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Motivationen der Gründergeneration



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Harald Seidel

Motivationen der Gründergeneration der SDP

Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren!

Alles Lebendige sucht nach einer besseren Welt. Menschen, Tiere, Pflanzen, sogar Einzeller sind immer aktiv. Jeder Organismus ist ständig damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Und die Probleme entstehen aus Bewertungen eines Zustandes und seiner Umwelt, die er zu verbessern sucht. Der Lösungsversuch stellt sich oft als irrig heraus, mitunter führt er zu einer Verschlechterung. Es folgen weitere Lösungsversuche, weitere Probierbewegungen.

Gestatten Sie mir, diese Gedanken Karl Poppers meinen Ausführungen voranzustellen. Hier ist abstrakt vorweggenommen, was letztlich auch in großen gesellschaftlichen Zusammenhängen, und damit für den Einzelnen, in dem Fall für mich bis zur Gründung der SDP in Schwante, ja bis heute, eine Rolle spielte.

Von der Bürgerbewegung zur Partei. Motivationen der Gründergeneration - so lautet das Thema, in das ich mich heute mit Steffen Reiche hineinteile.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde - das Wort Genosse hatten wir ja aus gutem Grund vorläufig verbannt -, ich will in der Folge meine Gedanken in einige lockere Abschnitte gliedern. Die Teile werden dann mehr oder weniger biographisch und somit sehr subjektiv abzuhandeln sein.

Zunächst will ich versuchen, in wenigen Worten einiges zu meiner persönlichen Entwicklung zu sagen. Prägende Schwerpunkte meines Lebens sollen dabei besondere Erwähnung finden.

Insbesondere meine Mitwirkung als Bassist und die Freundschaften in der Jazz-Formation "media nox", die Beschäftigung in der Freizeit mit Literatur, Musik, Naturwissenschaft und Philosophie, die Teilnahme an Veranstaltungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in den letzten zehn Jahren in Halle und, bei aller heute bekannten Zwielichtigkeit dieses Menschen, die Bekanntschaft und kulturelle Zusammenarbeit mit Ibrahim Böhme in den 60er und 70er Jahren - genau genommen, eine keineswegs inhaltsarme Entwicklung vor dem Hintergrund des totalitären Staates DDR.

Heute sehe ich die gesamte Nachkriegsgeschichte, auch Ostdeutschlands, in der pervertierten Realität einer gescheiterten Hoffnung, der Hoffnung auf Marx, einen reformfähigen Marx, eine reformfähige Realität im Osten, auf die 68er linke Bewegung der Jugend und Studenten im Westen, auf Alexander Dubcek und den tschechischen Reformkommunismus und später, in den Mitt-80er Jahren, auf Gorbatschow, auf Glasnost und Perestroika.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle, zum besseren Verständnis des eben Gesagten, eine kurze Replik auf Marx in den Worten Carl Friedrich von Weizsäckers. So führte z. B. die bürgerliche Revolution zur politischen Machtergreifung einer Klasse, die wirtschaftlich schon einen großen Teil der Macht in der Hand hatte; Marx nannte sie die Kapitalisten. Ihnen stand dienend, ausgebeutet, die Klasse gegenüber, die er das Proletariat nannte. Marx bekam in der Arbeiterbewegung dadurch eine geistig führende Rolle, daß er nicht wie die utopischen Sozialisten diesen Zustand einfach moralisch verdammte. Er unternahm eine rationale Analyse der Ursachen und Folgen. In jeder Geschichtsepoche hat nach Marx diejenige Klasse die Führung, deren reales Partikularinteresse mit dem in dieser Epoche realisierbaren Gesamtinteresse vereinbar ist.

Adam Smith meinte: Der freie, transparente, von keinem einzelnen beherrschte Markt erzeugt ein Maximum an Gütern, weil er den Egoismus und damit den Fleiß und die Intelligenz von Millionen motiviert. Das ist die simple Wahrheit, die sich 1989 gegen ein bürokratisches, absolutistisches System durchgesetzt hat, ein System, dem es nicht geholfen hat, daß es sich für sozialistisch hielt.

