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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 19 ]


Einführung
Prof. Dr. Martin Greiffenhagen
Universität Stuttgart


Das Thema ist klassisch: Macht und Moral. Das "und" bezeichnete stets beides: Einen Gegensatz und eine wechselseitige Bedingung. Während die erste Variante, der Gegensatz von rücksichtslos egoistischem Machtwillen auf der einen Seite und moralischer Bindung an überindividuelle Normen auf der anderen, ohne weiteres deutlich ist, so liefert die zweite Variante, die wechselseitige Bedingung von Macht und Moral, viel Diskussionsstoff für Theorie und Praxis. Macht braucht, wenn sie dauern will, ein sittliches Überzeugungssystem, das die freiwillige Folgebereitschaft der Machtlosen legitimiert, und umgekehrt. Moral braucht, wenn sie wirksam sein will, machtgestützte Sozialisationsinstanzen.

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Nun unterscheiden sich Gesellschaften im Blick auf unterschiedliche Anordnungen des Verhältnisses von Macht und Moral. Das gilt für theoretische Begründungen von Aristoteles über Machiavelli, Rousseau und Kant bis zu Marx, Lenin und Nietzsche. Das gilt auch für die Praxis unterschiedlichster Versuchsanordnungen, zum Beispiel der Unterscheidung von Binnenmoral und Außenmoral. Es gibt auch sozusagen rollenteilige Arrangements, zum Beispiel klösterlich-brü-

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derliche Gemeinschaften inmitten einer eher machtorientierten Gesellschaft. In Deutschland ist das Thema, was seine politische Ausformung betrifft, bis heute mit dem Ton einer gewissen Unversöhnlichkeit behaftet.

Der politisch ohnmächtige Bürger
berauschte sich gern an großen Ideen

Das gilt jedenfalls für die Neuzeit und hat seinen Grund in der vergleichsweise ungewöhnlich langen Herrschaft des Adels mit seinem machtorientierten Politikverständnis. Dem entsprach die politische Schwäche eines Bürgertums, das es nicht - wie in anderen europäischen Staaten - vermocht hatte, seiner wirtschaftlichen, moralischen und sozialen Bedeutung die politische nachfolgen zu lassen. Das deutsche Bürgertum reagierte auf seine politische Ohnmacht in zweifacher Weise: durch Rückzug in Moral und Innerlichkeit auf der einen, durch Anbetung politischer Macht auf der anderen Seite. Beides hängt zusammen. In dem Maße nämlich, in dem der Bürger sich der Politik fernhielt, erschien sie ihm als eine Welt eigener Gesetzmäßigkeiten, die mit dem privaten Leben und seiner Moral nichts zu tun hatte.

Der Bereich des Staates und der Politik unterlag in seinen Augen anderen Maßstäben, denen der großen historischen Persönlichkeit, dem Gesetz der Geschichte, vaterländischen Pflichten, nationaler Ehre. Der politisch ohnmächtige Bürger berauschte sich gern an solchen großen Ideen, die ihm um so notwendiger waren, je kleiner sein biedermeierliches Glück sich ausnahm. Außer den Innerlichkeiten der Moral, der Familie, der Kunst, des Naturgefühls hatte das Bürgertum nur die Philosophie, die den engen Bereich der Privatheit überstieg. Dort schuf bürgerlicher Idealismus, was ihm auf dem Felde der Politik versagt war: mächtige Reiche und durchgeklügeltste Systeme.

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Moralische Lupenreinheit der studentischen
Protestbewegung in anderen Ländern so unbekannt

Was das Verhältnis von Moral und Macht im engeren Sinne anging, so war es wohl kein Zufall, daß die beiden extremsten Formen moderner politischer Theorie in Deutschland entwickelt wurden. Die radikalste moralische Begründung von Politik durch den Marx'schen Sozialismus, mit seiner Forderung nach absoluter Brüderlichkeit und klassenloser Gesellschaft auf der einen, die zynischste Machtphilosophie durch den Hitler-Faschismus auf der anderen Seite. Daß das Verhältnis von Macht und Moral noch immer große Spannungen aufweist, zeigt die deutsche Politikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. So trug zum Beispiel die studentische Protestbewegung der sogenannten 68er Züge einer moralischen Lupenreinheit, deren Rabiatheit in angelsächsischen Ländern unbekannt war.

