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Rainer Eckert:
Zusammenfassung des Diskussionsforums


In seinen Begrüßungsworten auf dem Diskussionsforum der Friedrich-Ebert-Stiftung zum dritten Jahrestag der Gründung einer ostdeutschen sozialdemokratischen Partei (SDP) im Berliner Reichstag am 7. Oktober 1992 wies der Vorsitzende der Stiftung, Holger Börner, darauf hin, daß durch dieses Wiedererstehen der Sozialdemokratie in der DDR den Kommunisten ihr angemaßter politischer Führungsanspruch bestritten worden sei. Das habe den Niedergang des diktatorischen Regimes der SED beschleunigt. So zeuge die Gründungsgeschichte von Schwante nicht nur vom persönlichen und politischen Mut der SDP-Mütter und -Väter, sondern stelle einen integralen Bestandteil der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie dar. Eine Aufgabe der Friedrich-Ebert-Stiftung werde es in den nächsten Jahren sein - so führte Börner weiter aus -, die Erinnerung daran wachzuhalten.

Ausgehend von der Feststellung, daß Statutenfragen auch immer Machtfragen seien, sprach das Mitglied des Bundestages und seiner gemeinsamen Verfassungskommission, Konrad Elmer, als erster der an der Gründung in Schwante beteiligten Sozialdemokraten über Vor- und Wirkungsgeschichte des SDP-Statuts [ Zur Gründungsgeschichte der SDP: Parteien und politische Bewegun gen im letzten Jahr der DDR. Hrsg. von Carola Wuttke und Berndt Mu siolek, Berlin 1991, S. 58-59, sowie Gero Neugebauer/Bernd Nied balski, Die SDP/SPD in der DDR 1989-1990. Aus der Bürgerbewegung in die ge samtdeutsche Sozialdemokratie. Text, Chronik und Dokumen tation, FU Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (= Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Nr. 74; als Manuskript gedruckt).] : Dieses Statut [ Statut der Sozialdemokratischen Partei in der DDR von Ende November 1989 in: "Wir sind das Volk!": Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Hrsg. von Charles Schüddekopf, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 243-250. Hier auch: Zum Aufruf der Initiativgruppe "Sozialdemokratische Partei" in der DDR vom 26. August 1989, ebenda, S. 41-42. Vgl. auch den Anhang zu dieser Broschüre.] sei von der Idee der zweigliedrigen Rätedemokratie im Sinne Hannah Arendts ausgegangen, es sei basis- und gruppenorientiert [ Wolfgang Thierse sieht das Vorbild der basisdemokratischen Orientie rung dagegen bei Rosa Luxemburg, vgl. Wolfgang Thierse, Zur Be deutung von Rosa Luxemburg für die Theorie und Praxis der Sozialde mokratie, in: ders., Mit eigener Stimme sprechen, München/Zürich 1992, S. 230.] , antizentralistisch sowie nur bedingt parteitagsfreundlich gewesen. Aus der DDR-Erfahrung heraus hätten mangelnde Demokratie, staatlicher Zentralismus, fehlende Rechtssicherheit und Gewaltenteilung, Ämterhäufung, Provinzialismus und die Verschmelzung von Partei und Staat verhindert werden sollen. Ein weiteres Ziel sei gewesen, auf die tradierten Werte der Sozialdemokratie zu orientieren und gesprächsfähige Basisgruppen zu schaffen. Diejenigen Mitglieder des 43köpfigen Gründerkreises, die sich für diese Zielstellung eingesetzt hätten, seien allerdings nicht in der Lage gewesen, ihre Vorstellungen bei der Gründung der SDP am 7. Oktober 1989 in Schwante gegen die Vertreter einer sich gegenseitig ergänzenden Räte- und Parteitagsstruktur bzw. einer strafferen Führungsgliederung durchzusetzen. [ Die Diskussionsgrundlagen für das Programm, das Statut und die Finan zierung der SDP erarbeitete eine Delegiertenkonferenz vom 12. bis 14. Januar 1990 in Berlin. Hier wurde auch beschlossen, die SDP in SPD in der DDR umzubenennen.]

In den später mit der westdeutschen Sozialdemokratie folgenden Vereinigungsverhandlungen sei ein eigenständiges ostdeutsches Grundsatzprogramm kein Verhandlungsgegenstand mehr gewesen. Trotzdem sah Elmer in den ostdeutschen Ansätzen einen Beitrag
zur Demokratisierung der gesamten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. So seien die Tendenzen zur Basisorientierung, die Stärkung des Parteirates, der Bezug auf die Sozialistische Internationale [ Schon am 7. Oktober 1989 stellte die eben gegründete SDP den Antrag auf Aufnahme in die Sozialistische Internationale.] , die Ablehnung von Ämterhäufung, die Orientierung auf gesprächsfähige Gruppen wie auch die Ausrichtung auf eine stärkere Gewaltenteilung als östliches "Erbteil" in die Gesamtpartei eingebracht worden. Allerdings beziehe sich der Einfluß der ostdeutschen Sozialdemokraten mehr auf den institutionellen und weniger auf den programmatischen Bereich.

In der auf Konrad Elmers Ausführungen folgenden Diskussion ging es Manfred Burkhardt (Berlin) darum, welche Bedeutung der Begriff des "demokratischen Sozialismus" für den Gründerkreis von Schwante gehabt habe. Brigitte Mießner bezweifelte, daß aus dem Osten wirklich ein Impuls zur inneren Demokratisierung der SPD gekommen sei. So hätten die Vorsitzenden aller östlichen Landesverbände der SPD einen Sonderparteitag zum Petersberger Asylbeschluß und zum Einsatz der Bundeswehr außerhalb Deutschlands abgelehnt. Deshalb lag für Mießner die Vermutung nahe, im Osten seien Ansätze zur Demokratisierung seit 1989 verloren gegangen. Christian Booß vertrat die Auffassung, daß die Statutendiskussion nur wenig zur inhaltlichen Strukturierung der SDP beigetragen habe. Vielmehr sei in ihr ein Grund dafür zu suchen, daß die Partei in der Bevölkerung so wenig angenommen worden sei.

