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Konsequenzen aus den Erfahrungen der Oppositionszeit: Partei oder soziale Bewegung?



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Markus Meckel

Liebe Freundinnen und Freunde!

Es ist etwas schwierig, hier so gewissermaßen als Fossil der Geschichte zu reden. Deshalb möchte ich zu Beginn darauf hinweisen, wie wichtig es für uns, die wir die Initiative zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei ergriffen haben, damals war, daß dann sehr schnell alte Sozialdemokraten, die sich jahrzehntelang nicht als solche zu erkennen gegeben haben (manche haben dies sogar getan), da waren und uns unterstützt haben. Damit gewährleisteten sie die Identität der Sozialdemokratischen Partei nicht nur programmatisch, sondern auch als Personen. Ein paar sind hier unter uns, und darüber freue ich mich sehr.

Der Mythen über die Vergangenheit sind viele, wenn es um die Zeit geht, über die wir hier reden. Manche dieser Mythen sind selbstgebastelt, wie der Mythos von der Bürgerbewegung. Dieser Begriff war als Selbstbezeichnung oder im Singular gebraucht und ist dann besonders interessant.

Andere Mythen werden aus Unkenntnis immer wiederholt. Die historische Forschung wird hier noch einiges zu tun haben, um manches geradezurücken.

Mythen zu verbreiten, geschieht leicht, wenn Akteure die Geschichte schreiben oder erzählen. Und natürlich stehe ich selbst auch in der Gefahr, daß das, was ich zu sagen habe, so angesehen wird, ist es doch aus einem ganz bestimmten und begrenzten Blickwinkel geschrieben und gesagt. Wir wußten damals eben nicht alles, was gleichzeitig geschah. Es ist der Vorteil des Historikers, daß er heute in verschiedene Ebenen gleichzeitig sehen kann, Ebenen, die damals voneinander nichts wußten, und deshalb ist es wichtig, auch als Akteur sich nun die Akten genauer anzusehen.

Die Gefahr, selbst peinliche Mythen zu verbreiten, erscheint dann besonders groß, wenn der Redende glaubt, in den zentralen Entscheidungen damals recht gehabt zu haben - ob aus Glück oder aus Zufall oder aus anderen Gründen, mögen andere entscheiden.

Der Titel heißt hier: Von der Bürgerbewegung zur Partei. Was ist das eigentlich, wenn - und dann heute geläufig - von der Bürgerbewegung geredet wird oder von der politischen Opposition? All diese Begriffe waren damals, jedenfalls bei denen, die sich heute so nennen, keine Selbstbezeichnung. So bezeichneten sich nur ganz wenige Einzelne.

In der kurzen Zeit ist die Frage, was politische Opposition in den 80er Jahren war, schwer zu beantworten. Die Geschichte der Opposition in der DDR ist noch nicht geschrieben.

Es war ein Merkmal des Systems, in dem wir lebten, daß man anfangs nichts voneinander wußte, daß oppositionelle Aktivitäten normalerweise eben nicht öffentlich bekannt waren und bekannt wurden und daß es ein großes Stück Arbeit war, sich gegenseitig zu informieren bzw. Informationen voneinander zu erhalten, um dann womöglich eine Vernetzung herzustellen.

Ich versuche deshalb im folgenden ein paar Linien zu zeichnen, die die verschiedensten Kommunikationszusammenhänge aufzeigen, die meinen Erfahrungshintergrund darstellen.

In den Jahren vor 1980 waren es meist Einzelne, die nicht nur Opfer dieses Regimes waren, sondern auch versuchten, es öffentlich zu kritisieren, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Havemann ist wohl der bekannteste, doch waren es da auch immer wieder Künstler, die zur Stimme des kritischen Volkes wurden, die man gerne ausdrücken ließ, was man selbst dachte bzw. bei ihnen gut formuliert fand. Man war froh, daß es solche Leute gab, die den Mund aufmachten, auch, um nicht selbst reden und handeln zu müssen.

Ich denke, hier gab es in der DDR Anfang der 80er Jahre einen gewissen Sprung. Politischer Zusammenhang war hier der NATO-Doppelbeschluß von 1978, die Erkenntnis, daß da etwas geschieht, das die Politiker nicht in den Griff kriegen und uns alle so lebensbedrohlich angeht, daß man selbst aktiv werden muß, und sei es, daß man erst einmal anfängt, sich mit dem Thema und der Bedrohung zu beschäftigen und dann gemeinsam zu fragen, was eigentlich zu tun ist. Genau mit diesen, erst einmal ganz einfachen und banalen Fragen fing jedenfalls bei mir in Vipperow, einem Dorf in Mecklenburg, ein solcher Friedenskreis an zu arbeiten. Durch die Initiative vieler Einzelner entstanden in der ganzen DDR Gruppen, die sich zuerst einmal und hauptsächlich die Friedensfragen zum Thema machten, als selbstinitiierte Gruppen aber gar nicht daran vorbei kamen, sich auch mit dem eigenen Staat auseinanderzusetzen, der natürlich sofort aggressiv reagierte. Denn schon die Tatsache, daß jemand ohne Aufforderung politisch aktiv war, ließ ihn entsprechend reagieren.

Ein Beispiel: 1973, nach dem Chile-Putsch, wollte in Berlin eine Gruppe von Schauspielern gleich am nächsten Tag eine Demonstration machen. Die Stasi war sofort aktiv, hat es verhindert - und zwei Tage später gab es die offizielle Demonstration mit mehreren hunderttausend Leuten. Das Beispiel zeigt: Man muß genau gucken, wie einzelne Dinge abgelaufen sind in dieser Gesellschaft, um sie bewerten zu können. Vieles, das gleich aussieht aus der Ferne, war nicht gleich.