Der Markt leistet nach Marx die optimale Produktion von Gütern, nicht aber ihre gerechte Verteilung. Diese Tatsache ist auch nach sozialdemokratischem Verständnis unbestreitbar. Sie war es 1845 in England, sie ist es heute im Süden der Erde. Das Elend der Welt schreit nach Gerechtigkeit. Marx sah in der klassenlosen Gesellschaft die Zukunft. Der Weg dazu war nach seiner Auffassung die proletarische Revolution. Diese Zukunftserwartung hat sich nicht erfüllt. Niemals hat es je eine proletarische Revolution gegeben. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war ein Staatsstreich Intellektueller. Niemals hat eine Revolution eine klassenlose Gesellschaft geschaffen. Sie führte zur Klassenherrschaft von Funktionären.

So hochmotiviert und so scharfsinnig die Analyse von Marx war, seine Prognose hat sich als falsch erwiesen, sie wurde endgültig durch die Geschichte in den Jahren 1988, 1989 und 1990 falsifiziert. Dies zu verstehen, ist lebenswichtig angesichts des Elends, des heutigen Rechtsextremismus, der Bürgerkriege im Osten und der menschlichen Tragödie im Süden.

Verehrte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde, ich selbst erblickte, wie man so schön sagt, im Jahre 1945 das Licht der Welt, in dem Jahre, in dem die europäische Nachkriegsordnung nach und nach feste Konturen annahm. Das Schicksal wollte es, daß ich im östlichen Teil Deutschlands geboren wurde und aufwuchs.

Ich besuchte die 10-Klassen-Schule, vereinigte in allgemeiner Angepaßtheit Jugendweihe und Konfirmation, erlernte den Maschinenbauerberuf und arbeitete dann - genau genommen bis zur Wahl in den Thüringer Landtag - als Reparaturschlosser in einem Greizer Metallbetrieb. Das hört sich, mit Verlaub, recht trocken und bieder an. Der äußere Rahmen so vieler 08/15-Biographien in der DDR.

Wichtiger und bedeutsamer sind dann schon die Interessen und inneren Beweggründe von Menschen. Ich hoffe, auch bei mir. In den 60er Jahren, der Zeit der Rolling Stones und Beatles, gründeten wir in Greiz eine Rock- und Bluesband, die später daraus hervorgehende Jazz-Formation "media nox". Meine Wünsche, Träume und Interessen waren vorwiegend künstlerischer und musikalischer Natur.

Naives Politisieren, Philosophieren und Ästhetisieren hatten im Freundeskreis einen hohen Stellenwert. Unsere Musik - damals Rock und Blues - veranlaßte die Greizer Polit- und Kulturpäpste, unsere Gruppe mehrmals zu verbieten. Ohne den Staat DDR in seinen Grundfesten angreifen zu wollen, kamen wir auf diese Weise einige Male mit der herrschenden Doktrin in Konflikt.

Politisch schauten wir voller Hoffnungen auf die reformkommunistischen Bewegungen in der CSSR. Wir versprachen uns, jung wie wir waren, aus dieser Bewegung mehr ästhetisch-geistige und künstlerische Freiräume, aber auch mehr Demokratie, ohne das politische System der DDR in seiner Gänze in Frage stellen zu wollen. In diese Zeit fällt die beginnende Freundschaft mit Manfred Ibrahim Böhme.

Der erste, von mir bewußt erlebte politische Tiefschlag war der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR. Als Bruderhilfe bezeichneten die Oberen hierzulande den Gewaltakt und versuchten in Greiz die sogenannten Kulturschaffenden zu bewegen, Erklärungen zu unterschreiben, die die Niederwalzung des Prager Frühlings als große Freundestat bejubeln sollten. Wir, die Freunde der Rock- und Blues-Gruppe, solidarisierten uns öffentlich mit den Prager Reformern. Es kam zu ersten politischen Verhören bei der Stasi und den Kulturfunktionären in Greiz. In dieser Zeit spielte die Bekanntschaft mit Ibrahim Böhme eine eminente Rolle. Es gab gemeinsame Auftritte und literarisch-musikalische Veranstaltungen. Sein Einfluß veranlaßte uns maßgeblich zur Solidarität mit den politischen Idealen des Prager Frühlings.

Obwohl die Ideale Dubceks brutal niedergeschlagen wurden, wandte sich mein Denken in der Folgezeit reformmarxistischem Gedankengut zu. Namen wie Bloch, Havemann, Fromm, Herbert Marcuse, die kritische linke Frankfurter Schule, später der Existentialmarxismus Sartres spielten für mich eine große Rolle. Ausgerüstet mit den Hoffnungen des Prager Frühlings, den Gedankenmodellen Sartres und den Einflüssen Manfred Böhmes, wurde ich 1973 Mitglied der SED. Historisch fällt dies in die Zeit der Weltfestspiele in Ost-Berlin, des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker und des Militärputschs in Chile.