In seiner Entgegnung auf die vorgetragenen Einwände und Fragen meinte Elmer, die Gründergeneration sei in Schwante über den Begriff "demokratischer Sozialismus" durchaus einig gewesen, doch habe schon die "zweite Generation" der SDP-Mitglieder auf der Delegiertenkonferenz am 13. und 14. Januar 1990 in Berlin diesen Begriff streichen wollen. Hier sei auch ein Gefälle zwischen den zumeist aus einem kirchlichen Umfeld kommenden Berliner und den Delegierten aus anderen Teilen der DDR deutlich geworden. Schließlich habe man sich auf ein Bekenntnis zu den in der Sozialistischen Internationale vereinigten Parteien, welche den Begriff des "demokratischen Sozialismus" pflegen, geeinigt. Einen Beweis für das Weiterleben der "Basisdemokratie" in den fünf neuen Ländern sah Elmer darin, daß hier das Wiederaufstellen von Kandidaten für Parlamente oder für Parteiämter nicht "automatisch" - wie oft im Westen - vonstatten gehe.

Der heutige Vorsitzende des Landesverbandes Brandenburg, Steffen Reiche, lehnte in seinem Beitrag über die Motivationen der SDP-Gründer einen "Schwante-Mythos" ab. Gleichzeitig erinnerte er aber an den gemeinsamen Willen der Gründergeneration, das SED-System zu überwinden. Darüber hinaus habe in Schwante eine sozialdemokratische Grundstimmung geherrscht. Die Ostpolitik der SPD sei übereinstimmend bejaht worden. Reiche unterschied im Entstehungsprozeß der ostdeutschen Sozialdemokratie vier Generationen bzw. Stationen. Zuerst habe es die Berliner Gethsemanekirche im August 1989 und den Willen der hier Versammelten gegeben, nicht mehr nur zu philosophieren, sondern aus theologischer Verantwortung heraus auch zu handeln. Die daraus geborene Idee zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei [ Vgl. den Aufruf von Martin Gutzeit, Arndt Noack, Ibrahim Böhme und Markus Meckel vom 26. August 1989 (= Anm. 2).] habe in einer zweiten Etappe ein zwölfköpfiger Gründungsausschuß in die Tat umzusetzen versucht. Dieser habe mit seiner Kritik an allem, was seit 1946 in Ostdeutschland geschehen war, die SED grundsätzlich in Frage gestellt und sich gleichzeitig damit auseinandergesetzt, ob es richtig sei, jetzt die DDR zu verlassen. Außerdem habe den Gründungsausschuß die Frage beschäftigt, wie es zu verhindern sei, daß die Staatsmacht die überall spürbare Unruhe wiederum unterdrücken könne. Die dritte und wohl entscheidende Station der Parteigründung sah Reiche im Zusammentreffen von Schwante. Zu den Motiven der hier Versammelten habe auch die Freude am Wagnis und am Neuen gehört. Sie seien vom Wettkampf unter den Oppositionsgruppen getrieben worden, eine Rolle hätten aber auch persönliche Eitelkeiten der "Oppositionsschickeria" gespielt. Dieses Wort sollte im weiteren Verlauf der Diskussion nicht unwidersprochen bleiben.

Enttäuschend für die Gründer von Schwante sei die distanzierte Haltung der West-SPD gewesen [ Zum Vorwurf, daß die SPD zu lange auf den Dialog mit der SED-Führung gesetzt habe: Es war kein Papier für den Umsturz im Lande, in: Berliner Zeitung, Berlin, 27. August 1992; Thomas Meyer, Das SPD-SED-Pa pier: Kein Anlaß zur Zerknirschung, in: Vorwärts, Bonn, Sep tember 1992; Erhard Eppler u. a., Trotz allem - hilfreich: Das Streit kultur-Pa pier von SPD und SED. Fünf Jahre danach. Eine Stellung nahme der Grundwertekommission, Bonn 1992. In dieser Stellung nahme (S. 4) auch das Eingeständnis: "[...] hätten diese offiziellen Kontakte dringend durch die Intensivierung der Kontakte zur gesell schaftlichen Opposition ergänzt werden müssen."] , so von Walter Momper, deren Argument vielfach war, die DDR-Reformkräfte sollten in die SED eintreten, um von dort aus einen Wandel einzuleiten. Dagegen habe sich Hans-Jochen Vogel schon frühzeitig für die Akzeptanz der SDP eingesetzt. Die vierte Station bei der Entstehung der ostdeutschen Sozialdemokratie bestand für Reiche in zahlreichen Gründungen "vor Ort" und gleichzeitig in der Integration in die SPD der alten Bundesländer. Durch diesen Prozeß sei ein Dissens zwischen vielen Mitgliedern des Gründerkreises entstanden, die eine längerdauernde Selbständigkeit der Ost-Sozialdemokratie befürwortet hätten, und Teilen der jetzt entstehenden Basis. Unterschiedliche Meinungen habe es ebenfalls in der Frage der - von den SDP-Gründern ursprünglich bejahten - Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder gegeben. Reiche vertrat die Auffassung, daß es heute die Möglichkeit gebe, mit einigen von ihnen ins Gespräch zu kommen und sie vielleicht auch als Mitglieder zu gewinnen. Vor allem dachte er dabei an Frauen und Männer des - aus der "sozialdemokratischen Plattform" der SED/PDS hervorgegangenen - "Kautsky-Bernstein-Kreises" [ Zur Arbeit dieses Kreises vgl. sein Mitteilungsblatt "Die Neue Zeit". Die Satzung enthält Heft 9/1992.] .

Abschließend meinte Reiche, daß die SPD im Osten auch im Jahre 2000 etwas völlig anderes als im Westen sein werde. Ihr Kapital seien auch dann sicher noch ihre Armut und das immer wieder Neu-Beginnen-Müssen. Sie werde "bekennende Kirche" bleiben und niemals "Volkskirche" werden.