Diese Gruppen, die in den 80er Jahren entstanden, waren sehr unterschiedlich in ihrer Zielsetzung. Was sie verband, war der Wille, etwas zu tun gegen die Raketenstationierungen in Ost und West und gegen das System der Abschreckung überhaupt, gegen die Militarisierung der eigenen Gesellschaft und das nach außen und auch nach innen funktionierende System der Bedrohung und Entmündigung. So gehörte die Forderung nach Bürgerrechten von Anfang an dazu und war notwendig. Einfach nur gegen die Nachrüstung im Westen zu sein reichte nicht, da die UdSSR und der DDR-Staat das auch waren. Ihre Aufstellung der SS 20 und die Politik des Warschauer Paktes waren eben wesentliche Mitursache dieser Nachrüstungspläne des Westens, und das mußte auch klar gesagt werden.

Diese Gruppen, die da entstanden, waren entgegen manchen westlichen Darstellungen Wildwuchs. Sie brauchten keine Leitfigur und keinen Führer, und es gab sie auch nicht. Manche Leute wurden durch Zufall bekannter; hier spielten die westlichen Medien eine wichtige Rolle. Anfangs erfuhren wir erst durch diese Medien voneinander. So war es am Anfang eine wichtigte Aufgabe, sich kennenzulernen und die gegenseitige Information und Vernetzung sicherzustellen. Der damals vielgebrauchte Begriff Vernetzung macht deutlich, daß jede einzelne Gruppe natürlich selbst entschied, was sie tat, doch die anderen sollten es wissen, man brauchte das Rad ja nicht mehrfach zu erfinden. Es war schwer, an Literatur und Informationsmaterial heranzukommen, vieles wurde mühsam selbst hergestellt, auf kirchlichen Druckmaschinen natürlich, was nicht selten auch wieder eigene Probleme innerhalb der Kirche mit sich brachte.

Ich war seit 1980 in Mecklenburg, in Vipperow, in diesem Dorf an der Müritz, Martin Gutzeit folgte in die Nachbarpfarrstelle seit 1982. In Mecklenburg war ich seit 1981 an dem Versuch beteiligt, die vorhandenen Gruppen in einer "Arbeitsgruppe Frieden" zu sammeln und in ihr die Kommunikation mit und in der Kirche in diesen Fragen zu organisieren.

Auf eine Anregung von Heiko Lietz, heute Neues Forum in Mecklenburg, der mit holländischen und anderen Freunden, die diese Fragen bewegten, im Jahr zuvor durch Mecklenburg gewandert war, machten wir 1982 unser erstes sogenanntes Mobiles Friedensseminar in Mecklenburg. Eine Woche lang gemeinsames Leben, Anfang August, zum Hiroshima- und Nagasaki-Gedenken. Es kamen Leute aus der ganzen DDR (was nicht leicht zu organisieren war), aus Holland und der Bundesrepublik. Eine Woche intensive Beschäftigung mit den kritischen Themen der Zeit (in herrlicher landschaftlicher Umgebung) - die eigene gesellschaftliche Situation, Sicherheitsfragen, in den Jahren danach ebenso die der Ökologie, Menschen- und Minderheitenrechte, Fragen der Weltwirtschaft, des Nord-Süd-Verhältnisses - und immer dabei die praktische Frage, was man selbst in diesen Themenbereichen tun könne und müsse.

Es gehört zum Konzept dieser Seminare, sonst vereinzelt lebende kritische Leute bzw. verschiedene Gruppen in Kontakt zu bringen, unterschiedliche Ansätze ausführlicher miteinander zu diskutieren. Bei diesen Seminaren entstand eine Fülle von Kontakten, die in den darauffolgenden Jahren wichtig wurden.

Ähnliche Seminare gab es auch anderswo, in Königswalde in Sachsen oder in Königswartha, wobei jedes seine Spezifika hatte.

Auf Initiative einer Berliner Gruppe gab es Anfang 1983 das erste Treffen von Delegierten der den Initiatoren bekannten Gruppen aus der ganzen DDR. Natürlich fand es in einer Kirche statt, und die Vorbereitung war in ihr und im Streit mit ihr entstanden. Dieses Treffen war ein wichtiges Signal. "Konkret für den Frieden" oder kurz "Frieden konkret" war das Thema dieses Treffens, und dies wurde dann zum Namen für die jährlich stattfindenden Delegiertenversammlungen. Beim ersten Mal war es wichtig, daß es überhaupt stattfand, die Adressen gesammelt wurden, um sich kennenzulernen. Beim zweiten Treffen 1984 in Eisenach war es wichtig, daß es weiterging. Der Altendorfer Friedenskreis hatte die Initiative ergriffen und in hartem Ringen mit der schwierigen Thüringer Kirche schließlich zustande gebracht. Ein wesentliches Thema unserer Auseinandersetzungen war damals die sehr große Ausreisewelle, mit der sehr viele Freunde gegangen waren.

1985 trafen wir uns zum drittenmal in Schwerin. Hier war das Wichtige, daß wir nicht nur Friedensgruppen einluden, sondern auch Ökologie- und Dritte-Welt-Gruppen. Die Menschenrechts- und Frauengruppen waren als Friedensgruppen schon vorher dabei.

Die zweite sehr wichtige Entwicklung und Veränderung war, daß dort in Schwerin dann nach langem Hin und Her das erste Mal ein Fortsetzungsausschuß eingesetzt wurde, der das nächste Treffen vorbereiten sollte. Wir wollten es nicht dem Zufall des Stafettenlaufs überlassen, wie es weitergehen werde. Die Seminare gingen dann weiter bis 1989 im Februar. Zuletzt waren bei diesen Delegiertentreffen Vertreter von 300 verschiedenen Gruppen, die uns bekannt waren.

