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Wolfgang Thierse: Schlußwort

Meine Damen und Herren, liebe Freunde!

Ich will es kurz machen. Was ist der Sinn eines Rückblicks? Zunächst einmal festzustellen, wie groß die Distanz ist, wie lang der Weg ist, den man zurückgelegt hat. Und wie lang unser Weg war, ist mir an einer ganz kleinen Nebenbemerkung, einer Beobachtung aufgefallen. Es ist doch komisch: 40 Jahre lang haben wir diesen Tag, den "Tag der Republik", gefeiert. Keiner hat das heute erwähnt. Es ist in Vergessenheit geraten. Ich finde das durchaus erheiternd.

Natürlich war vor drei Jahren die Gründung der SDP; ich selber war an diesem Tag nicht in Schwante, sondern ich erinnere mich, daß ich in der Gethsemanekirche war, und ich erinnere mich an die Gesichter von ängstlicher Entschlossenheit und entschlossener Angst, die wir uns da zeigten. Es waren dort welche, die ein Opferfasten machten, weil es schon seit Tagen Verhaftete gab. Machmal kommen mir diese Gesichter heute wieder in Erinnerung, weil wir heute auch wieder Angst haben, aber eine Angst ganz anderer Art. So weit der Weg ist, es gibt ein paar Dinge, die sind ganz nahe.

Was ist der Sinn eines Rückblicks? Er kann der Verklärung dienen, auch der Verdammung des Vergangenen. Jede Bewegung braucht so etwas wie einen Gründungsmythos. Das Schöne an der ostdeutschen Sozialdemokratie ist, wie ich immer gefunden habe, daß sie ihren Gründungsmythos gleich ironisch behandelt hat. Es war sehr schnell die Rede - und das sollte natürlich die Sache "kleiner" machen - von der "Basisgruppe Schwante". Da spielt Respekt mit, aber es ist zugleich auch ein ironischer Umgang mit einem Gründungsmythos. Denn natürlich ist es ja so, die ostdeutsche SPD ist selbstverständlich ein Teil des Aufbruchs und des Umbruchs, der in der DDR stattgefunden hat.

Ich brauche, nachdem Marianne Birthler gesprochen hat, nicht über unser Verhältnis zur Bürgerbewegung zu sprechen, wobei das Wort auch schon etwas Mythisches hat. Wann war das eine richtige Bewegung? Einen kurzen historischen Moment lang im Herbst, vorher waren es kleine Gruppierungen, hinterher sind wir unausweichlich wieder auseinandergegangen. Ich finde es gar nicht sinnvoll, darüber zu trauern, wenn man weiß und daran festhält - das kann ich nicht anders sagen, als Marianne Birthler es gesagt hat -, daß wir aufeinander angewiesen sind und bleiben, wenn wir irgend etwas ausrichten wollen.

Also notwendig ist ein nüchterner Blick auf uns selbst. Dazu erlaube ich mir ein paar Nebenbemerkungen. Konrad Elmer, das ist jetzt etwas Schönes: Du erinnerst an Eure Sorge bei der Statutendebatte über Ämterhäufung. Ach, hätten wir heute doch genügend Mitglieder, unter denen wir die Ämter und Funktionen aufteilen könnten! Es ist leider nicht so. Auch Basisdemokratie war ein großes Wort. Hätten wir sie nur, eine breite, muntere, hochdifferenzierte Basis, es wäre vieles viel leichter, und wir würden dann auch, hoffe ich doch, Basisdemokratie betreiben! Jetzt ist das so etwas wie ein Ruf in den Wald.

Wir erleben gegenwärtig - es ist immer wieder genannt worden, und das wird nicht richtiger und nicht falscher dadurch - massenhaft Politik- und Parteienverdruß, schlimmer noch: eine bestürzende Krise von Autoritäten, von Institutionen. Nicht nur die Parteien verlieren an Autorität, auch die Gewerkschaften, die Verbände, die Kirchen. Und das in einer Zeit, wo sie besonders stark gebraucht werden. Deswegen ist das, was unter anderen Gesichtspunkten wie Emanzipation von vormundschaftlichen Strukturen erscheinen könnte, jetzt eher etwas Beängstigendes. Wir müssen sehen, daß wir uns nicht daran beteiligen, auch nicht durch eine bestimmte Art des Umgangs mit unserer Vergangenheit.