Das Mitglied des thüringischen Landtages Harald Seidel schilderte in einem - von Dieter Dowe - verlesenen Beitrag seine eigenen Motivationen, zum Gründerkreis der SDP zu stoßen. Entscheidend seien für ihn ein reformkommunistischer Ansatz, die Empörung über die Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch Truppen des "Warschauer Paktes" und der Einfluß Ibrahim Böhmes in Greiz gewesen. [ Ibrahim Böhme spielte in verschiedenen Beiträgen auf der Tagung eine Rolle, ohne daß allerdings seine Bedeutung für Vor- und Gründungs geschichte der ostdeutschen Sozialdemokratie letztlich geklärt werden konnte. Anhaltspunkte dazu finden sich in: Birgit Lahann, Genosse Ju das. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme, Berlin 1992.] In der innenpolitisch verhärteten Situation der DDR der 70er Jahre hätten der Einfluß der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik, der polnischen Gewerkschaftsbewegung, die Ablehnung der verstärkten Rüstungen in Ost und West sowie der Helsinkiprozeß die Basis für eine Bürgerbewegung in der DDR und damit auch für die Entwicklung der Sozialdemokratie geschaffen. Diese habe in der heutigen - trotz des Wegfalls des Ost-West-Gegensatzes - weltweit wirtschaftlich und sozial instabilen Situation neue Antworten zu geben, forderte Seidel. Hier könne auch an Erfahrungen eines Lebens unter der Diktatur angeknüpft werden.

Die in Seidels Beitrag nur angedeutete Rolle Ibrahim Böhmes veranlaßte die Frage Klaus Gosmanns (Herford), welche Rolle Böhme politisch gespielt habe, welche positiven Ansätze die SDP ihm zu verdanken habe und ob er heute zur "Unperson" geworden sei. Hier schloß sich Gerhard Beier (Kronberg im Taunus) mit der Frage nach der Rolle des Staatssicherheitsdienstes bei der Entstehung der ostdeutschen Sozialdemokratie an. Er bezweifelte, daß die Gründung der SDP aus dem Geist eines "entmythologisierten Luthertums" zu erklären sei. Statt dessen seien die Wurzeln im DDR-Milieu aufzudecken, und an den Widerstand gegen das SED-Regime, wie er sich in der Tätigkeit "subversiver Sozialdemokraten" im Rahmen des "Ostbüros" der SPD ausgedrückt habe, sei anzuknüpfen. Uwe Hollm (Berlin) vermutete, daß der hohe Anteil von Pfarrern unter ihrem Führungspersonal ein Grund für die mangelnde Resonanz der SDP in der Bevölkerung sein könne, da diese Geistlichen wohl nur schlecht mit "volkstümlichen Mehrheiten" umgehen könnten. [ M. E. zeigte sich an dieser - wie auch an anderen - Fragen ein erheb liches Informationsdefizit über die Situation in der DDR bei einigen westlichen Tagungsteilnehmern.] Dem hielt Gert Weisskirchen (Bonn) entgegen, daß in der DDR vielen christlich engagierten Menschen ein Hochschulstudium verwehrt gewesen sei und sie deshalb auf ein Theologiestudium hätten ausweichen müssen. Außerdem hätten sie nicht nur besonderen Zugang zu den Ängsten der Menschen gehabt, sondern auch eine - wenn auch begrenzte - Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu treten. Für die Motive der Gründergeneration - Dieter Dowe hatte auf die Zerstörung der traditionellen sozialdemokratischen Milieus in der DDR hingewiesen - sei die Verknüpfung der Aufbruchstimmung in der DDR-Bürgerbewegung mit entsprechenden osteuropäischen Bewegungen prägend gewesen.

An das Problem der Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder in die SPD knüpfte Edelgard Jeske (Berlin) vom Neuen Forum mit der Bemerkung an, daß diese nicht bereit seien, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Es sei also auch kaum möglich, ihre persönliche Integrität zu prüfen. Kritisch sah Sabine Leger aus dem Schwanter Gründerkreis Reiches Ausführungen, dem sie vorwarf, selbst eine neue Legende aufzubauen. So sei die Relativierung der Bedeutung des "Neuen Forums" und der "Initiative Frieden und Menschenrechte" [ Zu den einzelnen Gruppierungen der DDR-Bürgerbewegung vgl. Par teien und politische Bewegungen im letzten Jahr der DDR. Von der Il legalität ins Parlament: Werdegang und Konzept der neuen Bürgerbe wegungen. Hrsg. von Helmut Müller-Endbergs, Marianne Schulz und Jan Wielgohs, Berlin 1991.] für sie unerträglich. Auch habe es keine Initiative der Schwanter Gründer zur Öffnung gegenüber SED-Mitgliedern über den "Kautsky-Bernstein-Kreis" gegeben. Die Idee der Aufnahme ehemaliger Angehöriger der DDR-Staatspartei sei erst aufgetaucht, als für die Ost-SPD ihr Mitgliedermangel zum Problem wurde. Auch Rüdiger Nazius wandte sich gegen die "Abklassifizierung" des "Neuen Forums" durch Reiche sowie gegen den Begriff "Oppositionschickeria". Statt dessen warf er Reiche Populismus und die "Arroganz des Siegers" in Brandenburg vor. Außerdem seien diejenigen, die zuerst ihr SED-Mitgliedsbuch abgegeben hätten, für die SPD als Mitglieder nicht wünschenswert, und die Opportunisten säßen allemal schon wieder im trockenen. Statt solcher Überlegungen sei es für die Sozialdemokratie besser, sich wieder verstärkt auf ihre Ansätze von Basisdemokratie zu orientieren.

Hierauf erwiderte Wolfgang Thierse, daß es in der Opposition zwar Eitelkeiten und unpolitische Streitigkeiten gegeben habe, von einer "Schickeria" zu reden sei aber wohl nicht berechtigt. Es habe auch keine allgemeine zentrale Aufforderung an SED-Mitglieder gegeben, in die SDP oder in die SPD einzutreten. [ Diese Äußerungen Thierses stellten einige Zeitungen in ihrer Berichter stattung übertrieben heraus. Vgl.: Thierse, SPD öffnen für Ex-SED-Genossen, in: Tagesspiegel, Berlin, 8. Oktober 1992; Thierse will Ex-SEDlern eine Chance geben, in: taz, Berlin, 8. Oktober 1992.] Hier würden immer die Basisgruppen entscheiden. Allerdings seien die ehemals 2,3 Millionen Mitglieder der SED differenziert zu behandeln und im Einzelfall menschlich zu bewerten. Ein Teil von ihnen sei wichtig für die künftige Demokratie in Deutschland, andere hätten sich durch ihre Stellung und ihr Verhalten in einer Diktatur "objektiv kompromittiert". Das gelte vor allem für den vorauseilenden Gehorsam der Inhaber hoher Staats- und SED-Ämter. Die Pflege sozialdemokratischen Gedankengutes durch den "Kautsky-Bernstein-Kreis" könne eine Möglichkeit der Befreiung ehemaliger SED-Mitglieder aus ihrem ideologischen Korsett sein.