Dieser Fortsetzungsausschuß war wichtig für das Selbstverständnis der Gruppen. Es stellten sich plötzlich Fragen, die gemeinsam beantwortet werden mußten: Wie sollen sich diese Gruppen, diese Leute organisieren? Welche Aufgaben haben sie? Wer kann für wen reden? Wer hat welches Mandat? Welche Aufgabe hat konkret dieser Fortsetzungsausschuß? Es gab in all diesen Jahren nie ein Statut. Einige unter uns, zu denen ich gehöre, hatten Interesse daran, daß seine Aufgaben sich weiterentwickelten und möglichst klare verbindliche Strukturen bekamen, andere wollten es nur bei einem Vorbereitungsausschuß für das nächste Treffen belassen.

Nach und nach wurde es mehr. Die Mitglieder des Fortsetzungsausschusses gehörten dann mit dem Berliner Stadtjugendpfarramt - ich freue mich, daß Marianne Birthler da ist, meine Nachrednerin, die damals dort gearbeitet hat - zu denen, die 1987/88 die Koordinierungsgruppe gebildet haben in den Auseinandersetzungen um die Umweltbibliothek bzw. nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration und Friedensgebete und Mahnwachen organisierten.

Anfang der 80er Jahre war es noch eine relativ überschaubare Gruppe, die voneinander erfuhr, die sich auch theoretisch mit den gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzte. Gerade am Anfang der zweiten Hälfte der 80er Jahre waren es dann sehr viele, oft sehr junge Leute, die anfingen, einfach aktiv und spontan etwas zu machen, die die Nase voll hatten und auf die Straße gingen. Damit wurde das Ganze sehr viel lebendiger, und es wurde damit natürlich auch unübersichtlicher in der Kommunikation.

Es blieb bei der lockeren Vernetzung. Es gab neue Kommunikationsebenen der Ökogruppen, der Nord-Süd-Gruppen, auch die Solidarische Kirche und die Kirche von unten. Im Grunde aber spielte sich doch alles innerhalb dieser etwa 300 Gruppen und einer Reihe Einzelpersonen ab. Diese Vernetzung und gegenseitige Information hat eine ganz wesentliche Rolle gespielt für gemeinsame Aktivitäten und Erklärungen, aber eben auch für die Kontrolle der Kommunalwahl im Mai 1989.

Ich kann hier den weiteren Weg nicht im einzelnen beschreiten. Ich möchte ein paar Bemerkungen machen zur Rolle der evangelischen Kirche. Es ist deutlich, daß es eine ganze Reihe Pfarrer gab, die diese politische Arbeit als eine Arbeit verstanden, die sie von ihrem Evangelium, von ihrem Glauben her taten. Für andere war die Kirche ein Dach, d. h. ein Kommunikationsraum, der einzige nicht kontrollierte Kommunikationsraum, in dem man relativ - wohlgemerkt relativ - unkontrolliert vom Staat arbeiten konnte.

In den Kirchen gab es seit Mitte der 80er Jahre in diesem sogenannten konziliaren Prozeß, d. h. seit der Weltkirchenkonferenz von 1983, starke Bestrebungen, die Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens und des Nord-Süd-Verhältnisses sowie der Bewahrung der Schöpfung zum Thema kirchlicher Arbeit zu machen und zu fragen: Was muß vom christlichen Glauben her gemeinsam getan werden? Dies war für die Gruppen eine große Chance, die Kirchen als Institution bei diesen Themen beim Wort zu nehmen und zu klaren inhaltlichen Aussagen zu kommen. Ich denke, daß die kritischsten Texte, die nicht nur von einzelnen geschrieben, sondern von einer Organisation verabschiedet waren, die Texte der ökumenischen Versammlungen im April 1989 waren.

Ein Paukenschlag für die Oppositionsbewegung waren die Verhaftungen Anfang 1988. Sie waren ein Paukenschlag deshalb, weil unsere Wut und auch unsere Enttäuschung so groß waren über das Weggehen derer, die im Gefängnis gesessen hatten. Wir waren damals der Meinung, sie hätten bleiben müssen. Wir hätten die Urteile gebraucht für die Entwicklung im Lande, um die Dinge auf den Punkt zu bringen. Und da war auch manches Mißtrauen und jedenfalls große Enttäuschung.

Seit damals gab es bei verschiedenen Personen Überlegungen, zu verbindlicheren Strukturen zu kommen. Hans-Jochen Tschiche, heute Fraktionsvorsitzender des Neuen Forums in Sachsen-Anhalt, hat in Cottbus den Vorschlag gemacht, dieses "Frieden konkret", d. h. dieses Netzwerk, zu einer verbindlicheren Struktur auszubauen. Andere waren da skeptischer, weil die Unterschiede zwischen den Gruppen eigentlich zu groß waren. Ich gehörte da eher zu den Skeptikern.

Martin Gutzeit und ich haben seit dieser Zeit den Plan gehabt, im politischen Handeln aus der Kirche herauszutreten, als Bürger zu handeln und entsprechend dann auch dafür neue Organisationsformen zu finden.

Im Frühjahr 1988 machten wir die ersten Pläne für einen Verein "Bürgerbeteiligung". Danach ist uns aber bald klar geworden, daß dies nicht geht. Man kann nicht einen Verein als Sammelbewegung gründen und glauben, in ihm den Repräsentanten oppositioneller Interessen zu haben. Man muß sich klarer bestimmen, sagen, was man positiv will, und die anderen auffordern, das gleiche zu tun. Deshalb war uns dann wichtig, und die Erkenntnis wuchs bei uns unabhängig: Wir brauchen eine Partei. Als wir uns dann im Januar 1989 zusammensetzten, machte Martin Gutzeit den Vorschlag, eine sozialdemokratische Partei zu gründen.

Warum eine Partei? Eine Partei deshalb, weil sie vom Begriffe her schon klar sagt, sie ist ein Teil, ein pars, d. h. ein Teil, das sich zwar um die allgemeinen Angelegenheiten kümmert, aber nicht glaubt, für alle reden zu können, sondern nur für die, die sich hinter das Parteiprogramm stellen.

