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Prägungen Das erste entscheidend prägende, mithin kategoriale Ereignis war für Reichwein die Erfahrung des Weltkrieges. Er bedeutete nicht nur Lebensgefahr, sondern erstmals auch Diskontinuität. Reichwein wurde Anfang Dezember 1917 in der Schlacht bei Cambrai schwer verwundet. Gerettet hatte den Schwerverletzten damals Ernst Fraenkel [ Alexander von Brünneck, Leben und Werk von Ernst Fraenkel, in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1991, S. 360 ff.] , später einer der bedeutendsten deutschen Politikwissenschaftler. Als reformistischer Verteidiger des politischen Pluralismus [ Ernst Fraenkel, Reformismus und Pluralismus, Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Biographie, hg. von Falk Esche und Frank Grube, Hamburg 1973.] und der repräsentativen Demokratie mußte Fraenkel in den dreißiger Jahren in die USA emigrieren und analysierte dort auf eine bis heute gültige Weise das nationalsozialistische System als Doppelstaat" [ Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt/M. u. Köln 1974.] , der einerseits einen Normenbezug in seinen Entscheidungen zuließ und andererseits Normen und Institutionen durch Maßnahmen außer Kraft setzen konnte. Sein ehemaliger Kriegskamerad Reichwein erfuhr an seiner eigenen Person, was dieser Doppelstaat" in der Realität bedeuten sollte. Zum Sommersemester 1918 hatte Reichwein, der Lehrersohn aus Ober-Rosbach im Taunus, mit einem leisen Grauen" die heiligen Hallen" der Wissenschaft betreten, nachdem er bereits aus dem Lazarett heraus sein Studium aufgenommen hatte. Früh heiratete er eine Kommilitonin, die er aus der bündischen Jugend kannte. Bereits 1921 wurde Reichwein promoviert, damals 23 Jahre alt. In seiner Studienzeit begründete er manche Freundschaft, die über Jahre hielt. Und zugleich wurde deutlich, daß es ihn in die Praxis zog, in den Kreis überschaubarer Verhältnisse, die umfassend zu gestalten waren. Er engagierte sich in der folgenden Zeit ganz stark in der Erwachsenenbildung, die gerade in der Weimarer Zeit aufblühte. Nach dem Abschluß seines Studiums war er einige Jahre für die Volkshochschule im neuen Land Thüringen verantwortlich. Dieser Tätigkeitsbereich war ihm aber zu weit gesteckt. [ Adolf Reichwein, „Bemerkungen zu einer Selbstdarstellung", S. 256, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Ordner Reichwein.] Deshalb konzentrierte er sich bald dankbar auf die Volkshochschule Jena, die bis Ende der zwanziger Jahre ganz entscheidend durch ihn geprägt wurde. Volkshochschulbildung war in der Weimarer Republik Ausdruck eines pädagogischen Experiments, das die beweglichsten politischen Köpfe dieser Zeit, darunter Hermann Heller, in den Bann schlug. Ihre Anreger drängten auf gemeinsame Bildungserfahrung und knüpften dabei an bündische Lebensformen an. Man ging wiederholt auf Fahrt in weit entfernte und nicht selten kaum von der Zivilisation berührte Gebiete und suchte dabei eine existentielle Herausforderung. In der Erwachsenenbildung wurde die Trennung zwischen Lehrer und Schüler aufgehoben. Sie war Ausdruck des Vertrauens in die Fähigkeit zur politischen Verantwortung. Wer Erwachsene bilden wollte, mußte deshalb einerseits seine Hoffnungen auf neue Menschen, andererseits auf neue Bildung, drittens schließlich auf neue Lebensverhältnisse als Konsequenz verantwortungsbewußt betriebener breiter Pädagogik setzen. Die Jenenser Jahre waren durch eine persönliche Tragödie überschattet, verlor Reichwein doch seinen von ihm sehr geliebten Sohn durch einen tragischen Unglücksfall. Wenig später machte er eine andere kategoriale Lebenserfahrung mit der Scheidung von seiner Frau. Dabei spielten auch politische Gründe eine Rolle, denn Reichwein neigte längst der Sozialdemokratie zu, während seine erste Frau stärker zur kommunistischen Bewegung tendierte. Andererseits brachten die Jenenser Jahre beglückende pädagogische Erfolge. Hier wurde ein großer Teil jener Voraussetzungen für seine pädagogische Arbeit nach 1930 geschaffen, die sich mit dem bereits erwähnten neuen Typus von Akademischer Lehrerbildungsanstalt verband. Reichwein hatte als Leiter der Volkshochschule Jena nicht nur Erfahrungen sammeln, sondern vor allem Akzente setzen können. So war es nicht verwunderlich, daß man auch in Berlin aufmerksam wurde. Reichwein wechselte 1929 als Pressesprecher und Persönlicher Referent des liberal gesinnten preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker auf die Ministerialebene. Reichwein hätte dort sicherlich großen Einfluß nehmen können, wenn seine Wirkungszeit im Ministerium länger gewesen wäre. Becker hatte der staatsbürgerlichen Bildung stets große Bedeutung beigemessen und durch die Gründung mehrerer Pädagogischer Akademien das Lehrerstudium reformieren wollen. Auch die Volkshochschulen hatte er gefördert. Reichwein diente Becker allerdings nur zehn Monate, denn die sozialdemokratische Forderung nach der Überführung des preußischen Kultusministeriums in die Verantwortung der SPD führte Ende Januar 1930 zum Rücktritt des parteilosen Ministers. Reichwein, der erst im September 1930 der SPD beigtrat war, wurde von Beckers Nachfolger Adolf Grimme, der Jahre später der Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen nahestand, eine neue Chance geboten. Er wechselte 1930 auf eine Professur für Geschichte und Staatsbürgerkunde an die Pädagogische Akademie Halle und knüpfte dort an seine Erfahrungen in der Erwachsenenbildung an. Nun bewegte ihn die Frage der Gegenwartskunde", also der Auseinandersetzung des Lehrers und des Schülers mit der eigenen Zeit. Reichwein überwand in den Arbeiten, die er vorlegte, vor allem aber auch in der Praxis seiner akademischen Lehre die große Gefahr der Gegenwartskunde, distanzlos den Gegenwartserscheinungen auf der Spur bleiben zu wollen. In den Erscheinungen der Zeit erblickte er lediglich einen entscheidenden Bezugspunkt der historisch-politischen und prinzipiellen Urteilsbildung. Gegenwartskunde bot einen Einstieg, war aber nicht das Ziel eines affirmativ angelegten Unterrichts oder gar der Rahmen einer Rechtfertigung der gewordenen Zustände. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999 |