Anschließend versuchte Steffen Reiche noch einmal, die Rolle Ibrahim Böhmes zu beschreiben, der durchaus keine "Unperson" sei. Böhme sei für die Oppositionsgruppen vor 1989 auch deswegen wichtig gewesen, weil er die Fähigkeit besessen und eingesetzt habe, bei Streit zu moderieren und zu schlichten. [ Zur Persönlichkeit Böhmes vgl. Hans-Joachim Maaz, Die Entrüstung: Deutschland. Deutschland. Stasi, Schuld und Sündenbock, Verräter und gleichzeitig: "[...] alle mögen ihn, bewundern ihn, vertrauen ihm, er gilt als charmant, geistreich, phantasievoll, klug, er ist hilfsbereit, gesellig, ein wunderbarer Erzähler, der in Geschichten schwelgt und Menschen begeistert." (S. 116)] Bei Reiches Schilderung Böhmes als "liebenswürdigen Menschen" - später von Angelika Barbe aufgenommen und zum wichtigen, schätzenswerten marxistischen Ansprechpartner erweitert - fehlte allerdings jede konkrete Beschreibung und Bewertung seines Verrates der Opposition an den Staatssicherheitsdienst.

Weiterhin versuchte Reiche, das Übergewicht der Pfarrer bei der Gründung der SDP zu relativieren, und führte aus, daß in Brandenburg der "Stolpe-Hildebrand-Effekt" Wähler gebunden, aber keine Mitglieder gebracht habe. Die Zusammenarbeit der SDP mit osteuropäischen Gruppen sei erst im November 1989 zustande gekommen, und unter den führenden westdeutschen Sozialdemokraten hätten Norbert Gansel und Gert Weisskirchen früh Kontakt zur Ost-Sozialdemokratie gesucht. Klare Kriterien für die Aufnahme von SED-Mitgliedern sind für Reiche auch heute noch nicht zu benennen.

In der weiteren Diskussion wurde darauf verwiesen, daß die Mehrzahl der ehemaligen SED-Mitglieder nicht in die SPD eintreten würden, da sie reaktionär und stockkonservativ seien. Greta Wehner (Bonn) begrüßte den hohen Anteil von Pfarrern in der SPD, weil nur so die unselige Trennung von Sozialdemokratie und Kirche überwunden werden könne. Notwendig sei es aber trotzdem, verstärkt auf jene Menschen aus allen Bereichen zuzugehen, die nicht geübt seien, öffentlich aufzutreten. Für Rainer Bonar (Berlin) waren die Bürgerbewegungen für den - in erster Linie durch den ökonomischen und geistigen Zusammenbruch des Systems sowie durch die Flüchtlingswelle ausgelösten - Kollaps der DDR wichtiger als die Sozialdemokratie und die Kirche. Gerade die Kirche habe auch der Stabilisierung der DDR und einem weitverbreiteten Opportunismus gedient. Dies sah Angelika Barbe ganz anders. Sie betonte, daß es nur in der evangelischen Kirche einen Freiraum für oppositionelle Arbeit gegeben habe. Viel habe dabei aber jeweils von der Haltung des einzelnen Pfarrers bzw. Gemeindekirchenrates abgehangen. Wichtig seien in der DDR auch die im Protestantismus begründete Idee der Menschenrechte und der kleine alltägliche Widerstand gewesen, wie er in der Aktion "Schwerter zu Pflugscharen" zum Ausdruck gekommen sei.

Die Nähe der Sozialdemokratie zum Christentum existierte auch für Horst Stein (Berlin), für den ein Eintritt in die DDR-CDU seit deren Stellungnahme gegen die Jungen Gemeinden von 1953 nicht mehr möglich gewesen war. Die Mitgliedschaft ehemaliger SED-Mitglieder in der SPD sei immer auf der Grundlage des Bekenntnisses des einzelnen von der jeweiligen Parteibasisgruppe zu entscheiden. Weiterhin drückte in der Aussprache Detlef von Schwerin (Potsdam) seine Hochachtung vor dem Mut des Schwanter Gründungskreises aus, und Annette Detering (Berlin) meinte, daß das "Bündnis 90" als ostdeutsche Interessenvertretung auch weiterhin nötig sei.

Abschließend versuchte Reiche ein Resümee der Diskussion. Er räumte ein, daß es ohne Bürgerbewegung keine SDP gegeben hätte und daß die Bildung einer gemeinsamen Opposition wohl am Fehlen einer integrierenden Persönlichkeit gescheitert sei. Für die nächsten Jahre sagte er abschließend voraus, daß die Ost-SPD in wesentlichen Bereichen etwas anderes als die in den alten Bundesländern bleiben werde.

Die Bundestagsabgeordnete Angelika Barbe referierte anschließend über das Verhältnis der SDP zur Bonner SPD. Sie wies auf die Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen durch die SED als Movens für die oppositionellen Gruppierungen in der DDR hin. Ihrer Ansicht nach war die SPD-Führung zu sehr auf die Kontakte mit der SED zur Fortsetzung der Entspannungs- und Stabilisierungspolitik fixiert, um die Bedeutung der oppositionellen Kräfte recht zu erkennen. Die zögerliche Akzeptanz durch den Bonner Parteivorstand habe die Eigenständigkeitsbestrebungen der Ost-SPD verstärkt. [ Vgl. die Sicht von Willy Brandt, "... was zusammengehört". Reden zu Deutschland, Bonn 1990, S. 11, wonach bei der Entstehung und Ent wicklung der SDP das solidarische Engagement der SPD (West) nicht so sehr ins Gewicht gefallen sei.]