Auch braucht eine Partei ein klares Programm, nicht nur dieses ewige Reden und auch Zerreden, wir brauchten ein Aufhören bestimmter Diskussionsrunden um jede Kleinigkeit, wir brauchten einen Konsens über die Grundlagen und die Befähigung zu klarem politischen Handeln. Außerdem glaubten wir, daß nur eine Partei, die ein klares Programm hat, weiß, mit wem sie sich verbinden kann. Nur so können gemeinsame Minimallösungen gefunden werden.

Wir stellten damit die Machtfrage, weil wir der Meinung waren: Dieses System hat so keine Zukunft. Wir wollten, daß eine demokratische Struktur unsere eigene Organisation beherrscht, die wir auch nach außen wollten. Wir wollten klare Wahlstrukturen, wo klar ist, nicht jeder, der den Mund am schnellsten aufmacht, hat etwas zu sagen, sondern der, der gewählt ist. Wir brauchten stabile Strukturen und Kommunikation, und wir brauchten eine bestimmte Identität vom Norden bis zum Süden des Landes, um gemeinsam zu agieren. Gleichzeitig waren Wahlstrukturen, und Martin Gutzeit hat dies hier bildlich dargestellt, ein Anti-Stasi-Mittel. Wir hatten da ja unsere Erfahrungen. Schon früher, wenn wir eine Erklärung bei Veranstaltungen und Seminaren verabschiedeten, war es uns meist egal, ob zehn Prozent derer, die die Hand hoben, bei der Stasi mitarbeiteten. Wichtig war nur, daß das Papier gut war und der Inhalt dem entsprach, was wir wollten.

Warum nun aber dann eine sozialdemokratische Partei? Warum gründeten wir als Pfarrer nicht eine christliche Partei? Ich könnte das jetzt ausführlich begründen, kann aber nur sagen: Dies hatte zuallererst theologische Gründe. Eine christliche Partei, auch eine sich christlich nennende, hat für die allgemeinen Ziele immer ganz bestimmte Strategien. Solches menschliches Handeln darf aber nicht mit dem christlichen Glauben identifiziert werden. So mißbraucht das Adjektiv "christlich" für eine Partei diesen Glauben und versucht ihn zu vereinnahmen.

Wir haben die SPD aus programmatischen Gründen gegründet. Das kann jeder erkennen, der die Inhalte liest. Deshalb stimme ich Steffen Reiche nicht zu, wenn er sagt, daß dieses Programm auch das einer anderen Partei hätte sein können. Zum zweiten wollten wir uns hineinstellen in eine lange deutsche Tradition. Die Sozialdemokratische Partei ist die Partei in Deutschland, bei der von Herrschaftsstrukturen Betroffene zum erstenmal aufgestanden sind und sich selbst zum Subjekt politischen Handelns gemacht haben. Das bedeutete für uns: Wir delegieren nicht die Macht, sondern wir wollen sie, um unsere Verhältnisse selbst zu gestalten, als Leute, die Verantwortung für die eigene Wirklichkeit übernehmen wollen. Und dazu kam natürlich die Erfahrung von Sozialdemokratie aus der unmittelbaren Nähe; Namen wie Willy Brandt und Helmut Schmidt haben ganz gewiß dazu beigetragen, auch Olof Palme.

Wir warben innerhalb oppositioneller Gruppen seit Anfang 1989 für diesen Plan der Parteigründung. Wir wollten eine repräsentative Demokratie, doch genau das wollten die meisten anderen in der Opposition in dieser Zeit eben nicht. Ich könnte jetzt aufzählen, wann ich mit wem in diesem ersten halben Jahr 1989 gesprochen habe, um Leute zu finden, die mitmachen. Ursprünglich wollten wir eine kleine Initiativgruppe bilden und uns landesweit organisieren. Danach sollte ein Parteitag folgen. Das war unsere ursprüngliche Strategie. Mit der Ausreisewelle im Sommer und der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze ging dann alles sehr viel schneller.

Am 24. Juli haben wir den Aufruf bei mir in dem ökumenischen Zentrum in Niederndodeleben bei Magdeburg geschrieben. Mit dem uns eigenen unverschämten Selbstbewußtsein waren wir der Meinung: Damit ist dieses System strukturell und geistig am Ende. Es galt, die Verhältnisse beim Namen zu nennen. Die richtige Interpretation war schon die halbe Tat, eine gegründete Partei der Anfang des Endes dieses Systems.

Am 26. August bzw. schon am Abend vorher haben wir bei einem Menschenrechtsseminar zum 200. Jahrestag der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte in der Golgatha-Gemeinde in Berlin verschiedenen Personen dieses Papier gezeigt. Arndt Noack drängte uns und sagte: Damit müßt ihr jetzt rausgehen, ihr könnt nicht mehr warten. Er hat uns überzeugt. Uns war klar, er hatte recht. Und als ihm deutlich wurde, daß wir unser Papier zum Abschluß dieses Seminars im Plenum vorstellen würden - ich habe es dann dort verlesen -, hat sich kurz vorher Ibrahim [Böhme] angeschlossen.

Dieses war das Startsignal für das Gründungsfieber des September 1989. Wir haben damals niemanden gefragt, weder die SPD der Bundesrepublik noch irgend jemand anders. Andere hatten vorher gefragt, wie wir später erfahren haben, und es war ihnen abgeraten worden.

