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Politisches Menschenbild in der Bewährungsprobe des Widerstands

Einer der Motoren bei der Entwicklung einer neuen Einheit von Lernen und Lehren durch die neue Pädagogische Akademiepraxis war Adolf Reichwein, auch wenn er sich später vom Akademiegedanken zu distanzieren schien. Ohne allen Zweifel hatte er sich zunächst ganz unbedingt auf diesen Gedanken eingelassen. Das zeigen viele der erhaltenen Erinnerungen seiner Studenten, Kollegen und Freunde. Reichwein hätte im Falle seines Überlebens nach 1945 sicherlich an viele seiner früheren Erfahrungen anknüpfen können, die er in der Erwachsenen- und Volksbildung [ Klaus Fricke, Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit: Der Beitrag Adolf Reichweins, in: Pädagogik der Weimarer Zeit, Sonderheft der Zeitschrift „Pädagogische Rundschau" 1975, S. 31-53.] , in der Museums- [ Klaus Fricke, Zur Museumspädagogik Adolf Reichweins, in: Pädagogik und Schule in Ost und West 24 (1976), S. 1-9.] und „Vorhabenpädagogik" [ Gerhard Krauth, Das „Vorhaben" bei Adolf Reichwein, in: ders., Leben, Arbeit und Projekt, Frankfurt/M. u.a. 1985, S. 174-220; Hanns-Fred Rathenow, Fächerübergreifende Konzeptionen in der Reformpädagogik. Gesamtunterricht und Vorhaben bei Berthold Otto, Johannes Kretschmann und Adolf Reichwein, in: Reinhard Dithmar u. Jörg Willer, Hg., Schule zwischen Kaiserreich und Faschismus, Darmstadt 1981, S. 176-195.] entwickelt hatte, vor allem aber in der Konzeption eines lebensweltlich orientierten Unterrichts und in der konzeptionellen Begründung der Bildung für die Wiedererichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft in unmittelbarem Anschluß nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. [ Wilfried Huber, Sozialerzieherische Aspekte in der Pädagogik Adolf Reichweins: Fallbeispiele und ihre systematischen Dimensionen, in: Rudolf Biermann u. Wilhelm Wittenbruch, Hg., Soziale Erziehung: Orientierung für pädagogische Handlungsfelder, Heinsberg 1986, S. 93-106.]

Dies wird deutlich an der Konzeption von Erziehung, die sich im Besitz von Otto Heinrich von der Gablentz [ Peter Steinbach, Otto Heinrich von der Gablentz: Zum 100. Geburtstag eines Regimegegner und bedeutenden Gelehrten der FU Berlin, in: Die Mahnung 45, 1998, Nr. 11, S. 3-5.] befunden hat, ehe sie von dort durch Vermittlung von Harald Poelchau in den Besitz der Familie Reichwein kam. Sie wird in der geplanten Neuauflage von Reichweins Lebensbild publiziert. [ Gabriele C. Pallat, R. Reichwein u. L. Kunz, Hg., Adolf Reichwein: Päda goge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914-1944), Paderborn 1999.] Hier wird deutlich, wie weit bereits im Herbst 1941 Überlegungen zur pädagogischen Verantwortung und Autonomie des Lehrers gediehen waren. Erziehungsfragen waren zu grundlegenden Fragen einer „Neuordnung" geworden, denn in der Art der Bildung wurden Entscheidungen über die Substanz einer Gesellschaft gefällt. Die Möglichkeit einer vom Staat inhaltlich nicht drangsalierten Bildung sollte grundlegend sein für die von Regimegegnern angestrebte „Wiederrichtung des Bildes vom Menschen im Herzen der Mitmenschen". Auf diesen Begriff hatte Helmuth James Graf von Moltke das gemeinsame Anliegen gebracht. Reichwein hatte mit seinen „Gedanken über Erziehung" ein umfassendes Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungskonzept vorgelegt und dabei die pädagogische Verantwortung des Lehrers zu einer tragenden Säule der Versuche gemacht, seine „Eigenkräfte" zu wecken und das Selbstvertrauen des Pädagogen zu stärken. [ Vgl. „Gedanken über Erziehung" v. 18.10.1941, Kopie in Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Ordner Reichwein.]

Reichwein konnte mit seinen späteren Überlegungen, deren Wurzeln auf seine pädagogische Arbeit in der Weimarer Republik weisen, nur die Grundlagen für eine Neuordnung politisch-pädagogischer Koordinaten schaffen; eine weitergehende Chance erhielt er wegen seiner Ermordung am 20. Oktober 1944 so wenig wie ein anderer großer Pädagoge aus dem Widerstand: Janusz Korzcak, der mit den ihm anvertrauten jüdischen Kindern in den Tod ging. Auch ihn zeichnete das Interesse am mitmenschlichen Zueinander aus. „Werde Vater, werde Mutter!", lautete der Leitspruch über der Eingangstür seines Warschauer Waisenhauses. Bezugspunkt beider Pädagogen war der Heranwachsende, der in die Welt der Erwachsenen Hineinwachsende.

Das Schicksal eines Janusz Korczak, die ihm Anvertrauten in den Tod zu begleiten, blieb Reichwein erspart. Aber auch er zahlte für seine Überzeugungen mit dem Leben. Diese Entwicklung war nicht vorgezeichnet, spiegelte also nicht die Konsequenz einer rassenpolitischen Ausgrenzung oder einer sich seit 1933 steigernden politischen Verfolgung. Reichwein hätte die NS-Zeit ohne Not überleben können. Durch die Einweisung in die Lehrerstelle einer brandenburgischen Landgemeinde hatte er nach 1933 bis auf wenige Monate sein Auskommen gehabt. Er konnte während seiner Arbeit auch seine Vorstellung von Pädagogik realisieren und war in diesem Zusammenhang auch nicht gezwungen, sich ideologisch zu verbiegen. Denn seine Tätigkeit als „Dorfschullehrer" bot wichtige Voraussetzungen einer „Nischenexistenz", die zuweilen in Diktaturen möglich ist. Reichwein entschied sich allerdings zu einem Zeitpunkt, den wir nicht genau fixieren können, gegen eine derart selbstgenügsame Existenz im Windschatten der Zeit und damit für ein Risiko, das ihm immer bewußter wurde. Er geriet seit dem Beginn des 2. Weltkrieges in eine Schlüsselposition des politischen Widerstandes und personifizierte wie nur wenige andere alle Stufen der Widerständigkeit, die zwischen der Distanz aus Nonkonformität und der aktiven Konspiration, in der es keine Deckung mehr gab, lagen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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