Bei aller Naivität war ich erfüllt von der Hoffnung auf Öffnung, auf mehr geistige und politische Freiräume. Spuren einer Erneuerung waren ja durchaus unverkennbar. Ich denke an Kunzes Reclamveröffentlichung "Brief mit blauem Siegel" (Leipzig 1973) sowie an eine ganze Reihe jüngerer oder bisher kaum veröffentlichter sowjetischer Autoren, heute fast vergessen, damals eine Offenbarung, ein erstes Wetterleuchten von Glasnost und Perestroika in den 70er Jahren.

Es ist die Zeit der Liberalisierung, die keine war, weil man, wie Jürgen Fuchs schreiben wird, alles kurz aufblühen läßt, um es dann um so besser zertreten zu können. 1974 wird Alexander Solschenizyn gewaltsam aus der Sowjetunion abgeschoben. Die Hardliner mit und um Honecker erhalten grünes Licht und starten den Generalangriff gegen kritische Intellektuelle. Symbolfiguren wie Reiner Kunze, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs werden von der politischen Führung Ostdeutschlands als erste aufs Korn genommen, werden ausgebürgert, eingesperrt, abgeschoben. 1977 werde ich aufgrund meiner öffentlichen Solidarisierung mit den kritischen Intellektuellen aus der SED ausgeschlossen - für mich eine Zäsur und der beginnende Prozeß des Endes meines Glaubens an die Reformfähigkeit kommunistischer Staaten.

Böhme spielte schon damals, was Akteneinsicht zutage brachte, mit seinen Berichten für die Stasi eine üble Rolle. Die jahrzehntelange Bespitzelung durch das Ministerium für Staatssicherheit führte in der Endphase 1989 zu folgender Zielstellung - wörtliches Aktenzitat: "Voraussetzungen für eine kurzfristige Liquidierung zu einem politisch günstigen Zeitpunkt zu schaffen."

Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, die letzten 15 DDR-Jahre waren für mich ein wichtiger, nicht wegzudenkender Lernprozeß. Es war der Zeitraum intensiver Beschäftigung mit Naturwissenschaft und Evolutionstheorien.

Historisch war dieser Abschnitt gekennzeichnet durch die sozial-liberale Koalition in der alten Bundesrepublik. Der Grundlagenvertrag, der Helsinkiprozeß, "Wandel durch Annäherung" prägten das, bei allen Rückschlägen, deutsch-deutsche Ost-West-Bild.

Der Osten insgesamt wurde auf internationaler Ebene, was Vertragstreue, Wahrheit und Glaubwürdigkeit betrifft, immer mehr durch den von der Sozialdemokratie eingeleiteten Prozeß in die Pflicht genommen. Offenere Kommunikation, meist auf die evangelische Kirche beschränkt, wurde trotz vieler Rückschläge zur täglichen Forderung.

Der Helsinki-Prozeß, ganz besonders die späteren Auswirkungen der Solidarnosc-Bewegung in Polen, zeigte größere Wirkung.

Die Auswirkungen der Überrüstung in Ost und West, NATO-Doppel-Beschluß, die sogenannte Null-Lösung, die Installierung von Cruise-Missiles, Pershings, neue SS 20- und SS 24-Raketen in Europa, führten zu einer massiven Friedensbewegung in Ostdeutschland, den Keimzellen der späteren Bürgerbewegungen.

Ende der 70er, vor allem aber in den 80er Jahren, kam es zu einer vermehrten Zunahme an Aussiedlern (im westlichen Sprachgebrauch Übersiedlern). Familienangehörige, Freunde und Bekannte verließen in immer größerem Umfange die DDR, und das oft unter großen Schikanen der Behörden. Es war die Zeit der Amtsübernahme durch Gorbatschow, die Zeit erstmaliger konkreter Ergebnisse auf dem Gebiet der Abrüstung zwischen den Supermächten, die Zeit der Annäherung der Supermächte, der Beginn von Glasnost und Perestroika.