Auf Barbes Argumentation eingehend, meinte Gert Weisskirchen, daß die "Linken" in der West-SPD die DDR als Projektionsfläche für die eigenen Wünsche betrachtet hätten. Sie hätten gehofft, ein im Westen nicht durchsetzbarer Sozialismus könne in der DDR Realität werden. Allerdings habe die Bonner Parteiführung nach der Gründung einer ostdeutschen Sozialdemokratie schnell versucht, diese aus der Bürgerbewegung zu lösen, um so Wähler zu gewinnen. Wolfgang Herzberg (Berlin) kritisierte, daß die Gründer der SDP ihr Verhältnis zum "Realsozialismus" nicht deutlich genug gemacht hätten. So hätten sie 1989 den Anspruch der SED, soziale Probleme zu lösen, in Zweifel gezogen. Heute müsse sich die SPD wieder auf die Werte eines "demokratischen Sozialismus" besinnen, da sonst Platz für die Entfaltung der politischen Rechten entstünde.

Scharf griff Heinrich Potthoff (Bonn) Angelika Barbe mit der Aufforderung an, diese solle nicht öffentliche Äußerungen der West-SPD einfach aneinanderreihen, da dies der weitaus differenzierteren Lage nicht gerecht werde. Thomas Krüger (Berlin) meinte dagegen, man solle die Alternative, ob die SDP eigenständig oder als "Ableger" der SPD entstanden sei, nicht abrupt nebeneinanderstellen. Heute jedenfalls gebe es zwar noch immer Osteigenständigkeiten, gleichzeitig aber auch neue Beziehungen - wie die zwischen Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Schließlich plädierte Inge Frohnert (Berlin) für eine einheitliche deutsche Sozialdemokratie. Als Vorbedingung dafür müsse im Westen der Republik mehr für dieses Ziel getan werden.

In ihrer Erwiderung verwies Angelika Barbe auf ihre subjektive Sicht der Ereignisse und darauf, daß die Begriffe "Links" und "Rechts" im Osten nichts bedeuten würden. Statt dessen seien praktische Problemlösungen gefragt, und bei diesen würden die Vertreter der SPD aus den neuen Bundesländern ganz natürlich zuerst die Ostinteressen berücksichtigen.

Den Tagungsnachmittag leiteten in drei aufeinanderfolgenden Referaten das Mitglied der Enquête-Kommission des Bundestages zur "Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" Martin Gutzeit, das Mitglied des Bundestages und Obmann der SPD in der Enquête-Kommission Markus Meckel und die damalige brandenburgische Bildungsministerin Marianne Birthler ein. Abschließend kamen der Berliner Theologieprofessor und frühere Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Volkskammer Richard Schröder und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse zu Wort.

Martin Gutzeit belegte am Beispiel von MfS-Unterlagen, daß die "Herbstrevolution" von 1989 weder vom Staatssicherheitsdienst "gemacht" noch gesteuert worden sei. [ Dazu: Martin Gutzeit, Antisozialdemokratische Legenden, in: Vorwärts, Bonn, April 1992.] So habe Ibrahim Böhme [ Böhme war gegen den Willen Gutzeits, aber mit Befürwortung Meckels im Juni 1989 gefragt worden, ob er bei der Gründung einer ostdeutschen Sozialdemokratie mitwirken werde. Vgl. Birgit Lahann, Genosse Ju das. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme, Berlin 1992, S. 224. Faktisch war Böhme erst am Nachmittag des 26. August 1989 - als klar war, daß Meckel und Gutzeit in die Öffentlichkeit gehen würden - zur Mitarbeit bereit (vgl. Gutzeit, Legenden).] das MfS wohl schon Ende Juli von den Plänen der Initiativgruppe zur Schaffung einer sozialdemokratischen Partei unterrichtet, doch sei dieses letztlich hilflos gewesen. Das habe auch für die konkrete SDP-Gründung am 7. Oktober 1989 in Schwante gegolten. So habe die Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit zwar noch einen "operativen Maßnahmeplan" mit dem Ziel erarbeitet, die Gründung dieser Partei zu unterbinden oder wenigstens zu kontrollieren, habe aber nicht aktiv vorgehen können, ohne die eigene Informations-"Quelle" zu gefährden. Entscheidend dafür, daß gegen die SDP-Gründer nicht mit Inhaftierung oder anderen Repressionen vorgegangen worden sei, sei aber sicherlich gewesen, daß der Staatssicherheitsdienst unmittelbar vor dem "Nationalfeiertag" der DDR am 7. Oktober öffentliches Aufsehen befürchtet habe. Die Schaffung von Märtyrern habe in jedem Fall vermieden werden sollen. Außerdem sei wohl auch dem MfS klar geworden, daß sich die innere Lage der DDR so verschlechtert hatte, daß es der Opposition mit repressiven Mitteln nicht mehr Herr werden konnte. So habe der Staatssicherheitsdienst letztlich auch auf das Statut und die programmatischen Aussagen der Ost-Sozialdemokraten keinen wesentlichen Einfluß ausüben können.

Gutzeit wies weiterhin nach, daß die Staatssicherheit (also auch ihr "Inoffizieller Mitarbeiter" Ibrahim Böhme) zwar die SDP-Gründung nicht habe verhindern können, daß es aber andererseits absurd wäre, von einer "Geburtshilfe" zu sprechen. Das MfS habe die "feindlich-negative Aktivität" der Gründung einer ostdeutschen Sozialdemokratie sicher gerne unmöglich machen wollen, sei dazu jedoch aus den erwähnten Gründen nicht mehr in der Lage gewesen.