Wir wollten eine Volkspartei gründen. Es ist natürlich erst einmal ziemlich absurd, wenn zwei Leute, zumal Pfarrer, sich entschließen, eine sozialdemokratische Partei als eine Volkspartei zu gründen. Ich glaube, es ist falsch, und zwar aus strukturellen Gründen falsch, und widerspräche unserer Konzeption, wenn, wie geschehen, gesagt wird, die ersten, die wir ansprachen, waren lauter Freunde. Von den etwa 40 Leuten, die in Schwante zusammen waren, kannte ich vorher, glaube ich, keine zehn Leute. Man kann sich, wenn man ein solches Ziel hat, Mitglieder nicht aussuchen; und das wollten wir auch nicht. Natürlich sprachen wir auch gezielt Leute an, die wir kannten und die wir brauchten. Doch: Wir wollten nicht nur Intellektuelle oder nur Oppositionelle sammeln, sondern wir wollten eine Volkspartei. Da, wo ich selbst dann konkret den Parteiaufbau gemacht habe, in Sachsen-Anhalt, im Raum Magdeburg, ist dies auch vielfältig belegbar.

Ich bin heute noch erstaunt, wie gut das alles lief, wie gut Leute einfach darauf angesprungen sind. Es war offensichtlich die richtige Idee, die richtige Strategie zum richtigen Zeitpunkt. In der Nähe Magdeburgs, ich glaube, das war der erste Ortsverein in Sachsen-Anhalt, kam ein Kraftfahrer zu mir und sagte: Das ist richtig! Wann kommst du? Wir machen eine Gründungsfeier. Das war wenige Tage nach dem 7. Oktober. So etwas gab es dann sehr oft.

Zum Verhältnis zur West-SPD will ich nur noch so viel sagen: Wir hatten vorher keinen Kontakt zu ihr. Nach der Parteigründung gab es sehr schnell eine Kontaktaufnahme von seiten der SPD. Und ich kann hier klar sagen, daß wir in dieser ganzen Zeit bis zur Volkskammer-Wahl eine sehr enge und faire Zusammenarbeit mit der Baracke hatten. Ich muß dies noch einmal sehr deutlich betonen. Wir haben so etwas nicht erlebt, wie die "Allianz für Deutschland", die durch Kohl und Schäuble aus strategischen Gründen vom Westen her zusammengeschmiedet worden ist. Man muß es sich von Beteiligten einmal erzählen lassen.

Wir in der SDP haben Anerkennung erlebt gegenüber unserer Selbständigkeit und das Angebot zur Hilfe. Dies gilt dann in noch größerem Maße für die vielen Orts- und Bezirksvereine, die sich gebildet hatten. Hier gab es nach dem 9. November eine Unmenge von Hilfe und Partnerschaft, ohne die in dieser Zeit vieles nicht gelungen wäre.

Ein letztes oder vorletztes Wort zum Stichwort zu den Vorgängen im Herbst selbst. Wir haben ja oft die Auseinandersetzung gehabt, und ich vermute, Marianne [Birthler] wird dazu auch noch etwas sagen, in der Frage des Wahlbündnisses. Wie haben wir zu den anderen Gruppen, Gruppierungen und Bewegungen gestanden? Wir hatten am 26. August den Text veröffentlicht. Im Laufe des September und später entstanden dann das Neue Forum, Demokratie jetzt und der Demokratische Aufbruch.

Ich hatte mit verschiedenen Initiatoren des Demokratischen Aufbruch Kontakt. Wir hatten verabredet, daß wir als Sozialdemokraten uns an der Gründung des DA als Sammelbewegung der Opposition beteiligen. Einige unter uns, die waren dann Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die gehörten gleichzeitig dem Neuen Forum an. Wir meinten, das eine ist die Koordinierungs- und Bündnisebene und das andere die Partei. Damit nahmen wir das Selbstverständnis dieser Gruppen ernst, die ja bewußt keine Parteien sein wollten, keine klaren programmatischen Vorstellungen hatten und sich mehr als Sammelbewegung gegen die Diktatur verstanden. In der Ablehnung dieses Systems waren wir uns weitgehend einig, deshalb wollten wir zusammenarbeiten. In der positiven demokratischen Zielsetzung gab es große Diskrepanzen, schon beim Ziel der repräsentativen Demokratie. Da mußten wir den eigenen Weg gehen und dafür die Partei aufbauen.

Am 18. September trafen sich verschiedene Oppositionelle in Pankow im Haus bzw. Garten des dortigen Superintendenten. Eigentlich sollte an diesem Tage eine Delegation der SPD-Bundestagsfraktion zu uns kommen. Da saßen wir nun zusammen, Leute, die sich zum großen Teil ja seit Jahren kannten, wir bereiteten die Parteigründung der SDP vor, andere hatten das Neue Forum mitinitiiert oder planten die Gründung des Demokratischen Aufbruch.

An diesem Abend machten wir den Vorschlag, das Datum der Gründung des Demokratischen Aufbruch für die Gründung einer gemeinsamen Versammlung demokratischer Initiative als Bündnisstruktur zu nutzen. Da könnte jeder seine Identität behalten, und man schüfe ein Bündnis. Das ist dann aus verschiedenen Gründen nicht gelungen. Wir als SDP-Initiatoren wollten trotzdem den Demokratischen Aufbruch mitgründen. Daraus wurde nichts, weil der DA, der erst nur eine Sammelbewegung sein wollte, Ende Oktober beschloß, eine Partei zu werden. Ich habe ihnen später bei dem Gründungsparteitag im Dezember gesagt: Wenn Ihr eine Partei werden wollt, mit dem vorliegenden Programm, das im wesentlichen Edelbert Richter mit sozialdemokratischem Charakter entworfen hatte, dann beschließt heute noch beim Gründungsparteitag einen Ausschuß, der mit uns Vereinigungsverhandlungen aufnimmt. Denn dann seid ihr eine sozialdemokratische Partei. Wenn nicht - und inzwischen waren Herr Schnur und Herr Eppelmann beim Kanzler gewesen, und es gab einen deutlichen Rechtsruck innerhalb dieser Gruppierung -, gründet ihr eben eine rechte Partei. Doch dann habt ihr das vorliegende Programm nicht mehr lange. Klar ist: Auch eine rechte neue Partei ist legitim.