Auch die Frankfurter Schule neigte dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse für von Grund auf verdorben zu halten und an der Möglichkeit zu verzweifeln, durch Kritik und Umbau der politischen Institutionen etwas auszurichten. Die ihr folgende kritische Pädagogik entfernte sich weit von der politischen Realität der Parteiendemokratie und wanderte gedanklich aus dem System aus, das sie eigentlich verändern wollte. Entweder galt Politik als ein allzumal schmutziges Geschäft - wenn man nämlich die Maßstäbe einer idealistischen Moralphilosophie anlegte -, oder man totalisierte sie, und erwartete von ihr die Erfüllung individueller Existenz. Auf diese Weise mußte die Politik wiederum höchsten Wertvorstellungen entsprechen. In beiden Fällen wurde der Weg zu einem realistischen Politikbegriff versperrt.

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Vorstellung von politischer Macht
verband sich eher mit agierenden Personen

Mit derselben Entschiedenheit verdammte man vor einigen Jahren die Protestbewegung der 68er. Nun galten ihre moralischen Maßstäbe und ihre emanzipativen Ziele nichts mehr. Zusammen mit einer entschlossenen Wendung zu neuer Bürgerlichkeit gewannen elitäre, individualistische und antidemokratische Tendenzen die Oberhand, und das teilweise bei denselben Menschen innerhalb einer Biographie.

Für das immer noch unausgewogene Verhältnis von Politik und Moral in Deutschland gibt es empirische Belege. Befragungen von Angehörigen politischer Führungsgruppen ergaben 1975, daß Macht einerseits personalisiert wird, Machtausübung aber gleichzeitig rechtfertigungsbedürftig erscheint.

Die Verbindung ist interessant und weist auf deutsche Unsicherheit hin. Nur ein knappes Drittel der Befragten assoziierte Macht mit politischen Gruppen wie Parteien, Fraktionen oder Regierung. Auch bei organisiertem wissenschaftlichem Sachverstand und technischen Experten-Institutionen wurde nur von wenigen Macht vermutet. Statt dessen verband sich die Vorstellung politischer Macht eher mit agierenden Personen. Dieses Machtverständnis ist auffallend traditional und entspricht nicht einem demokratischen Machtbegriff, der sich eher an Gruppen und Institutionen, Ämtern und Funktionen orientiert. Kein Wunder, daß unsere Spitzenpolitiker ein schlechtes Gewissen zeigen, wenn sie gleichwohl die Notwendigkeit von Machtstreben und Machtausübung eingestehen. Die Untersuchung zeigt ein gebrochenes Verhältnis zur Macht, wie die Autoren sich ausdrücken, aber eben zur falschen, undemokratischen, personenbezogenen. Worauf es ankommt ist eine Korrektur nach beiden Richtungen: zu einem guten Gewissen bei der Machtausübung, aber in Bindung nicht an die Person, sondern an ein demokratisch legitimiertes Amt.

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In Ostdeutschland lebt die Trennung
von Macht und Moral weiter fort

In den inzwischen verstrichenen 20 Jahren hat sich manches gebessert. Das gilt besonders für die Ministerial-Bürokratie, deren Amtsverständnis nicht mehr von einer dichotomischen Teilung von Moral und Macht bestimmt ist. In Ostdeutschland allerdings lebt die Trennung von Macht und Moral weiter fort, trotz ihrer von der SED-Staatsideologie behaupteten Versöhnung. Das Politikmodell der DDR setzte ein autoritäres Politikverständnis fort, das unbeschadet wechselnder Regime in Deutschland Tradition hat. Man ist in den neuen Bundesländern eher bereit, autoritäre Führung zu akzeptieren und dem Staat eine eigene Machtlogik zuzubilligen, wenn er nach dem alten Verteilungsmodus von Schutz und Gehorsam für Ruhe und Ordnung sorgt, die Bürger vor Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit bewahrt und Nischen respektiert, in denen der Bürger wie früher zu sich und seinen Freunden sagt "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" und das Lied anstimmt: "Die Gedanken sind frei."