Nach und nach verschwanden deutschsprachige sowjetische Broschüren und Zeitschriften von der Bildfläche. Selbstkritische sowjetische Filme wurden nicht mehr gezeigt. Erinnert sei an das Verbot des "Sputnik". Das politische Engagement wurde mutiger. Kirchentage, Friedensdekaden und Diskussionsrunden wurden zum öffentlichen politischen Forum. Die Bürgerbewegungen etablierten sich und gewannen an Boden.

Im September 1989 kam es zur Gründung der Bürgerbewegung "Neues Forum" in Greiz und zu den ersten großen freien Demos seit 1953 in der DDR.

Meine Damen und Herren, Motivationen der Gründergeneration - von der Bürgerbewegung zur Partei - so lautet mein Thema. Meine Mitgliedschaft im Neuen Forum führte in logischer Folge in die SDP. Hier schließt sich für mich und mein in den letzten 20 Jahren geformtes Weltbild der Kreis. Eine Anschauungsweise in groben Umrissen, gewachsen aus reformkommunistischen Vorstellungen, den Beweggründen der Grünen in den 70er Jahren, der Ökologie und Friedensbewegung im Osten und fundamentaler sozialdemokratischer Tradition. Im Unterschied zu den Bürgerbewegungen hat sich die SDP sofort bei ihrer Gründung auf eine lange Tradition berufen.

Der programmatische Vortrag von Markus Meckel in Schwante ist, auch wenn manche Gedanken und Vorstellungen durch die Geschichte eingeholt wurden, aus heutiger Sicht ein kostbares historisches Zeitdokument der deutschen Sozialdemokratie.

Die moderne Gesellschaft ist alles in allem zu kompliziert, als daß eine herrschende Elite beanspruchen könnte, sie adäquat zu durchschauen, also im Besitz der Wahrheit zu sein. In der Wissenschaft bewährt sich die Wahrheit erst in der Debatte. In der Politik ist es nicht anders. Eine Regierung, die Angst vor der öffentlichen Meinung ihrer Bevölkerung hat, weiß, warum. Das gilt in der Endkonsequenz für alle Staatswesen, ob Diktaturen oder Demokratien. Das gilt selbst, wenn in der Demokratie eine Regierung die Wahl verliert, gerade weil sie etwas Vernünftiges getan hat. Ich denke dabei wieder an die eingangs genannten Popperschen Probierbewegungen und Lösungsversuche. Mehrheit beweist so wenig die Wahrheit einer Ansicht, wie Herrschaft sie beweist.

In unserem Jahrhundert war die Sozialdemokratie die realpolitisch progressive Partei. Ihr Sieg ist heute ihr Problem, denn alle demokratischen Parteien übernahmen Teile ihrer programmatischen Grundinhalte.

Ihre erreichten Ziele werden nun bewahrungswürdig und tragen somit im weitesten Sinne konservierenden Charakter. Es sind Werte, die in der Polarität des Ost-West-Verhältnisses in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft erkämpft wurden und zum Tragen kamen. Diese Polarität ist verschwunden. Die gesamte Welt, auch die westlichen modernen Industriestaaten, befindet sich zur Zeit wirtschaftlich und politisch in einer höchst labilen, instabilen Phase. Zeichen von Rückfall in frühkapitalistische Verhältnisse finden wir im Osten. Im Westen finden wir auf vielen Ebenen Zeichen von Sozialabbau.

Verehrte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde, am 7. Oktober 1989 nahm mein politisches Leben konkrete Formen an: Gründungsmitglied der SDP in Schwante, Wahlkommission, Kontaktadresse für den Raum Gera-Greiz, Gründung des SDP-Kreisverbandes am 24.11.1989, Vorsitzender, 1990 Mitglied des Thüringer Landtages - ein keineswegs einfacher Weg.

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Steffen Reiche

Motivationen der Gründergeneration

Liebe Genossinen und Genossen!

Und für die, die noch einmal drei Jahre brauchen:

Liebe Freundinnen und Freunde!

Und für die, die noch ante portas stehen:

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich soll drei Jahre danach, nach jenem Aufbruch von Schwante, über die Motivationen der Gründergeneration reden und stehe dabei in der Gefahr, vaticina ex eventu, Weissagungen aus der Erfüllung, zu produzieren. Jeder möge also sehr kritisch seine eigenen Erinnerungen danach befragen, ob ich recht habe oder ob ich Klischees, die in drei Jahren selbstverständlich gewachsen sind, bediene.