In vielen Orten der damals noch bestehenden DDR hat die Sozialdemokratische Partei gemeinsam mit dem Neuen Forum und den Kirchen zu Demonstrationen aufgerufen. Ich denke, hier ist es nicht sinnvoll zu versuchen, sich gegenseitig die Butter vom Brot nehmen zu wollen oder irgendwelche Erstansprüche zu stellen. An vielen Stellen hat eine sehr intensive gemeinsame Arbeit stattgefunden, je nach Gegebenheit und Personen gab es unterschiedliche Akzente.

Die Frage von Parteien oder sozialen Bewegungen hat dann im Streit am Runden Tisch eine große Rolle gespielt. Es war die Frage: Wie soll die deutsche Verfassung der DDR aussehen? Es war die Frage: Wer soll am Runden Tisch sitzen? Es galt zu entscheiden: Wer soll künftig in einem Parlament der DDR sitzen dürfen, und was sind die strukturellen Voraussetzungen? Das war eine Grundfrage der Demokratie. Und hier traten wir ganz vehement dafür ein, daß im Parlament nur Parteien sitzen sollten. Doppelmitgliedschaft sollte ausgeschlossen sein. Was das bedeutete, hatten wir ja in der Volkskammer vor Augen. Wir sahen in Parteien und sozialen Bewegungen wichtige gesellschaftliche Funktionsträger, doch eben mit verschiedenen Funktionen.

In § 10 unseres Statutes hieß es:

"Der Einsatz für unabhängige demokratische Gewerkschaften, Vereine und andere Organisationen (für Ausländer, Behinderte, Frauen, Jugend, Kinderschutz, Rentner, Umwelt u. a.) sowie deren Rechte ist der SDP ein grundlegendes Anliegen."

Ich denke, heute ist klar: Es gibt keine Alternative zur Parteiendemokratie. Ihre schweren Schäden angesichts eines gegenwärtigen Politikstils sind oft nicht zu übersehen. Weizsäckers Kritik ist, wie ich denke, in vielen Punkten berechtigt. Leider hat er vergessen, die besondere Situation von Parteien im Osten Deutschlands zu berücksichtigen. Ich denke, daß Parteien durchaus ein unverzichtbares Instrument sind, an der Gestaltung von Wirklichkeit teilzuhaben, und dafür sollten wir werben.

Gleichzeitig brauchen wir soziale Bewegungen, Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern zur Wahrnehmung der eigenen Verantwortung und Zuständigkeit. Parteien brauchen ständige Korrektur und Attacken selbstbewußter Minderheiten, gerade angesichts der Zukunftsprobleme. Eine wichtige Politikerfahrung ist: Weniger ist besser als nichts. Viele bei uns denken noch: Wenn ich nicht alles kriegen kann, beteilige ich mich lieber überhaupt nicht. Ich denke, es muß gelernt werden, gerade auch unter Bürgerbewegten, daß es darum geht, Mehrheiten zu finden, um etwas zu ändern. Denn nur das ist demokratisch. Sonst fallen wir wieder zurück in die Grundhaltung und Strukturen derer, die wissen, was für alle gut ist, und die glauben, es auch gegen Mehrheiten tun zu können. Das hatten wir aber lange genug.

Ich denke, heute muß man nicht nach Alternativen in der Frage dieser Grundstruktur suchen, sondern in dem Ausfüllen dessen, was verfassungsmäßig möglich ist. Beide Parteien im Osten, Bündnis 90 (sie ist ja auch eine Partei) und die SPD, brauchen die Zusammenarbeit angesichts unserer Probleme, und beide brauchen Initiativen in der Gesellschaft, die sich für die Interessen der Menschen hier einsetzen und uns sozusagen gemeinsam den Hintern heiß machen.

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Marianne Birthler

Konsequenzen aus den Erfahrungen der

Oppositionszeit: Partei oder soziale Bewegung?

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich möchte mich ganz zu Beginn für diese Einladung bedanken. Ich bin eben erst inne geworden, daß ich in der Liste der Referenten die erste Rednerin bin, die nicht Mitglied der SPD ist. Dies ist für mich doppelter Anlaß, denen, die in der SPD aus dem Osten sind, zu diesem doch wichtigen Jubiläum, das vielleicht nicht ihr gemeinsames ist, aber jedoch ein sehr wichtiges, alle guten Wünsche auszusprechen. Das ist nicht ganz uneigennützig, denn natürlich hat auch das "Bündnis 90" ein großes Interesse, daß es der SPD gut geht.

Als Sie einige Anmerkungen zu meiner Biographie machten, ich will Ihnen natürlich keine bösen Absichten unterstellen, haben Sie meine zehn Jahre Hausfrauentätigkeit vergessen. Ich sage das absichtlich, diese waren für mich mindestens dreimal so wichtig wie die Zeit in der Außenwirtschaft.

Natürlich denkt jemand, der oder die wie ich in Berlin vor drei Jahren ziemlich engagiert war, besonders in diesen Tagen häufig zurück an diese Zeit. Auf das, was gestern Abend vor drei Jahren passiert ist, ist Markus Meckel schon eingegangen. Er hat Recht gehabt, als er gesagt hat, Marianne kommt noch drauf zu sprechen. Gestern nämlich vor drei Jahren haben Vertreter der unterschiedlichen Oppositionsgruppen in der Erlösergemeinde ihr Wahlbündnis vorgestellt. Noch wichtiger allerdings, sie haben dort das erste Mal öffentlich und abgestimmt freie und geheime Wahlen gefordert. Das war die Hauptbotschaft. Wir hatten einige Tage zuvor in einem Hinterzimmer in Friedrichshain auch noch ein Wahlbündnis geschmiedet.