Ich will ausdrücklich als einer, der sehr heftig dafür eingetreten ist, daß wir alle Anstrengungen unternehmen sollten, selbstkritisch, schonungslos und differenziert zugleich mit unserer Vergangenheit umzugehen, sagen, daß ich manchmal die Sorge habe, daß die Vergangenheit die Herrschaft über unsere Gegenwart erlangt. Ich bin deswegen froh, daß Martin Gutzeit sehr detailliert vorgeführt hat, daß die Stasi zwar am Werk war, daß sie aber den Herbst 1989 nicht veranstaltet hat. Es gibt immer noch Leute ganz unterschiedlicher Art, die das immer mal wieder sagen. Und ich kann nur davor warnen, sonst sind am Schluß wirklich die Machinationen der Stasi das einzig authentisch Ostdeutsche. Wenn wir nicht sozusagen unser Eigenes verteidigen, wie unvollkommen, wie klein es auch immer war, dann wird nicht sehr viel von uns übrig bleiben, und deswegen muß man schon aufpassen, ob man sagt, "meine Aufzeichnung" und "meine Erinnerungen", und man hat dabei aus Akten zitiert.

Ich bestehe darauf, daß ich selber als Person eine eigene Erinnerung an mich und an diese DDR-Geschichte habe und daß meine Erinnerung nicht dementiert wird - vielleicht korrigiert, vielleicht bestätigt - durch Stasi-Akten, aber ich habe meine Erinnerung, und ich lasse sie mir nicht durch Stasi-Akten und ihre Auslegung wegnehmen!

Zum nüchternen Blick gehört auch ein Blick auf die ostdeutschen Sozialdemokraten. Wir haben von uns in den vergangenen drei Jahren hoch gedacht, es geht nicht anders, wenn man anfängt. Man muß sich überfordern, man muß von sich das Beste und das Schönste denken, sonst tritt man gar nicht an. Aber zwischendurch können wir uns eingestehen: Wir sind nicht nur zu wenige, sondern das, was ich bei anderer Gelegenheit mal den kostbaren Reiz unserer Unbefangenheit genannt habe, das hat als Kehrseite eben die Gefahr eines billigen Pragmatismus. Das muß man sehen. Also, was an uns schön und gut und wichtig ist und bleiben soll, hat immer auch eine Kehrseite. Und was wir mitbringen und einbringen, das wird - ich weiß es - Jahr für Jahr und Monat für Monat weniger, und das ärgert mich zugleich. Denn, ich will zu einem zweiten Punkt kommen, zu einer Überlegung, die mir wichtig ist.

Wir leben jetzt gewissermaßen im Krisenstadium der deutschen Einigung. Ich brauche das nicht zu beschreiben. Die Phänomene sind allen vertraut. Die Ernüchterung, die Verbitterung, die Enttäuschung sind erheblich. Könnte daraus aber nicht so etwas entstehen wie ein zweiter Mut? Ein zweiter Mut zu uns selbst! So wie wir ihn schon einmal hatten, 1987, 1988, erst wenige, und 1989 plötzlich viel mehr! Ein zweiter Mut, zu uns selbst zu kommen. Was heißt das?

Die ersten drei Jahre der deutschen Einigung konnten kaum anders sein, sie mußten unter der Dominanz des Westens stehen. Man muß diese einfache Tatsache ohne jedes Jammern zur Kenntnis nehmen. Wenn ein ökonomisch und politisch gescheiterter Staat und ein ökonomisch und politisch erfolgreicher Staat zusammenkommen, sind die Gewichte klar. Das ist nicht zu kritisieren, und wer das bejammert, dem kann man nicht helfen, so sehr das individuell auch verständlich ist. Aber mußte daraus folgen, daß wir den Westen in allen seinen Facetten, in jeder seiner Strukturen und Mentalitäten zu übernehmen haben? Aber ich sage gleich dazu: Allzu viele von uns Ostdeutschen wollten dies so. Die Atmosphäre des Hinterherrennens, des Unterwerfens, des Sich-Anpassens ist uns nicht nur aufgezwungen worden. Es wäre allzu billig, dies zu behaupten. Allzu viele Ostdeutsche wollten das, sie wollten den Wunderglauben, sie wollten Angleichung so schnell wie irgend möglich.

