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TEILDOKUMENT:
Richard Schröder:
Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen zu Marianne Birthlers Behauptung in der Diskussion [vgl. die Zusammenfassung auf S. 109], Mitglieder der SPD-Volkskammerfraktion hätten gegen ihr eigenes Gewissen dem Verfassungsgrundsätze-Gesetz zugestimmt. Wenn sie noch da wäre, würde ich sie gern fragen, woran sie das erkannt hat. Ich finde, daß der politische Stil schon dadurch gefährdet wird, daß jemand sich so sicher in der Lage sieht, darüber zu urteilen, wo jemand gegen sein Gewissen gestimmt hat. Und jetzt zum Thema. Es gibt, ganz grob geurteilt, zwei Arten von Parteien: Wahlvereinsparteien und Programmparteien. Die Sozialdemokratie ist seit ihren Anfängen Programmpartei gewesen. Auch die SDP wollte von Anfang an eine Programmpartei sein - übrigens in deutlichem Unterschied etwa zum Neuen Forum, das zunächst ein Marktplatz, eben Forum, für eine große Aussprache sein wollte, an der sich jeder unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit beteiligen könne, sozusagen als kollektiver Selbstfindungsprozeß. Für die Entwicklung des Programms der SDP, die sich bei der ersten Delegiertenversammlung im Januar 1990 auf Druck der Basis in SPD umnannte, sind folgende Dokumente wichtig: 1. "Vorlage zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen", ursprünglich datiert vom 14. Juli 1989, als Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei veröffentlicht am 26. August 1989. Das Papier ist von Markus Meckel und Martin Gutzeit verfaßt. 2. Der "Programmatische Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP)", den Markus Meckel bei der Parteigründung in Schwante gehalten hat. 3. Im Dezember 1989 begann die "Grundsatzkommission" der SDP zu arbeiten, die schließlich aus 14 Mitgliedern bestand. Zur Delegiertenkonferenz der SDP (11.-14. Januar 1990) gab sie den Delegierten einen ersten Entwurf für ein Grundsatzprogramm zur Kenntnis, über den nicht beschlossen wurde. 4. Auf dem ersten, dem Leipziger Parteitag (22.-25. Februar 1990) wurden dann das Grundsatzprogramm der Ost-SPD und das Wahlprogramm für die Volkskammerwahlen verabschiedet. Um anderslautenden Gerüchten entgegenzutreten: Wir haben unsere Programme selber gemacht und nicht aus dem Westen importiert. Zweimal hat sich die Grundsatzkommission der Ost-SPD mit der Grundwertekommission der West-SPD zu einem sehr allgemeinen Austausch getroffen. Wir hatten in unserer Grundsatzkommission einen Gast aus der West-SPD dabei. Für die Arbeit am Wahlprogramm hatten wir zwei Bundesbürger um Mitarbeit gebeten, nämlich Rolf Schmachtenberg und Karl Peter Schackmann-Fallis. In meiner Erinnerung sind diese Monate vor allem geprägt durch Hektik, durch ein ständiges Improvisieren und durch eine Flut neuer Bekanntschaften. Daß diese Programmarbeit überhaupt gelungen ist, verdanken wir nicht dem damaligen Parteivorsitzenden, der sich um dergleichen gar nicht gekümmert hat. Wir verdanken es vor allem Markus Meckel, der diese Arbeit organisiert hat, und Jörg Milbradt, der erste Entwürfe geliefert und immer wieder die mühsame Arbeit des Redakteurs auf sich genommen hat. Ich selbst habe ab Januar 1990 an der Arbeit der Grundsatzkommission und der Wahlprogrammkommission der SPD teilgenommen. War es denn überhaupt gerechtfertigt, so viel Kraft durch die Arbeit an einem Grundsatzprogramm zu binden, während der entscheidende Machtkampf am Runden Tisch stattfand und sich die neugegründete SPD als ein liebenswertes, enthusiastisches, aber nicht sehr effektives Chaos präsentierte? Vor allem aus drei Gründen haben wir uns dieser Arbeit unterzogen. 