Was sich da innerhalb weniger Monate, vom Spätsommer bis zum Herbst 1989, entwickelt hat, verdient den Namen Gründergeneration. Sie haben miteinander den Anfang gestaltet und haben so viel erlebt, wie man sonst nur in dem Ablauf einer Generation erleben kann. Das, was schon bald, ich glaube zu Recht, als "Schwantemythos" abgelehnt wurde, gab es ja dann, nicht ganz so ausgeprägt und mit verschiedenen Namen, auch für jeden Bezirk, jeden Kreis, jeden Ortsverein. Es war die schöne Erinnerung, am Anfang mit dabeigewesen zu sein - Quelle für hohe Motivation, aber oft auch große Ansprüche. Dies hat eine Generation aus den vielen verschiedenen Menschen geformt - sie verbindet miteinander der Anfang.

Und es gibt auch so etwas wie ein tragendes Leitmotiv, das bei den Kundgebungen dieser Zeit immer wieder beschworen worden ist. Dies war der Wunsch, Veränderungen mit herbeizuführen, mit dazu beizutragen, ein System zu überwinden, das nicht nur uneffektiv und überlebt war, wie die greisen Politgerontokraten, sondern sich auch in das Leben jedes einzelnen hineingefressen hatte wie ein Krebs.

Es war auch der Wunsch, selber in die Tat mit umzusetzen, was man immer mehr leise als laut gefordert hatte und was einem mehr laut als leise verwehrt worden war.

Ja, es gab am Anfang so etwas wie eine sozialdemokratische Grundstimmung, unendlich viel schwächer als der lebenslänglich trainierte Opportunismus, dem Stärkeren seinen Tribut zu zollen. Die Zustimmung zur SPD ergab sich aus der Zustimmung zu Brandt, Schmidt, Vogel, zu Bahr, Eppler und Schmude und viele andere und dem Gefühl, daß durch sie für uns mehr erreicht worden ist als durch das Kohlsche Deutschlandgetöse. Doch unter diesen zwei Obersätzen ist viel mehr zu differenzieren: Im Grunde sind es da viele Generationen, die innerhalb weniger Monate gezeugt wurden. Und ebenso unterschiedlich sind dann auch die Motivationen, die den Entschluß bei jedem zu seiner Zeit ermöglicht haben.

Die sozusagen erste Generation - oder soll man besser Station sagen - war die Gethsemanekirche im August 1989: Gutzeit, Meckel, Noack und Böhme. Ehe ich versuche, die Motivation deutlicher zu machen, eine winzige Anmerkung: Es gab den Gedanken so ähnlich auch bei anderen. Eppelmann hatte ihn eineinhalb oder zwei Jahre zuvor gehabt, Karl-August Kamilli und andere haben mir Entsprechendes erzählt, und ich konnte das Vertrauen von Martin Gutzeit so schnell nur deshalb erwecken, weil ich ihm ein Konzept zuschickte, in dem Ähnliches entwickelt wurde. Uns anderen gebrach es vor allem an Freunden, mit denen dieser Gedanke in die Tat umgesetzt werden konnte.

Die Vier hatten sich gefunden und konnten, was sie miteinander entwickelt hatten und was auch sozusagen schon ein Stück weit in der Luft lag, in die Tat umsetzen. Eines der wichtigsten Motive war, daß man nicht mehr nur philosophisch daherreden durfte, sondern aus Verantwortung heraus auch handeln mußte. Der Philosoph Gutzeit, der seinen Hegel bestens kannte, hätte noch bis heute nur gelesen und geredet, der Pfarrer, der Theologe Gutzeit, der in einer Verantwortung für das stand, was er erkannt hatte, mußte umsetzen, was er für richtig hielt. Wer sich den Aufruf und das spätere Programm vom Sommer 1989 genau anguckt - diese Partei hätte vielleicht auch andere Namen tragen können.

Vor allem aber mußte es eine Partei sein. Denn nach all der jahrelangen Bürgerbewegung, der außerparlamentarischen Opposition ohne parlamentarische Gruppe, mußte dringend eine Partei geschaffen werden, die deren Forderungen langfristig auch parlamentarisch durchsetzen konnte. Die Sozialdemokratische Partei war gewählt worden, um dieses waghalsige Unterfangen abzusichern. Es war sozusagen der Panzer, an dem sich der Drachen die Raffzähne seiner Köpfe Partei, Staat und Stasi abbrechen mußte.

Die zweite Generation oder Station war der Gründungsausschuß, bestehend aus sage und schreibe zehn Pfarrern, Angelika Barbe und Ibrahim Böhme.