Markus Meckel und Marianne Birthler beschrieben nach Gutzeit aus unterschiedlicher Sicht ihre Entscheidung für eine Parteigründung bzw. den Verbleib in der Bürgerbewegung. [ Zu den Motiven eines Beitritts von ehemaligen Mitgliedern der DDR-Bürgerbewegung zur CDU vgl. Rainer Eppelmann, Wendewege. Briefe an die Familie, Bonn/Berlin 1992, S. 12.] Dabei begann Meckel mit einer Warnung vor dem Entstehen von Mythen bei den Gründungsteilnehmern von Schwante. So habe es den Begriff "politische Opposition" 1989 in der DDR nicht gegeben. Anfänge oppositionellen Denkens seien in Ostdeutschland erst im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß 1978 entstanden. Das sei auch die Geburtsstunde der ersten Friedenskreise gewesen, die aber weder über Führungspersönlichkeiten noch über Kommunikationsstrukturen verfügt hätten. Die notwendige Kommunikation sei weitgehend über die Westmedien erfolgt. Aus diesen Friedenskreisen seien Anfang der 80er Jahre kleinere Oppositionsgruppen hervorgegangen. In der Mitte der 80er Jahre habe dann die oppositionelle Bewegung durch die Erweiterung auf Ökologie-, Frauen- und Dritte-Welt-Gruppen an Breite und Vielfalt gewonnen. Allerdings habe sie auch jetzt nicht das schützende Dach der evangelischen Kirche verlassen können. Für Markus Meckel selbst waren Wut und Enttäuschung über die nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration von Januar 1988 verhafteten Oppositionellen, die die DDR verließen, ein wichtiger Impuls dafür, über verbindlichere Strukturen nachzudenken. Von diesem Zeitpunkt an habe er eine Partei, die mit einem klaren Programm - dem Ziel einer "ökologisch orientierten sozialen Demokratie" - die Machtfrage habe stellen können, für nötig gehalten. Da die Gründer der SDP gemeint hätten, politische Ziele nicht mit dem Attribut "christlich" verbinden zu können, sei ihnen aus inhaltlichen Gründen und wegen deren langer Tradition nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als Perspektive geblieben. Die Gründer von Schwante hätten die SDP - deren Gründung nicht mit der Bonner SPD abgestimmt worden sei [ Nach Eppelmann ging die Bonner SPD auf Vorschläge zur Gründung einer Ost-SPD Ende 1988/Anfang 1989 nicht ein. Vgl. Eppelmann, S. 9.] - als Partei der repräsentativen Demokratie und als Sammelbecken der Opposition gegen die SED verstanden. So führte Meckel weiter aus, daß es heute trotz schwerer Mängel keine Alternative zur Parteiendemokratie gebe, daß Bürgerbewegungen jedoch zur Wahrnehmung von Bürgerverantwortung weiterhin benötigt würden.

Aus einer anderen Perspektive blickend, betonte Marianne Birthler, daß es im Interesse von "Bündnis 90" sei, wenn es der SPD "gut gehe". Noch heute gebe es zwischen dem "Bündnis" als Sammelbewegung und der Ost-SPD ein Vertrauensverhältnis, und in beiden politischen Gruppierungen sei jeweils ein breites politisches Spektrum vertreten. Ziel müsse es weiterhin sein, sich gegenseitig anzuregen. Dabei sollten gemeinsame Traditionen und Inhalte im Vordergrund stehen, und Differenzen müßten hinsichtlich der vor der Bundesrepublik stehenden Schwierigkeiten (von ökologischen Problemen bis zur rechten Gewalt) überwunden werden. Das "Bündnis 90" sei zwar formaljuristisch eine Partei, strukturell jedoch weiter Bürgerbewegung. Jetzt komme es darauf an - eventuell in einem Diskussionsprozeß mit den "Grünen" - inhaltliche Defizite zu beseitigen. Dabei müsse es stets Aufgabe der Bürgerbewegung bleiben, Meinungen, die nicht mehrheitsfähig seien - wie den Erhalt von Art. 16 des Grundgesetzes -, zu formulieren.

Manfred Burkhardt (Berlin) stellte in der Diskussion Gutzeit die Frage nach der Weiterarbeit des Staatssicherheitsdienstes nach der Herbstrevolution 1989. Hier schloß sich Matthias Engler (Berlin) an, dem bei Gutzeits Darstellung das Moment der Angst vor Repressionen durch Staatssicherheit oder Kriminalpolizei der DDR fehlte, und der inzwischen verspätet eingetroffene Harald Seidel fragte nach der Rolle osteuropäischer Geheimdienste.

Martin Gutzeit konnte die Frage, ob Staatssicherheitsstrukturen noch weiterarbeiten würden und welche Rolle z. B. der KGB dabei spiele, nicht beantworten. Er meinte zu Recht, daß hier noch weitere Quellen auszuwerten seien. Auch müßten die Beteiligten endlich anfangen zu reden. Gleichzeitig verwies er aber auch darauf, daß die These vom gedeckten Weiterarbeiten des MfS von Teilen ehemaliger Staatssicherheitsmitarbeiter leicht negativ instrumentalisiert werden könne. Zur Frage nach der Angst bei der SDP-Gründung meinte Gutzeit, auch er habe Befürchtungen gehabt, doch hätten christliche Überzeugungen und die Sicherheit, daß bei einer eventuellen Verhaftung eine Solidarisierungswelle einsetzen würde, überwogen.

Bei der Frage der Angst bei der Gründung der SDP erinnerten sich Markus Meckel und Angelika Barbe, daß sie mit Verhaftungen gerechnet hätten. Sie hätten ihre Angst aber bewußt in Kauf genommen und auch auf den "Schutzraum Kirche" vertraut. Viele an der Arbeit der SDP interessierte Menschen seien aber aus Furcht vor der Illegalität vor einer Mitarbeit zurückgeschreckt. Marianne Birthler meinte, daß mangelnde Angst auch Abwesenheit von Phantasie bedeuten könne, und erinnerte an die Worte von Altbischof Scharf: "Meine Angst, vor den Freunden nicht zu bestehen, war größer."

In der folgenden Diskussion meldete Udo Effert (Stolpe) erhebliche Zweifel daran an, daß eine Bürgerbewegung auf Dauer politischen Einfluß ausüben könne. Das Problem bestand für ihn dabei darin, daß einzelne Personen immer die Möglichkeit hätten, ihre Meinung als die der Bürgerbewegung auszugeben, ohne von dieser daran gehindert werden zu können. Dagegen meinte Oliver Richter (Berlin), SPD und Bürgerbewegung sollten sich gegenseitig inspirieren, und Konrad Elmer vertrat die Auffassung, daß die SPD dazu neige, denjenigen, die mit der Mehrheitsmeinung nicht übereinstimmten, das Verlassen der Partei nahezulegen. 1989/90 hätten die SDP und die Bürgerbewegung enger zusammenrücken sollen - das hätten verschiedene Sozialdemokraten aber auch auf Grund des zu ihren Gunsten zeitweilig herrschenden Stimmungshochs abgelehnt -, und auch 1992 sei eine Zusammenarbeit der beste Weg. Der 1989 dem SDP-Vorstand angehörende Stefan Finger (Elstra) vermutete, daß die sozialdemokratischen Emissäre vom damaligen "Runden Tisch" eventuell einseitig berichtet hätten, um ein Wahlbündnis mit der Bürgerbewegung zu verhindern. [ Zum Wahlbündnis aus der Sicht der Bürgerbewegung vgl. Lebensbe richt von Hans-Jürgen Fischbeck, in: Guntolf Herzberg/Klaus Meier, Karrieremuster: Wissenschaftlerporträts, Berlin 1992, S. 357.]