1. Die SED-Diktatur war auch eine Diktatur über die Köpfe, ihr Zusammenbruch hinterließ ein Orientierungsvakuum. Diejenigen, die im Herbst 1989 die DDR verließen, wollten einfach in der Bundesrepublik leben. Und von denen, die blieben, wollten nun viele einfach leben wie in der Bundesrepublik: mehr Freiheit, eine konvertible Währung, den westlichen Wohlstand - eigentlich private, unpolitische Erwartungen. Nur wenige wollten die politischen Verhältnisse tätig umgestalten. Wir wollten dagegen eine grundsätzliche Diskussion befördern, damit aus den Untertanen Bürger werden, die sich um die gemeinsamen Angelegenheiten selbst kümmern. Parteiprogramme finden normalerweise wenig Leser. Wir waren der Hoffnung, diesmal könne es anders sein. Ob wir uns darin getäuscht haben, weiß ich nicht. Unser Grundsatzprogramm hat viel zu spät viel zu wenig Verbreitung gefunden. 2. Die Gründung der SPD war in meinen Augen deshalb besonders wichtig, weil wir dadurch den Platz besetzt haben, den die SED, wenn sie sich denn reformieren mußte, selbst gern besetzt hätte. Aber eine frisch-fröhliche Linkspartei "des demokratischen Sozialismus" (PDS) an der Spitze der Reformbewegung als Therapie der Krankheit, die sie selber war, das hätte uns gerade noch gefehlt. Wir mußten also im besonderen unseren programmatischen Unterschied zur SED/PDS artikulieren. Noch im Mai 1990 bin ich vom sowjetischen Botschafter gefragt worden, ob wir, die SPD, uns in Zukunft eine Koalition mit der PDS vorstellen könnten. Ich habe ja Verständnis für diese seine Fürsorglichkeit gegenüber der ihm bisher so treu ergebenen SED/PDS. Ich konnte ihm aber keine Hoffnung machen. 3. Wir konnten nicht einfach das Grundsatzprogramm der West-SPD übernehmen, weil unsere Situation eine völlig andere war als die der westlichen Bundesrepublik. Die West-SPD war eingestellt auf eine Modernisierung der Bundesrepublik, ökologisch und sozial. Wir dagegen mußten erst einmal den im Westen selbstverständlichen Standard: parlamentarische Demokratie, Grundrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Marktwirtschaft, Wettbewerb, Schutz des Eigentums, gesellschaftlichen Pluralismus und Förderung der Eigeninitiative einfordern. Da wir uns gegen die Karikatur der sozialen Demokratie, nämlich den real existierenden Sozialismus, zu wenden hatten, der die ursprüngliche sozialdemokratische Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zum bevormundenden Versorgungsstaat pervertiert hatte, mußten wir auch solche Themen in den Vordergrund stellen, die zwar in der sozialdemokratischen Programmatik integriert, aber eher bei den Liberalen ganz vorn stehen. Unsere Forderung nach einer ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft hieß für unsere Verhältnisse erst einmal: die Planwirtschaft abschaffen und den Markt einführen. Wir sagen "Nein zu neuen Experimenten mit einer 'marktorientierten Planwirtschaft' oder einer 'sozialistischen Marktwirtschaft'. Der Plan muß weg," heißt es in unserem Grundsatzprogramm. Wir haben die Einführung eines Aktien-, Renten- und Kapitalmarkts gefordert, was für sozialdemokratische Programme sonst nicht gerade typisch ist. Wir haben neben der Umwandlung der LPG in freiwillige Genossenschaften auch die Möglichkeit privater Landwirtschaftsbetriebe gefordert. Westliche Selbstverständlichkeiten wie Verwaltungsgerichte und ein Verfassungsgericht und die Einrichtung von Ländern mußten wir zuallererst fordern. Wohl wissend, daß im Westen manche die Parteien für überflüssig halten, haben wir ein Mehrparteiensystem gefordert. Und gegen manche Stimmen in den östlichen Bürgerbewegungen, die auch Mitglieder anderer Parteien auf ihren Listen kandidieren lassen wollten, heißt es in unserem Grundsatzprogramm: "Eine Doppelmitgliedschaft in Parteien, die zu derselben Wahl Kandidaten aufstellen, wäre eine Irreführung der Wähler." Wir haben plebiszitäre Elemente gefordert, aber zugleich betont: "Für Volksentscheide und Volksbegehren soll eine Regelung getroffen werden, die das Parlament und die Regierung von ihrer politischen Verantwortung nicht entbindet." Böswillige Interpreten hätten behaupten können, unser Programm sei ein Programm der Einführung des Kapitalismus und eines Rückschritts zur "bürgerlichen Demokratie". Daran wäre bloß dies richtig gewesen: Den real existierenden Sozialismus der SED wollten wir auf keinen Fall fortsetzen. Wir wollten eine politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung, die