Gleichzeitig mit solchen politikgeschichtlichen Lasten sind wir in Deutschland zunehmend mit Problemen konfrontiert, die das Verhältnis von Moral und Politik auf neue Weise schwierig machen. Ich skizziere einige dieser Probleme und beschränke mich dabei auf europäische und nordamerikanische Kulturen; Länder also, in denen der Wertewandel zu einschneidenden Veränderungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Bürger und Staat führt. Es handelt sich dabei um komplizierte Prozesse, und ich muß um Nachsicht dafür bitten, daß meine Ausführungen nur Skizzen, Hinweise und Andeutungen bieten. Der Wertewandel bedeutet im Blick auf unser Thema des Verhältnisses von Moral und Macht eine Reihe von Verschiebungen und neuen Akzenten. Diese sind in ihrer Richtung keineswegs gleichsinnig. So führt der Drang nach selbstbestimmter Identität zu einem Partizipationsverlangen, welches den Bürger stärker ins Spiel bringt. Dies zwingt nicht nur den Staat sondern auch andere Systeme wie Wirtschaft, Recht und Kultur, ein Denken in

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Eigengesetzlichkeiten zu verlassen. Gleichzeitig wächst mit diesem Anspruch selbstbestimmter Einmischung eine Tendenz, sich nur noch für das zu interessieren, was einem nützt. Alle großen gesellschaftlichen Gruppen klagen über mangelnde Bindefähigkeit ihrer Mitglieder und ihren Hang, nur noch persönliche Interessen zu verfolgen.

Steuerungskraft von Staat und Politik
ist ohnehin im Schwinden begriffen

Dadurch geraten längerfristige Perspektiven und Strategien in große Schwierigkeiten. Am deutlichsten zeigt sich dies auf dem Felde ökologischer Schonung. Auf der einen Seite räumen wir ihr einen hohen Rangplatz unter den wichtigen Themen ein, auf der anderen Seite zeigt die Opferbereitschaft zugunsten der Solidarität mit noch ungeborenen Generationen enge Grenzen. In dieser widersprüchlichen Lage geraten Staat und Politik unter besonderen Druck. Ihre Steuerungskraft ist ohnehin im Schwinden begriffen, während der Legitimationsdruck seitens der Bevölkerung ständig zunimmt. Und die Politiker fördern den Zwiespalt zwischen Erwartung und Erfüllung noch dadurch, daß sie sich für alles zuständig erklären.

Dies Dilemma wird in Zukunft eher noch größer werden. "Alles wird politisch", unter diesem Motto läßt sich eine Tendenz gegenseitiger Entgrenzung beziehungsweise Verschränkung der Bereiche Wirtschaft und Technik, Kultur, Wissenschaft, Privatheit und Öffentlichkeit fassen, die sämtlich zu Lasten der Politik gehen. Die Gründe dieser Verflechtungen sind gleichzeitig die Gründe dafür, daß Fehler in den früher für sich alleinverantwortlichen Aktionsfeldern nun sämtlich als Versäumnisse des politischen Systems verbucht werden.

Ich nenne einige Beispiele. Die gegenseitige Angewiesenheit der Systeme betrifft immer entferntere Bereiche, zum Beispiel das Wirtschaftssystem und das Kultursystem. Eine allseitige Globalisierung zwingt die Systeme zur stärkeren Integration, beispielsweise der

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Kommunikationssysteme und der Märkte. Die Dinge wirken systemübergreifend, wie etwa die Forschungsergebnisse für die Wirtschaft. Die Allgegenwart der Medien schwächt zum Beispiel durch Personalisierung oder Betroffenheits-Journalismus eine früher mögliche Zuordnung der einzelnen Systeme in unterschiedliche Verantwortungsbereiche.