Tilman Fichter (Bonn) brachte schließlich die nationale Frage in die Diskussion ein. Für ihn sei die Spaltung Deutschlands nicht die Konsequenz aus Auschwitz, sondern dies könne nur die radikale Demokratisierung Gesamtdeutschlands sein. 1989 habe das Statut der SDP die Anerkennung der Zweistaatlichkeit bedeutet, wie auch die West-SPD u. a. - aus Sorge vor einem Verlust der Westorientierung - Angst vor der Einheit Deutschlands gehabt habe. Das habe letztlich zur Niederlage bei der Volkskammerwahl im Osten und bei der gesamtdeutschen Bundestagswahl geführt. Jetzt ist für Fichter die Zeit gekommen, auch in der SPD den Begriff der Nation erneut zu diskutieren. Dem hielt Oliver Richter entgegen, daß die SPD auch schon, bevor Bundeskanzler Kohl die deutsche Einheit für seine Politik instrumentalisierte, über dieses Problem nachgedacht habe.

Greta Wehner sprach im Zusammenhang mit der Angst der SDP-Gründer vor Verfolgung von ihrer eigenen Angst in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Für sie sind das NS-Regime und die DDR der letzten 15 oder 20 Jahre ihres Bestehens auch nicht vergleichbar. Außerdem warnte sie davor, daß Menschen, die vor 1989 helfen und Leid mildern wollten, heute mit "gefälschten Dokumenten" belastet würden. [ Jeder im Saal dachte wohl spätestens bei dieser Bemerkung an den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, dessen Name indes nicht fiel.] Das könne in ihren Augen nur die deutsche Einheit zerstören.

Bezug auf die Ausführungen von Udo Effert nehmend, meinte Marianne Birthler, daß es für die Bürgerbewegung essentiell sei, flexible, unkonventionelle Antworten "vor Ort" zu geben. Außerdem meinte sie, daß Volkskammerabgeordnete der Ost-SPD z. B. beim Einigungsvertrag gegen ihr Gewissen gestimmt hätten. Solch ein Verhalten führe letztlich zur Beschädigung der Seele in der Politik. So sei in der Politik zwar ein Stück Verbindlichkeit nötig, aber genauso auch die Gewissensentscheidung des einzelnen. Den Vergleich zwischen DDR und NS-Regime hielt auch sie nicht für tragfähig, gab aber zu bedenken, daß unter der SED-Herrschaft Menschen vielleicht noch stärker verbogen und manipuliert worden seien. Zur Frage des Wahrheitsgehaltes der Akten der Staatssicherheit gab Birthler zu bedenken, daß der Verrat Ibrahim Böhmes auch nur aus ihnen bekannt geworden sei. Auch Markus Meckel vertrat anschließend dezidiert die Auffassung, daß die Unterlagen des MfS zwar nicht gefälscht, wohl aber in vielen Fällen vernichtet worden seien. Die DDR und das nationalsozialistische Deutschland seien zwar nicht gleichzusetzen, ein Vergleich sei aber legitim. Für Meckel stand die SDP seit ihrer Gründung in Schuld und Verantwortlichkeit der deutschen Geschichte. So sei die einheitliche Nation im Osten eine zentrale Frage gewesen, und die SDP habe immer an die Möglichkeit der Veränderung der deutschen Zweistaatlichkeit gedacht. Allerdings sei ihr Ziel nicht die reine Kopie des Westens gewesen, sondern bei ihrer Gründung sei die Demokratisierung der DDR für die ostdeutschen Sozialdemokraten entscheidend gewesen. Erst allmählich sei ihnen dann klar geworden, was zur Vereinigung zweier unterschiedlicher Gesellschaftssysteme eigentlich alles an konzeptionellem Denken und praktischem Handeln nötig sei.

Richard Schröders Thema war die Entstehung des auf dem Leipziger Parteitag vom 22. bis zum 26. Februar 1990 verabschiedeten Grundsatzprogramms der Ost-SPD. [ Vgl. Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie. Hrsg. von Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, 3. Aufl., Bonn 1991, S. 447-490.] Dies sei mit nur ganz geringer westlicher Unterstützung vor allem aus drei Gründen zustande gekommen. Erstens habe nach dem Zusammenbruch der SED ein Orientierungsvakuum bestanden, und nur eine geringe Minderheit der DDR-Bewohner habe den Wunsch gehabt, die politischen Verhältnisse aktiv mitzugestalten. Aus Untertanen hätten erst Bürger werden müssen. Zweitens habe es gegolten, sozialdemokratische Positionen zu besetzen, die die SED/PDS nur zu gern für sich beansprucht hätte, und drittens seien die Themen zu benennen gewesen, die nicht zum (westdeutschen) sozialdemokratischen Standardrepertoire gehört hätten. Dazu habe die Forderung nach einer ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft gezählt. Ziel des Grundsatzprogramms der SDP sei es weiterhin gewesen, mit dem Realsozialismus der DDR zu brechen und ein Gesellschaftssystem zu schaffen, das mit der Bundesrepublik kompatibel sei. Dabei habe die SDP die Bundesrepublik durchaus als verbesserungswürdig, aber auch als verbesserungsfähig gesehen. Was sie dagegen nicht vorausgesehen habe, seien die mit dem Vereinigungsprozeß auftretenden enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gewesen, die Probleme der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die schwierige Eigentumsfrage, der wachsende Rechtsradikalismus in Deutschland und die durch den Zusammenbruch des Kommunismus drohenden oder schon begonnenen Bürgerkriege im Osten und Südosten Europas.