der der Bundesrepublik im wesentlichen entspricht, und nicht, wie in jenem Aufruf "Für unser Land" vom Herbst 1989, eine Alternative zur Bundesrepublik oder einen "dritten Weg", und zwar nicht deshalb, weil die bundesrepublikanischen Ordnungen die besten sind, sondern weil sie verbesserungsfähig sind, während der real existierende Sozialismus an seiner Unverbesserlichkeit zugrunde gegangen ist. Wir haben der Verwirrung, die mit dem Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus in den Köpfen angerichtet worden ist, den Kampf angesagt und bestritten, daß es eine bürgerliche und eine sozialistische Demokratie, einen bürgerlichen und einen sozialistischen Rechtsstaat gibt usw. Denn das war in Wahrheit der Unterschied zwischen Demokratie und Scheindemokratie sowie zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Wir haben uns nicht länger das Wort "bürgerlich" als Schimpfwort verunglimpfen lassen, weil wir endlich wieder Bürger sein wollten. Während die westliche SPD sich vor allem von ihren demokratischen Konkurrenten unterscheiden mußte, haben wir unsere Konstellation so beschrieben: "Mit Demokraten können wir uns über gemeinsame Ziele verständigen, eine Zusammenarbeit mit Verfechtern totalitärer Ideologien, mit Links- und Rechtsextremisten lehnen wir strikt ab." Entsprechend hieß es in unserem Wahlprogramm: "Wir können gegenwärtig nur eine sichere Koalitionsaussage machen: niemals mit der PDS. Wir erstreben nach der Wahl eine starke Regierung auf breiter parlamentarischer Grundlage, die das große Reformwerk tragen kann." Wie liest sich dieses Programm knapp drei Jahre danach? Es läßt sich noch immer gut sehen, was unsere Zielvorstellungen von einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft betrifft. Wie verhält es sich zu dem, was inzwischen geschehen ist? Wir haben die Währungsunion gewollt. Wir wollten, "[...] daß Deutschland in friedlicher und freiheitlicher Form neu vereinigt wird. Im Zusammenwirken mit unseren Nachbarn und den Alliierten soll ein föderaler deutscher Staat entstehen." Wir haben die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Einigung weder in unserem Grundsatzprogramm noch in unserem Wahlprogramm vorhergesehen. Wir haben nicht gesehen, welche gewaltigen Probleme uns die sogenannte Vergangenheitsbewältigung bescheren wird. Wir haben offenbar damals noch gedacht, das Problem "Stasi" liege hinter uns. Es heißt dort lediglich: "Eine Geheimpolizei muß durch Verfassungsartikel für alle Zukunft verboten sein." Wir haben nicht gesehen, welche riesigen Probleme im Zuge der
Wir haben den Weg zur deutschen Einheit gewollt und nicht gewußt, was alles auf uns zukommt. Ich denke, wir haben trotzdem das Richtige gewollt. Noch einmal: Wenn wir nicht die wenigen mutigen Oppositionellen gehabt hätten, die den Runden Tisch erzwungen haben, hätte die SED/PDS durchaus mit einem Scheinreformprogramm die Führung behalten können. Dies ist jedenfalls durch die schnelle Einigung verhindert worden. Nun müssen wir eben die unerwarteten Aufgaben in Angriff nehmen, nicht wehleidig, sondern tatkräftig. Als wir das Programm geschrieben haben, waren wir erfüllt und getragen von der Überzeugung, eine einmalige Chance zur politischen Neugestaltung zu haben. Wir fühlten uns wie Gipfeltürmer. Nun sind wir nicht oben angekommen, sondern in die Mühen der Ebene verwickelt. Bekanntlich haben sich viele Theologen in der Ost-SPD engagiert. Das hat manche geärgert. "Nach dem Putsch gehen die Soldaten wieder in die Kaserne", so hat das einer im Herbst 1990 ausgedrückt, zu deutsch also: "Tretet ab von der politischen Bühne." Sollen wir sagen: "Undank ist der Welt Lohn"? Trotzdem möchte ich für mich sagen: Es war doch richtig, daß wir in die Bresche gesprungen sind, ich bin, alles in allem, nicht enttäuscht. Das Leipziger Grundsatzprogramm ist abgedruckt in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 3. Aufl., Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 1990, S. 447-490. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998 |