Die wachsende Verschränkung der früher getrennt operierenden und wahrgenommenen Systeme läßt sich leicht an einem Phänomen erkennen, das noch längst nicht ins allgemeine Bewußtsein getreten ist. Immer häufiger nämlich verzichtet ein System zur Durchsetzung seiner Interessen auf die eigenen Mittel und setzt statt dessen auf Strategien aus anderen Systemen. Wirtschaftsunternehmen arbeiten mit "Culture" und argumentieren mit "Ethik". Rechtsabteilungen verzichten auf Prozesse und geben das Problem an die PR-Abteilung ab, weil sie wissen, daß selbst ein gewonnener Prozeß nicht immer wirklich weiterhilft. Verwaltungen verzichten auf ihre Rechtsetzungs-

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macht und verlegen sich aufs Aushandeln. Wissenschaftliches Erkenntnisinteresse wird als humanes oder ökologisches Gebot dargestellt.

Der Staat wird für persönliches Glück verantwortlich gemacht

Politisch werden die genannten System in dem Augenblick, in dem sie ihre bisherigen Grenzen überschreiten und dem Bürger gegenüber die Politik für diesen Wechsel verantwortlich machen. Heute wird der Staat buchstäblich für alle Lebensbereiche verantwortlich gemacht, sogar für das persönliche Glück seiner Bürger. Die Bevölkerung ordnet staatlicher Verantwortung nicht nur die im engeren Sinne des Wortes politischen Bereiche zu, sondern auch sehr persönliche Felder der Lebenszufriedenheit wie Liebe und Ehe, Familie und Freundschaft. Man hat die Hoffnungen und Befürchtungen der Westdeutschen untersucht. Das Ergebnis: eine starke Koppelung von Zukunftspessimismus in sehr persönlichen Fragen und politischer Protestneigung. Menschen, die sich von der Zukunft für ihr Glück wenig versprechen, neigen dazu, den Staat für ihre Misere verantwortlich zu machen. Dagegen fühlen sich Menschen mit optimistischeren Erwartungen für ihr Schicksal selber verantwortlich.

Junge Leute sind nicht mehr auf Solidaritäten vorbereitet,
von denen Staat und Gesellschaft leben

Je weniger jemand von der Zukunft für sich persönlich erwartet, desto stärker ist seine Anspruchshaltung gegenüber dem Staat. Der soll dafür sorgen, daß die gesamten Lebensumstände in einem günstigeren Licht erscheinen. Kein Zweifel, daß der Staat mit solchen Forderungen überlastet ist. Nicht nur, daß er als liberaler Staat sich in die privaten Dinge des Bürgers nicht einmischen soll, er kann auch unmöglich für das gesamte Lebensglück in Anspruch genommen werden.

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Wenn man ihn dafür verantwortlich macht, muß die Folge ein ungeheurer Legitimitätsverlust sein. Es sieht so aus, als ob Träger staatlicher Macht und öffentlicher Verantwortung generell unter großen Druck kommen werden, weil die moralischen Überzeugungssysteme entweder nicht mehr existieren oder sich so pluralisieren, daß sie nicht mehr leisten können, was sie bisher leisteten. Vermutlich ist es besonders die Familie, deren Ausfall oder Schwächung die Ursache dafür ist, daß junge Leute nicht mehr auf Solidaritäten vorbereitet sind, von denen Staat und Gesellschaft leben.

Nur eine kleine Minderheit von Frauen unterrichtet sich
kontinuierlich über politische oder wirtschaftliche Themen

Ein weiterer Aspekt des Themas Moral und Macht, der immer wichtiger wird, ist die Frage, ob die Politik nicht weiblicher werden muß? Diese Frage nimmt das in Deutschland schwierige Verhältnis von Privatheit und Politik noch einmal auf. Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Als Mütter, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen sind sie für die politische Sozialisation der nachwachsenden Generationen verantwortlich. Wie soll man erwarten, daß sie gute Demokraten erziehen, wenn sie hier selbst Defizite aufweisen. Deshalb lohnt sich die Frage, ob es so etwas gibt wie eine spezifisch weibliche politische Kultur mit eigenen Werten, Denk- und Verhaltensstrukturen.