An Schröder anschließend, fragte Konrad Elmer, warum bessere programmatische Auffassungen der Ost-SPD nicht stärker bei den Vereinigungsverhandlungen mit der Bonner SPD vertreten worden seien, wie das bei Statutenfragen selbstverständlich gewesen sei. Gert Weisskirchen (Bonn) schloß sich mit der Frage an, ob die Umbenennung von SDP in SPD mit der SED in PDS zu tun gehabt habe, und für Klaus Gosmann (Herford) war es nicht klar, warum nicht analog zu 1945 persönlich unschuldige SED-Mitglieder in die SPD eintreten können. Daran anschließend, forderte Bruno Hartmann (Berlin), bei folgenden Tagungen zu einer ähnlichen Thematik ökonomische Belange stärker in die Betrachtung mit einzubeziehen. Für ihn sei in der DDR der Versuch der Etablierung eines totalen Gemeineigentums an Produktionsmitteln gescheitert. Über die daraus sich ergebenden wirtschaftlichen Folgen hätte man in Bonn informiert sein können. Matthias Engler (Berlin) übte danach indirekt Kritik an der Bonner SPD, wenn er fragte, ob es bei dieser eine mehr als notwendige Nähe zur SED gegeben habe.

In seiner Erwiderung nannte Richard Schröder die Themen, die für die Sozialdemokraten aus dem Osten im Februar 1990 wichtig gewesen seien. Es habe sich um einen verbesserten Schutz der Umwelt gehandelt, um das Ausländerwahlrecht, um die Erhaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes in der DDR, um die Entsendung von Parlamentariern in den Bundesrat und um die Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems. [ Willy Brandt hat folgende Leistungen der SDP genannt: Aufbau der Grundelemente einer organisatorischen Struktur, Schaffung program matischer Grundlagen, demokratische Auswahl von Kandidaten für Wahlen, Organisation von Wahlkämpfen, Teilnahme am Runden Tisch und an der Übergangsregierung Modrow sowie an zahlreichen anderen Verwaltungen. Vgl. Willy Brandt, "... was zusammengehört". Reden zu Deutschland, Bonn 1990, S. 11.] Aber alle diese Themen seien von der West-SPD entweder schon programmatisch besetzt gewesen oder hätten nicht in die politische Realität gepaßt. Die Umbenennung der SDP sei aus Gründen der Tradition und aus der Gefahr heraus erfolgt, daß sich die SED der Abkürzung SPD als "Sozialistische Partei Deutschlands" bedienen könne. Zum Problem des wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Osten meinte er, daß es bis jetzt keine systematischen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen darüber gebe, wie eine Plan- in eine Marktwirtschaft umzuwandeln sei. Das Hauptproblem sei das Wegbrechen der Ostmärkte. Allerdings sei es notwendig gewesen, die Entschuldung der DDR-Betriebe im Einigungsvertrag zu regeln, doch hätte dies von der westlichen als der "gebenden" Seite geregelt werden müssen. Zur Übernahme von SED-Mitgliedern in die SPD merkte Schröder nur lapidar an, daß dies von der Bevölkerung der neuen Bundesländer abgelehnt werde.

Auch Markus Meckel erinnerte sich, daß die Umbenennung der SDP vor allem erfolgt sei, um der SED zuvorzukommen. Bei der Aufnahme von ehemaligen SED-Mitgliedern liege die Entscheidung letztlich bei den Ortsverbänden der SPD, doch sei eine Offenlegung der politischen Biographie des jeweiligen Kandidaten eine Voraussetzung. Zur Verschuldung der Betriebe der DDR gegenüber dem Staat führte er abschließend aus, daß es sich dabei um keine realen Schulden gehandelt habe. Das hätte im Einigungsvertrag berücksichtigt werden müssen.

In seinem zusammenfassenden Schlußwort fragte Wolfgang Thierse nach dem Sinn eines Rückblicks und stellte fest, daß die DDR hinter dem Horizont der Erinnerung versinke. Um so mehr sei es notwendig, sich genau, selbstkritisch und schonungslos zu erinnern und auch den Gründungsmythos der SDP immer wieder in Frage zu stellen. Dabei solle nicht die Vergangenheit über uns siegen, sondern die Auseinandersetzung mit ihr müsse dazu dienen, gegen den heutigen Demokratie- und Parteienverdruß, gegen den Verfall von Autoritäten und Institutionen anzugehen.

Thierse äußerte weiter die Hoffnung, daß aus der gegenwärtigen Krise des deutschen Einigungsprozesses ein "zweiter Mut, zu uns selbst zu kommen", werden könne. Hätten die ersten drei Jahre nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch der DDR zwangsläufig unter der Dominanz des erfolgreichen Westens stehen müssen - und viele Ostdeutsche hätten an Wunder glauben und die Anpassung so schnell wie möglich haben wollen -, so seien jetzt neue Fragen zu stellen. Es sei zu fragen: Was sind innere Einheit und Gleichheit der Lebensverhältnisse, und sind die Ostdeutschen bereit, ihre gesamten Lebensverhältnisse unter das Diktat wirtschaftlicher Effizienz zu stellen? Auch sei noch immer nicht geklärt, welche Mentalitäten und identitätsstiftenden Elemente der Osten in den Vereinigungsprozeß wirklich einbringen könne. Heute hänge von der Qualität des Fortschritts, die wir jetzt anstreben, nicht nur das Schicksal der Bundesrepublik ab. Thierse setzte sich vehement dafür ein, darüber nachzudenken, ob der gegenwärtige Entwicklungsweg der Industriegesellschaften auch aus christlicher und aufklärerischer Tradition heraus der richtige sei. Die Diskussion über die Richtung der Aufholjagd der weniger hoch entwickelten Ländern sei gleichzeitig eine über die Sicherung des Weiterlebens der europäischen Zivilisation. Dies werde aber nicht nur auf der unterlegenen Seite notwendig sein.

In Thierses Ausführungen liegt letztlich die Konsequenz, darüber nachzudenken, ob der jetzt erfolgreiche Westen den bisher eingeschlagenen Weg - mit Verkehrsinfarkt und Ozonloch - weiter werde beschreiten können. Die heute zu lösenden Probleme sind weltumspannender Natur. Es sind - wie es ein von Wolfgang Thierse mitgeschriebenes Manifest zusammenfaßte: Bewahrung der Natur, Sicherung der Energiebeschaffung, Gewährleistung der öffentlichen und internationalen Sicherheit, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, von Terrorismus und von Drogensucht. [ Marion Gräfin Dönhoff, Weil das Land sich ändern muß. Ein Manifest, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 98.]


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