Motivation war über die eben Genannten hinaus: Der Zeitpunkt ist da. Es kann nicht mehr gewartet werden. Die Zeiten verschlechtern sich nur. Es mußte Antwort gegeben werden, den Verwandten und Freunden, die sich täglich mit der Frage quälten: Gehe ich oder bleibe ich? Auch ich hatte mir auf einer Reise im Januar geschworen: Entweder es passiert jetzt was, und am besten der Versuch einer Gründung einer neuen Partei, oder ich bleibe beim nächsten Besuch auch im Westen. Nicht nur andere, auch wir selbst brauchten Antwort: Bleiben wir oder gehen wir. Bleiben hieß etwas tun. Schon am Rande der Fürbitt- und und Protestgottesdienste im Januar 1988, nach der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung, hatten ich und viele gedacht: Das kriegen die nicht wieder zur Ruhe.

Und damit sie dies im Herbst 1989 nicht wieder wie im Winter 1988 schafften, mußte die Gründung für den 7. Oktober vorbereitet werden. Wir haben uns damals einige Zeit gestritten, ob nun schon am 7. Oktober gegründet werden soll - die Zeit für die Vorbereitung war eigentlich viel zu kurz - oder ob wir uns mehr Zeit lassen sollten. Bisher hatten wir uns immer als Schwächere, als Unterlegene erlebt. Mit dieser Idee glaubten wir, ein Faustpfand in der Hand zu haben, diesem Staat, dieser Partei mehr weh tun zu können, mehr zu schaden, als sie uns mit ihrer Reaktion hätte schaden können.

Es war die diebische, großartige Freude, die der Schachspieler erlebt, der 10, 15 oder gar 20 Züge vor dem Ende den wesentlichen Zug macht, der den Gegner zur Strecke bringen muß.

Denn wir kritisierten mit der Gründung ja nicht einzelne Politikbereiche jener Zeit, sondern alles seit April 1946. Wir bestritten die Rechtmäßigkeit der Existenz der Sozialistischen Einheitspartei, nicht nur ihrer Politik. Das war der Grund für die kindliche Freude, die wir bei allem Ernst auch in der Verschwörerbande in Gutzeits viel zu kleinem Zimmer in der Borsigstraße 5 erlebten.

Ein kleiner Exkurs zur Motivation von Christen, hier mitzumachen. Das war nicht nur der Überdruß an den vielen Jahren CDU-Politik im Osten, der es uns im Grunde unmöglich machte, einer "christlichen" Partei beizutreten, es war auch nicht der Überdruß an dem, was da im Westen als christliche Politik verkauft und praktiziert wurde, sondern es kam ein theologisches Motiv hinzu. Denn wir meinten, Politik kann und darf nicht christlich verbrämt werden. Politik ist und muß sich auch immer so verstehen, immer nur etwas Vorletztes, etwas Vorläufiges, und kann deshalb nicht vom Letzten her begründet werden.

Dritte Generation oder, wie gesagt, Station: Die 43 Freunde in Schwante, alle über X Ecken miteinander befreundet, verband zusätzlich zu den bisherigen Motivationen der Wunsch, an diesem 7. Oktober ein klares Zeichen zu setzen, diesen Tag, 40 Jahre DDR, sozusagen würdig zu begehen.

Wir wollten über das bisherige Kratzen am allmächtigen Staat hinaus mal auf das Päuklein hauen. Wir alle wollten dabei sein, wenn das erste Mal seit über 40 Jahren eine Partei gegründet wurde. Man mußte nicht nur dabei sein, sondern sich zu jenem Zeitpunkt auch schon genau überlegen und entscheiden, wo man mitmachte. Beim Forum (dem Verein der Schnellschützen) oder bei Demokratie jetzt (der Gruppe der edlen und pragmatischen Diskutanten), beim Demokratischen Aufbruch (sozusagen dem Prominentenclub) oder eben bei der SPD, wie ich glaubte - dem Verein der Scharfschützen.

Es hat schon so etwas wie einen Wettkampf im Untergrund, der die Einigung nicht nur unter einem Dach, sondern in einer Organisation verhinderte, gegeben. Es gab persönliche Eitelkeiten, Animositäten und Verletzungen bei der "Oppositionsschickeria". Wer eine Idee hatte, hielt an ihr fest, weil er bei anderen ja nur zweiter oder gar dritter Sieger gewesen wäre.