Frauen sind unpolitisch. Dies Urteil ist das Ergebnis von vielen Untersuchungen. Diese arbeiten mit Faktoren aus der vergleichenden empirischen Politikwissenschaft. Beinahe zu allen Aspekten erreichen Frauen hier niedrigere Werte als Männer. Ich gebe ein paar Hinweise dafür: Nur 34 Prozent der Frauen, dagegen 59 Prozent der Männer interessieren sich überhaupt für Politik. Frauen unterhalten sich nicht über Politik. Nur 16 Prozent der Frauen, aber 30 Prozent der Männer diskutieren häufig über politische Themen. Entsprechend gering ist die politische Informiertheit von Frauen. Nur eine kleine Minderheit unterrichtet sich kontinuierlich über politische oder wirtschaftliche

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Themen. Frauen lesen zwar zu einem annähernd gleichen großen Anteil wie Männer die Zeitung, aber selten den politischen oder wirtschaftlichen Teil. Frauen partizipieren politisch deutlich weniger als Männer. Ihre Wahlbeteiligung liegt niedriger, sie besuchen seltener als Männer Veranstaltungen mit politischem Inhalt und engagieren sich kaum in Parteien oder anderen etablierten Organisationen.

Ihr Engagement beschränkt sich auf wenige Themen mit Alltagsbezug, auf ein enges räumliches oder soziales Umfeld. Große Weltpolitik spricht Frauen weniger an. In die Politik führt sie fast immer persönliche Betroffenheit, nicht ein abstraktes politisches Ziel. Dabei überrascht, daß auch Frauen mit hoher formaler Bildung relativ niedrigere Werte als Männer erzielen. Während bei den Männern ein höherer Bildungsgrad signifikant mit höherem politischen Interesse verknüpft ist, zeigt sich bei Frauen ein solcher Zusammenhang nur begrenzt. Offenbar genügt Bildung allein nicht, um Frauen näher an die Politik heranzuführen. Andere Faktoren müssen für objektive und subjektive Barrieren noch im Spiel sein.

Diskutiert werden vor allem die folgenden:

  • Frauen haben weniger Zeit - Hausfrauen haben pro Tag durchschnittlich nur knapp zwei Stunden Freizeit, Männer sechs.
  • Frauen mit Kindern können zu bestimmten Tageszeiten nicht von zu Hause weg.
  • Frauen können nicht auf die Unterstützung ihrer Ehepartner und sonstigen Familienmitglieder rechnen, wenn sie in die Politik gehen wollen.
  • Frauen verfügen nicht über Netzwerke, die sie beim Einstieg in die Politik oder für eine politische Karriere nutzen können.
  • Frauen haben kaum Vorbilder in der Politik, sie sind in Parlamenten und politischen Führungspositionen unterrepräsentiert.

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Hinzu kommen noch Hindernisse, die eher im psycho-sozialen Bereich angesiedelt sind. Noch immer sorgt eine typische Mädchenerziehung in Familie, Kindergarten und Schule dafür, daß Frauen für die Politik schlecht gerüstet sind. Frauen brauchen für politische Betätigung offenbar ein ihnen wohlgesonnenes Umfeld, bei scharfem Gegenwind resignieren sie und ziehen sich zurück. Nach den herrschenden Maßstäben ist das unpolitisch. Also ein demokratisches Defizit bei den Frauen? In einem Fall mit Sicherheit nicht. Weil Frauen sich nicht für Politik interessieren, lehnen sie Gewalt ab. Aber sind es tatsächlich nur Defizite, die Frauen resistenter als Männer gegen Extremismus und Gewalt machen?

Das eigentlich demokratische
Geschlecht sind die Frauen

Die Ursachen liegen nach Ansicht einer Forschungsgruppe um die Jugendforscherin Ursula Hoffmann-Lange offensichtlich in tiefverwurzelten Wertorientierungen, während die politischen Einstellungen im engeren Sinne hier kaum eine Rolle spielen. Mit solchen Vermutungen nähert man sich der Gegenposition jener Forscherinnen, die jede Rede von weiblichen Defiziten von sich weisen und umgekehrt meinen, das eigentlich demokratische Geschlecht seien die Frauen. Für diese Ansicht spricht einiges. Verhaltensweisen, die ich vorher als Manko beschrieb, zum Beispiel die mangelnde Durchsetzungskraft oder ein auf das engste soziale Umfeld begrenzte politische Engagement von Frauen, erscheinen nämlich unter dem neuen Blickwinkel als Pluspunkt.