Denke ich an den Herbst 1989, habe ich ein bißchen den Eindruck: Man merkt es uns noch immer an, daß wir aus einem Stall kommen. Ich merke das in meiner täglichen Politik, und sicherlich ist das für Betrachter von außen auch nicht unauffällig, daß Leute aus der SPD (Ost) und aus dem "Bündnis 90" zum Teil noch aus alten Zeiten ein ausgesprochen gutes Vertrauensverhältnis zueinander haben. Kein Wunder nach dem, was wir miteinander erlebt haben.

Ebenso auffällig ist es, daß sowohl in der SPD (Ost) als auch im "Bündnis 90" ein ausgesprochen breites politisches Spektrum zu finden ist. Vielleicht widersprechen Sie mir, aber dies ist meine Beobachtung. Ich mache dafür schlicht die Tatsache verantwortlich, daß seinerzeit - als sich die CDU noch nicht gewendet hatte und die Liberalen noch nicht in ihrem neuen Gesicht erkennbar waren - für ein ganz breites Spektrum von Personen, die etwas Solides, eine Partei, wollten, die SPD die einzige neue Alternative war. Von daher mögen sich in der SPD (Ost) auch Leute eingefunden haben, die unter den sogenannten Normalbedingungen möglicherweise eine andere Partei gewählt hätten. Das sage ich mit aller Vorsicht, Sie können mir ja widersprechen.

Ganz ähnlich ist es im "Bündnis 90". Das "Bündnis 90" ist ja, wie Sie wissen, Ergebnis eines Zusammenschlusses von verschiedenen Bürgerbewegungen. Der zahlenmäßig größte Brocken war das "Neue Forum", allerdings weniger inhaltlich, wie ich meine. Denn "Demokratie jetzt" und "Initiative Frieden und Menschenrechte" waren Gruppen, die schon zuvor sehr stringent an inhaltlichen Positionen gearbeitet hatten. Da gab es bestimmte Positionen, da gab es einen Konsens, während sich das "Neue Forum" von vornherein als eine sehr breite Sammelbewegung verstand, weniger Positionen geäußert hat, sehr viel stärker Artikulationsmöglichkeiten schaffen wollte. Das ist ein ebenso legitimer Ansatz, der dann aber später auch noch wirksam war.

Ich bin sehr zurückhaltend mit dem Begriff Bürgerbewegung, obwohl ich immer noch zu diesem Selbstanspruch stehe. Aber besonders in der letzten Zeit fällt es mir häufig sehr schwer, von mir selber zu sagen, ich vertrete alle diese Bürger. Die sind mir in manchem, was sie äußern, außerordentlich fremd.

Ich glaube, daß für uns auch von großer Bedeutung ist, daß wir manche Positionen, die wir jetzt bitter nötig haben in der Umsetzung von Politik auf der kommunalen Ebene, auf der Landes- oder auch auf der Bundesebene, daß manche Positionen überhaupt nie vorher geklärt oder ausdiskutiert wurden. Ich will ein vergleichsweise unbedeutendes Beispiel nennen: Verkehrspolitik. Wer im "Bündnis 90" um alles in der Welt hat sich zu DDR-Zeiten um Verkehrspolitik gekümmert? Um nur ein Beispiel zu nennen. Wir hatten auch keine große Partei, mit der wir uns vereinigt haben und in deren Hülle wir schlüpften, um dann zu prüfen, ob wir diese oder jene Positionen für uns übernehmen, ob wir sie uns aneignen sollten oder nicht. Dieses ist auch jetzt noch heute zu merken, daß sehr vieles, was uns jetzt herausfordert, noch nicht in großer Breite ausdiskutiert ist, so daß man eigentlich bei vielen einzelnen Themen noch nicht von einem Grundkonsens sprechen kann. Das ist, wie Sie sich leicht denken können, sowohl Gefahr als auch eine große Chance. Klare, feststehende umfängliche Programme geben natürlich teilweise notwendige Orientierung, können aber auch ein sehr einengendes Korsett sein. Nicht von mir stammt der Ausdruck Tanker-SPD, der halt immer sehr große Kurven für eine Wende braucht.

Ja, ich muß deutlich sagen, daß ich, wenn ich mich bemühe, Unterschiede zwischen einerseits SPD und andererseits "Bündnis 90" herauszuarbeiten, immer wieder bei ganz ambivalenten Einschätzungen ankomme. Alles, was ich an Unterschied feststelle, ist zugleich Chance und auch Gefahr. Ich bin hier weit davon entfernt, Ihnen, zumal das völlig sinnlos wäre, erzählen zu wollen, daß wir nun den besseren politischen Weg gewählt hätten. Ich hänge sowieso sehr viel mehr einer Politiklandschaft an, die eher einem Mischwald gleicht als diesen Kiefernwäldern hier rund um Berlin - alle im gleichen Jahr gepflanzt und wahrscheinlich auch im gleichen Jahre tot. Fast im gleichen Jahr.

Wenn Sie dem Gedanken folgen, daß wir uns in diesem Sinne auch gegenseitig bereichern können, glaube ich, sollten wir auch sehr viel gelassener über die je eigenen Chancen und Schwierigkeiten unserer inhaltlichen Positionen, unserer Strukturen oder auch unserer formaljuristischen Verfassung sprechen.

Natürlich, formaljuristisch ist das "Bündnis 90" eine Partei. Es wäre naiv, dies abstreiten zu wollen. Wir haben uns seinerzeit auch nicht ohne herbe innere Auseinandersetzungen dazu entschlossen, denn wir wollten parlamentarische Verantwortung übernehmen. Zu der inhaltlichen Indifferenz, auf manche Themen bezogen, habe ich mich schon geäußert. Vielleicht ist das, was wir im Moment gerade tun, also die Verhandlungen mit der Partei "Die Grünen", eine gute Gelegenheit, hier die einen oder anderen weißen Flecke auszufüllen.