Ich will helfen, eine Legende abzutragen. So viel Mut, wie uns im nachhinein eingeredet wurde, vor allem von denen, die aus Richtung West immer ganz begeistert und besorgt von der Revolution redeten, um vorzubeugen, daß wir wirklich eine machten, gehörte am 7. Oktober in Schwante nicht dazu. Denn hätte man uns inhaftiert, hätte das zu einer enormen Verbreitung unserer Anliegen beigetragen. Gerade dies aber mußte die Staatssicherheit noch mehr scheuen, als uns in einer Kellerecke der Bedeutungslosigkeit vor uns hinwursteln zu lassen. Und dies war im Grunde doch die eigentliche Aussicht der Gründung vom 7. Oktober 1989.

Als diese Gründung dann gemeldet wurde, haben sich zuerst die vielen dazu gestellt, die eigentlich auch in Schwante hätten dabei sein können. Das Motiv war, in einer neuen, so nicht dagewesenen Situation auch eine neue, so noch nicht dagewesene Antwort zu geben.

Die Sozialdemokraten im Westen gingen wie Walter Momper auf vorsichtige Distanz, wohl auch aus Furcht vor einem SED-U-Boot. Es gab aber auch eine weitverbreitete Meinung, daß gerade wir als Reformkräfte jetzt in die SED eintreten müßten, um dort die Reform voranzubringen. So dachte zehn Tage nach der Gründung auch ein Kölner Zeitgeschichtler, der mich eine ganze Stunde lang ununterbrochen dafür agitierte.

Es ging aber um etwas für die DDR völlig Neues, nicht Diskreditiertes, mit dem zugleich das Signal gegeben werden sollte, daß wir uns bewußt in eine bewährte Tradition stellen wollten. Das war beides zugleich - Schutz vor dem SED-Staat und ungeheuer ernster Anspruch.

Deshalb übrigens auch der gleich am 7. Oktober beschlossene Antrag auf Aufnahme in die Internationale. Denn wir erlebten uns als Vollstrecker eines sich sowieso vollziehenden Prozesses, bei dem wir nur den Zeitpunkt geringfügig mitbestimmen und Einfluß auf die Modalitäten nehmen konnten.

Ein großes Verdienst, das hier hervorgehoben werden muß, an der schnellen Akzeptanz dieser SDP hat Hans-Jochen Vogel, der am 23. Oktober den für die Partei völlig überraschenden Wandel vollzog, indem er als Vorsitzender der SPD die Ostpartei, die SDP, anerkannte, indem er eines der Vorstandsmitglieder im SPD-Präsidium begrüßte.

Vierte Generation, besser vierte Station: Die Gründungen vor Ort vollzogen dies oft aus ganz verschiedenen Biographien heraus auf ihre Weise nach. In einer so unsicheren Situation, wo noch nicht abzusehen war, wohin die Reise ging, tat es vielen gut, sich auf so einen breiten und im Grunde auch ein Stück vorgezeichneten Weg einlassen zu können. Je lauter die Rufe "Deutschland einig Vaterland" wurden, um so sicherer konnte man sein, auf der richtigen Seite zu stehen, bei einer in das deutsche System passenden Partei. Mit SPD wußte man entschieden etwas anzufangen, das Rad wurde damit nicht noch einmal neu erfunden, sondern nach alten Bauplänen ein ehedem bestehendes neu aufgebaut. Und es war glaubwürdig und unverbraucht - gerade als Neuanfang.

Daß schon bald ein erster Unterschied zwischen Schwantianern und der hinzugewachsenen Basis entstand, war bei der ersten Delegiertenkonferenz zu sehen. Die Mehrheit des 1. Vorstandes war für Beibehaltung des Namens SDP - ihnen ging die Vereinigung zu schnell; das gerade erst geborene Kind sollte nun nicht gleich von den Großeltern adoptiert werden. Und letztlich wollten einige gern einen dritten Weg wenigstens suchen oder diese neue und andere Partei - die SPD war immer noch die einzige relevante Parteineugründung - für den zu diesem Zeitpunkt gewiß noch lange getrennten anderen Weg des Ostens erhalten.

Es gab aber auch das Motiv der Abrechnung mit dem alten System: dabeizusein, wenn die Urteile gesprochen werden, und selber den Richterspruch der Geschichte mitzuvollziehen.

