsetzung seiner pädagogischen Tätigkeit. Mit der Rückkehr nach Deutschland und dem Antritt der Hochschullehrerstelle in Halle boten sich neue Herausforderungen.

Die Pädagogischen Akademien stellten in der ausklingenden Weimarer Republik eines der großen und zugleich letzten Reformvorhaben in der wissenschaftlich fundierten Lehrerbildung dar. Ende der Zwanziger Jahre war der Wind der Reformbereitschaft bereits umgeschlagen - manche der Akademien wurden wieder geschlossen, Lehrkörper zusammengelegt. Reichwein stand seit den Dreißiger Jahren mitten in den Auseinandersetzungen um diese Akademien [ Vgl. Adolf Reichwein, Pädagogische Akademien - Gefahr im Verzug, in: Sozialistische Monatshefte 37, 1931, Bd. 74, S. 988-993.] . Dabei ging es nicht um Verteilungskonflikte angesichts knapper werdender Spar-Etats, sondern um eine dramatische Zeitsituation. Denn es wird deutlich, wie Reichwein zugleich mit persönlichen und politischen Alternativen zu seiner Hochschullehrertätigkeit konfrontiert wurde.

In den letzten Wochen des Jahres 1930 hatte sich die Krise der Demokratie in Deutschland zugespitzt. Die Parteien scheuten seit der Regierungskrise des Sommers 1930 die parlamentarische Verantwortung und verstärkten die Lähmung des Weimarer Parteienstaates. Die politischen Führungsschichten gaben in ihrer großen Mehrheit die aus der Novemberrevolution hervorgegangene Republik als politische Ordnung preis, mehr noch: sie lieferten diese freiheitliche, pluralistische, rechtsstaatliche und durchaus reformstarke Republik nicht selten ihren verfassungsfeindlichen Gegnern aus, indem sie nach autoritären politischen Alternativen suchten oder die Notwendigkeit der „reinen" Entscheidung propagierten. Manche Vernunftrepublikaner schließlich wandten sich von ihrem Gemeinwesen ab, und selbst Herzensrepublikaner erlahmten, um ein vielfach zitiertes Wort des Historikers Friedrich Meinecke zu wiederholen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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