Strukturell hält das "Bündnis 90" daran fest, eine Bürgerbewegung zu sein. Ich glaube aber, daß die Trennungslinie zwischen Parteien und Bürgerbewegungen eine fließende ist. Ebensowenig wie die Selbstbezeichnung Bürgerbewegung uns davor schützen kann, daß sich verfestigende Strukturen bilden, daß ein starrer Apparat sich allmählich herausbildet, schließe ich es aus, daß auch eine Partei basisorientiert arbeiten kann. In diesen beiden Begriffen sind dann auch vielleicht eher Ansprüche als strukturelle Beschreibungen zu finden.

Etwas, was uns ganz zweifellos unterscheidet, ist ein Mengenproblem. Vorhin hat Markus Meckel gesagt, es geht darum, Mehrheiten zu gewinnen. Das ist wohl wahr, nur meine ich, daß der Weg oder der Versuch, eine große Mehrheit zu bilden, so nützlich er ist, auch die große Gefahr in sich birgt, daß Minderheitenmeinungen zu kurz kommen. Und ich denke schon, in diesem Mischwald, von dem ich vorhin gesprochen habe, muß es auch die klare, ja, unverwässerte Artikulation von Meinungen geben, die nicht oder die gegenwärtig nicht mehrheitsfähig sind. Und ganz wesentliche Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland, auch in Deutschland vor dem Bestehen der Bundesrepublik, sind auch durch Minderheiten befördert oder erzeugt worden. Wenn man, als sie auftauchten, versucht hätte, zu einem Konsens mit soundsoviel Prozent zu gelangen und sie mehrheitsfähig zu machen, wäre das der Tod dieser Ideen gewesen.

Also ist beides nötig, denke ich. Und ich stehe nun mal dazu, daß ich zu einer kleinen Partei, einer Bürgerbewegung, gehöre, der bewußt ist, daß diese Themen, die sie vor allen Dingen vertritt, derzeit keine Mehrheiten in Deutschland finden. Ich denke, dies muß auch möglich sein. Dafür wird das eine oder andere Thema sicherlich sehr viel ursprünglicher und klarer formuliert als in einer großen Partei.

Ich habe jetzt über einiges Trennende gesprochen. Ich denke, daß es auch um Gemeinsamkeiten geht. Von der Tradition, in die sich sowohl die SPD im Osten wie auch das "Bündnis 90" gestellt haben, war schon die Rede. Das verbindet. Ich denke auch, daß eine Nähe von Politik zu beobachten ist. Man kann das ganz praktisch belegen. Wenn ich mal aus der "Ampel" in Brandenburg erzählen darf: Positionsvorbehalte bei bestimmten Schwerpunktentscheidungen, wo es also wirklich darum ging, welche Haltung die Regierung hat (und wir haben ja in Brandenburg diese Spielregel, wenn wir uns nicht einig sind, dann gibt es im Bundesrat eine Enthaltung), gab es in nur ganz, ganz wenigen Fällen von seiten des "Bündnis 90", in sehr viel mehr Fällen von seiten der FDP.

Ich will das jetzt gar nicht bewerten. Ich will damit nur signalisieren, daß dies ein Indiz dafür ist, daß es doch sehr viel mehr inhaltliche Übereinstimmungen, jedenfalls bei uns in Brandenburg, gibt als zwischen den anderen Koalitionspartnern. Uns gemein ist auch, daß wir Mitgliedersorgen haben. Ich spreche jetzt vom Ostteil. Ich mache dafür auch verantwortlich, daß just in der Zeit, als wir uns gründeten und wachsen wollten, die Bereitschaft, sich zu organisieren, in der Bevölkerung drastisch zurückging. Und wir konnten halt nicht, wie die anderen Parteien in Brandenburg oder im Osten, auf einen mehr oder weniger großen Mitgliederstamm zurückgreifen. Das hatte ja auch große Vorteile.

So muß man sehen, daß das Verhältnis zwischen Aktiven und Mitgliedern beim "Bündnis 90" - bei der SPD unterstelle ich das jetzt - ein sehr viel günstigeres ist als im Westen. Also von den Mitgliedern ist ein sehr viel höherer Anteil aktiv auf der Parteiebene oder in Vertretungen aller möglichen Ebenen, als dies im Westen der Fall ist.

Ich möchte dieses kurze Eingangsstatement damit abschließen, daß ich doch feststellen muß, daß eine ganze Reihe von Herausforderungen, die vor uns stehen, uns dringend dazu bewegen sollten, vielleicht auch das, was zwischen uns steht, zu überspringen. Ich bin also immer noch bei meinem Mischwald-Modell, vielleicht aus einem gewissen Harmoniebedürfnis heraus, das uns Ostlern ja immer unterstellt wird und mich nicht kränkt, vielleicht auch, weil meine weibliche Sozialisation so mit Konflikten ihre Schwierigkeiten hat. Aber lassen Sie uns auch in der Betonung dessen, was uns trennt, gemeinsam nach Wegen suchen, wie man diesen Herausforderungen, denen wir jetzt gegenüberstehen, etwas entgegensetzen kann. Ansätze dafür gibt es. Ich denke an die Gewalt unter uns, ich denke an die ökologischen Herausforderungen und manches andere. Hier habe ich wichtige Gesprächspartnerinnen und Partner in der SPD, ebenso wie im "Bündnis 90". Und ich wünsche mir sehr, lassen Sie mich doch mit dieser kleinen oder größeren Provokation schließen, daß uns nicht ein ganz zentrales Thema trennt, wofür es gegenwärtig Anzeichen gibt. Ich wünsche mir, daß die Partei SPD, zu der ich eine gewisse Nähe habe, nicht, wenn es darum geht, Gewalt gegen Ausländer zu diskutieren, die Ausländer und ihren Status bei uns zum Problem macht und weniger die Gewalt. Noch konnte mir kein Mitglied der SPD glaubhaft vermitteln, warum es wichtig ist, etwas an diesen vier Worten zu ändern: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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