Aber was bedeutet das? Könnten wir nicht in der gegenwärtigen Phase der Krise, der Ernüchterung noch einmal danach fragen, was das eigentlich heißen soll: Gleichheit der Lebensverhältnisse, innere Einheit? Können wir nicht endlich jetzt danach fragen?

Ich will etwas zitieren, weil ich das selber so nicht ausdrücken dürfte, könnte. Professor Meinhard Miegel hat einmal drastisch beschrieben, was das heißen könnte: ökonomische Angleichung für die Menschen. Ich zitiere:

"Folgt der Osten dem Westen, muß er vor allem jenen Bewußtseinswandel nachvollziehen, der zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte den Westen revolutionierte. Er muß einen extremen Individualisierungsprozeß durchlaufen, er muß die Maxime des Wettbewerbs in allen ihren Erscheinungsformen verinnerlichen, er muß stets großräumig und zugleich kurzfristig optimieren, er muß sich einem ausgefeilten Zeit- und Kostenbudget unterwerfen, er muß sich extrovertieren und vermarkten, er muß allem und jedem gegenüber zu Veränderungen bereit sein, er muß alles in Frage stellen, aber insbesondere muß er in der Mehrung materieller Güter zu einem Gutteil den Sinn menschlicher Existenz sehen."

Und dann ein paar Seiten weiter:

"Um ein Wachstum zu erzielen, das die Angleichung der Lebensverhältnisse wirklich erlaubt, um ein solches Wachstum zu erzielen, müssen sich Individuen und Gesellschaft kompromißlos am Leitbild ökonomischer Effizienz ausrichten. Was das heißen kann, zeigen Gesellschaften, wie die sogenannten vier kleinen Tiger Südostasiens. Hier mußten individuelle Denk- und Anschauungsweisen von Grund auf geändert, tradierte gesellschaftliche Strukturen zerbrochen und Sozialverbände zumindest gelockert werden. Zum Teil war dies nur mit diktatorischen Mitteln möglich. Niemand in Deutschland hat die Absicht, zu derartigen Mitteln zu greifen. Ob die Menschen in den neuen Bundesländern jedoch freiwillig bereit sind, ihr Leben im erforderlichen Umfang zu verändern, bleibt abzuwarten. Bisher jedenfalls haben sie den Wandel ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung eher erlitten als aktiv gestaltet."

Wollen wir Ostdeutschen dies? Sollen wir es wollen? Können wir uns endlich eine Debatte genau über diesen Punkt erlauben, nachdem das aus verständlichen Gründen 1989, 1990 wirklich nicht möglich war? Soll also Angleichung in dieser Weise oder in welcher Weise sonst sinnvoll sein? Was ist überhaupt erreichbar?

Ich kann die Frage auch umgekehrt formulieren. Da wird sie vielleicht verständlicher und dringlicher: Wenn die materielle, ökonomisch-soziale Angleichung so lange dauern wird, wie wir allmählich begreifen - alle Prognosen, die die Wirtschaftswissenschaftler uns mitteilen und die wir Politiker inzwischen auch zitieren, laufen ja auf zehn bis zwanzig Jahre hinaus; Klaus von Dohnanyi hat gestern bei einer Fraktionskonferenz noch viel längere Fristen genannt -, wenn also die Angleichung so lange dauert und so hart sein wird, wie wird dann Geduld ermöglicht und die Härte des Umbruchs erträglich für die Ostdeutschen?