Es gab den Wunsch, jetzt auf der richtigen Seite zu stehen, nachdem man in der DDR nur eine graue Existenz geführt hatte. Auch das Motiv - warum es nicht offen aussprechen -, die unverhoffte Überraschung, vielleicht auch noch mal eine in der DDR nicht mögliche Karriere machen zu können.

Ich will darüber nicht urteilen. Ich habe mit all diesen Menschen bei all ihren verschiedensten Motiven gute Erfahrungen gemacht. Die Erinnerung daran, miteinander etwas gewagt und auch erreicht zu haben, verbindet mich mit diesen ganz verschiedenen Menschen.

Um so wacher höre ich, wenn immer wieder Leute, die in die SPD wollen, mit Leuten aus der Anfangsphase, mit ihren Ansprüchen und vermeintlichen Rechten, mit ihren Anschauungen oder auch mit ihrer Enge Probleme haben. Es scheint so etwas wie Gründerstöpsel zu geben. Ich sage das sine ira et studio, mit Sorge und Sympathie gerade für jene, die so viel investiert haben und nun ein Stück im Wege zu stehen scheinen, um das von ihnen Begonnene fortzusetzen.

Einige Sätze zu den Motiven einer mir besonders wichtigen Gruppe - Menschen, die politisch interessiert waren, viele Jahre hinweg sich einbringen wollten und dies in einer Partei taten und dann erst am Ende den Mut hatten, auszutreten aus jener zwangsvereinigten Partei. Ich erinnere mich noch gut: Diese Menschen zu gewinnen war ein wichtiges Motiv in Schwante. Wir wollten einer sozialdemokratischen Reform der kommunistischen Kaderpartei SED zuvorkommen. Wir wollten möglichst viele von den redlichen, aufrechten, sozialdemokratisch denkenden SEDisten für uns gewinnen. Sie sollten, so unser Hintergedanke, einen wesentlichen Teil dieser SDP ausmachen. Die SED durch Auszehrung, nicht durch Reform überwinden! Die Trümmer der Mauer nach dem 9. November und die tiefen Haßgräben, die der Kanzlerwahlkampf vor dem 18. März 1990 riß, haben diesen Weg versperrt.

Es gibt mittlerweile einige mit solchen Erfahrungen in der SPD, und sie sind nicht die schlechtesten. Ich hoffe, daß über die ehemals sozialdemokratische Plattform der SED/PDS, die Kautsky-Bernstein-Brücke, bald einige mehr zu uns kommen, denn über zwei Millionen Apolitisierte sind für unseren Reformprozeß sonst verloren und vielleicht in ihrer Enttäuschung auch gefährlich.

Von der Bürgerbewegung zur Partei; die Überschrift des heutigen Tages kann bestenfalls einer Hoffnung Ausdruck geben, nicht aber einen Weg beschreiben. Wir sind und werden nicht Partei werden wie unsere große Schwester im Westen. SPD 2000 im Osten heißt etwas völlig anderes als SPD 2000 im Westen.

Wir sind hier eine Partei neuen Typs, nicht im Leninschen Sinne, sondern im postmodernen oder nachwendischen Zeitalter. Die großen Organisationen, die großen Strukturenerzeuger, die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften, verlieren alle, gerade jetzt, wo man sie so dringend braucht wie lange nicht, mit rasanter Geschwindigkeit an Bindekraft.

Wir sind schon heute dort, wo die SPD im Westen hoffentlich nie hinkommt. Aber wir sind vielleicht sogar etwas näher an dieser gemeinsamen Zukunft als unsere große Schwester.

Ich bin ja noch ein Fossil aus jener ersten Pfarrerzeit und sozusagen Pfarrer im Wartestand und Sozialdemokrat im Prüfstand. Ihr seid dort im Westen noch Volkskirche, wir sind hier nur bekennende Kirche - uns bekennend, daß man auf politischem Wege durchaus etwas gegen eine breite Minderheit, die dies schon nicht mehr glaubt, erreichen kann.

Was wir einbringen, sind neue Erfahrungen und eine neue Situation, eine Situation, die mehr Menschen in Europa teilen als die der 63 Millionen Westdeutschen. Verglichen mit der West-SPD sind wir um vieles ärmer - an Geld, an Mitgliedern, an politischer Praxiserfahrung. Vielleicht ist diese Armut, dieses Neu-Beginnen-Müssen, der Reichtum, den wir einbringen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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