Auch in der Wirtschaft ist man dabei, Umbuchungen vorzunehmen. Die Personalabteilungen entdecken einen weiblichen Führungsstil und vermuten, ihm gehöre die Zukunft. Die Argumente sind dieselben wie in der Politik. Einige Beispiele:

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  • Frauengruppen kennen keine rigide Hierarchie, sie sind offen strukturiert mit wechselnden Zentren je nach Thema oder Situation.
  • Frauen können deshalb besser delegieren als Männer.
  • Frauen können besser zuhören, sie wollen sich nicht profilieren. Frauen nehmen Themen und Fragestellungen von anderen auf und sind eher bereit, ihre eigene Meinung in Frage zu stellen.
  • Frauen sind tolerant, vor allem ihre - wie das in unserem politologischen Chinesisch heißt - Ambiguitätstoleranz oder Ambivalenztoleranz ist hoch entwickelt. Darunter versteht man die psychische Fähigkeit, gegensätzliche Meinungen zu ertragen, ohne eine rasche Entscheidung zwischen der einen oder anderen zu verlangen, um der eigenen psychischen Entlastung willen.
  • Frauen vertreten bei politischen Themen meist eine mittlere Position und suchen Konsens, sie sind kompromißfähig.
  • Frauen engagieren sich, ohne dabei an Macht und Karriere zu denken. Sie bleiben einer einmal gefundenen Aufgabe treu und wandern nicht um des persönlichen Aufstiegs willen in prestigeträchtige Ämter und Aufgaben ab.
  • Frauen haben neben dem sachlichen noch einen emotionalen Zugang zur Politik und bringen moralische Wertmaßstäbe ein.

Alle Merkmale dieses spezifisch-weiblichen Politikstiles kommen nach Ansicht vieler Frauenforscherinnen dem demokratischen Ideal wesentlich näher als männliche Politikformen. Wie ist es dann aber möglich, daß Frauen auf den Demokratieskalen soviel schlechter abschneiden? Diese Frage mündet in eine grundsätzliche Kritik an einem männerorientierten Konzept von Politik. Themen wie eine frauen- und kinderfreundliche Umwelt paßten nicht in die traditionel-

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len Ressortgrenzen und fanden schon aus diesem Grunde in der konventionellen Politik keinen Platz. Daß Frauen im politischen Alltag tatsächlich einen anderen Stil durchzusetzen vermögen, zeigt sich inzwischen an zahlreichen Beispielen. Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß mehrere Frauen in einer Gruppe vertreten sind, sie ihren Stil ohne Kampf gegenüber den Männern behaupten können. Wird die Politik also besser, wenn Frauen sich ihrer annehmen? So einfach ist die Sache nicht. Es gibt Ambivalenzen des weiblichen Stils. Eine wachsende Moralisierung beziehungsweise Emotionalisierung der Politik hat auch bedenkliche Seiten. Ebenso enthält die größere Konflikt- bzw. Wettbewerbsscheu von Frauen problematische Züge. Schließlich birgt die Betroffenheitskultur von Frauen und ihr bevorzugtes Vor-Ort-Engagement in einer weltweit verzweigten Politik Gefahren von Naivität und Einäugigkeit. Politische Macht ist nicht, wie viele Frauen meinen, etwas grundsätzlich Böses, sondern ein wichtiger Faktor bei der Gestaltung von Politik.

Mit Absicht das Thema Macht und
Moral in neue Unsicherheiten gesteuert

Ich weiß, daß ich mit diesen Überlegungen zum weiblichen Verständnis von Politik das Thema Macht und Moral in neue Unsicherheiten gesteuert habe. Das war Absicht. Vermutlich stehen wir in einer neuen Phase des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, Bürger und Staat, Ethik und Politik. Jedenfalls lösen sich alte Vertrautheiten auf. Wer heute ein neues Pflichtbewußtsein, neuen Gemeinschaftssinn, neuen Opfergeist fordert, muß sich gegen Mißverständnisse verteidigen. Wer den neuen Egoismus geißelt, darf nicht vergessen, daß dieser sich häufig mit Einstellungen verbindet, ohne die eine humane Demokratie keine Zukunft hat. Worauf es ankommt, sind Geduld und Ambivalenztoleranz für einen politischen Diskurs gegenseitiger Offenheit.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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