Also sind wir doch wieder bei der Frage nach Werten, nach Mentalitäten, wie immer man das nennt, nach kulturellen Identitäten, die nicht selber solche dieser ökonomischen Angleichung sind. Also haben wir neuerlich danach zu fragen: Was sind identitätsstiftende Momente, die für uns Ostdeutsche oder für Sozialdemokraten, für den "linken" Teil der Bevölkerung verbindlich sind? Was sind das für identitätsstiftende Momente, die vielleicht vorhanden sind, die wir aufrufen könnten. Ich habe immer trotzig behauptet und möchte auch noch festhalten daran, daß es ein richtiges Leben im falschen System gab.

Lob der Langsamkeit, wäre das so etwas? Was ist es denn mit den Tugenden der Mangelgesellschaft oder eines Unterdrückungssystems, die wir auch gelebt haben? Ist davon irgend etwas hinüberrettbar in eine offene Konkurrenzgesellschaft, in eine demokratische Gesellschaft des Wettbewerbs? Ich bin unsicher, ob diese prä- und zugleich postmateriellen Werte Ost als Kompensation für die relative Aussichtslosigkeit einer schnell erfolgreichen ökonomischen Aufholjagd fungieren und wirken können, und wünsche und hoffe es doch zugleich. Denn es könnte ja sein, es könnte ja sein, daß die Ernüchterungsphase, in der wir jetzt in Ostdeutschland sind, nicht nur, das tut sie schon, zur Verzweifelung und Aggression führt, sondern auch zur Phase einer Vergegenwärtigung von Alternativen zur Aufholjagd, der wir uns jetzt freiwillig unterworfen haben, der wir jetzt unterworfen sind. Denn wir begreifen plötzlich, was heißt plötzlich, wir begreifen, daß die ganze Logik des Angleichens, des Nachholens neu in Frage steht. Ich will den Wunsch der Ostdeutschen, den Wunsch der Osteuropäer, gleiche ökonomische, soziale, kulturelle Lebensverhältnisse zu haben, zu ihren Lebzeiten noch zu erleben, nicht denunzieren. Sozialdemokraten, die hingehen und in diese Richtung eine Kultur des Verzichts predigen, sind Idealisten. Das wäre noch das Beste. Es könnte auch Zynismus sein.

Dieser Wunsch ist verständlich. Aber es wird über die Zukunft in Ostdeutschland und Osteuropa, aber auch über die Zukunft der europäischen Zivilisation entscheiden, ob wir es fertig bringen, über die Richtung des Nachholens endlich zu debattieren, über die Qualität des Fortschritts, den wir wollen. Das wird gar nicht mehr diskutiert, weil jetzt klar zu sein scheint, was da obsiegt hat und was nicht, als würde durch das Scheitern dieses falschen Sozialismus diese Art des Wirtschaftens des realen Kapitalismus unproblematischer werden, als sie es bisher war und als bis 1989, meines Wissens, auch in der westlichen Welt unter aufgeklärten Leuten diskutiert worden ist.

Das ist nicht nur eine abstrakte Frage. Ich nenne nur eine Konkretion: Was treiben wir künftig für eine Verkehrspolitik. Soll die DDR, also Ostdeutschland, genausoviel Autobahnen haben wie Westdeutschland? Wie wird das gehen? Dann müßte man auch die globale Perspektive angeben, indem man daran erinnert, daß Nordrhein-Westfalen genauso viele Autos hat wie ganz Afrika. Und wenn wir sagen, das muß sich auch alles in diese Richtung entwickeln, die Osteuropäer müssen auch diese Art von Individualverkehr haben, sie haben einen Anspruch auch auf diese Art von Fortschritt, was folgt dann daraus für unsere Zivilisation?

Also, das ist nur ein Beispiel für die Fragen, die ich für wichtig halte, für Sozialdemokraten und für Leute, die sowohl an christlicher Tradition wie an der Tradition der Aufklärung festhalten wollen. So paradox das ist: Wir werden nur eine Chance haben, wenn wir diese fatale, diese unqualifizierte Logik diskutieren, diese Logik des Nachholens um jeden Preis, ohne danach zu fragen, in welcher Richtung wir etwas nachzuholen haben. Nur dann, nur dann werden Sozialdemokraten und werden Linke und werden aufgeklärte Menschen wichtig sein. Sonst nicht.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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