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TEILDOKUMENT:

[Seite der Druckausg.: 13 ]


Vorstellung der Werte-Initiative '93
Gabriele Behler
Stellvertretende Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen


Die Veranstaltungsreihe "Impulse aus Nordrhein-Westfalen" will Denkschablonen durchbrechen, kontrovers und konstruktiv Zukunftsfragen diskutieren, Lösungsmodelle -vielleicht sollten wir es etwas vorsichtiger ausdrücken, Lösungsansätze - entwickeln.

Das setzt die Bereitschaft voraus, über den Tag hinauszudenken und sich der Hektik des politischen Alltags wenigstens für kurze Zeit zu entziehen.

Das Foto der Seite 13 der Druck-Ausgabe kann in der Online-Ausgabe leider nicht wiedergegeben werden

In Wahlkampfzeiten über Macht und Moral zu sprechen mag auf den zweiten Blick lediglich effektvoll erscheinen. Das Thema scheint ohnehin modisch. Und so mag bei manchem der Verdacht naheliegen, hier handele es sich um eine besonders raffinierte Methode der Unschuldsbeteuerung von politischer Seite.

Ob es dem Einzelnen gefällt oder nicht, die politische Dimension von Moral und die moralische Verantwortung von Politik, dies war und ist eine Denkaufgabe, die uns zu Selbstvergewisserung und damit auch zu kritischen Auseinandersetzungen mit uns selbst zwingt.

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Diskussionsstil
ist häufig mindestens befremdlich

Nachhaltigkeit zum Beispiel wird ja in der öffentlichen Diskussion schon als neuer kategorischer Imperativ bezeichnet. Dieses "Handele so, daß die Konsequenzen deines Tuns die Möglichkeiten eines lebenswerten Lebens auf der Erde nicht in Frage stellen", das Anknüpfen an Kant und damit die Epoche der Aufklärung dürfte kaum zufällig sein.

Darüber hinaus gibt es genügend Anlässe, um sich mit dem Thema ernsthaft auseinanderzusetzen. Zur Erinnerung nur wenige Stichworte aus den letzten Monaten: die Diskussion um das Kirchenasyl, rechtsextremistische Gewalttaten von Jugendlichen, Verfassungsreform, Kriminalitätsentwicklung. Diese Beispiele sind willkürlich herausgegriffen. Gemeinsam ist ihnen die auch politische Kontroverse.

Ich will etwas zum Diskussionsstil bei diesen Auseinandersetzungen sagen: Er ist häufig mindestens befremdlich: Klagen, die bis zum Betroffenheitskult gehen; Untergangsbeschwörungen einer sich verselbständigenden Rhetorik der Moral, die ihr eigentliches Anliegen diskreditiert; und allerlei Mühen, gesellschaftliche Moral über Appelle zu konstituieren. Ein solcher Umgang mit dem Thema mag dieses dann tatsächlich zum Bumerang für Politiker - und nicht nur für sie - werden lassen.

Dabei ist der Umgangston nicht besser, er ist eher rüder geworden. Das mag entscheidend an einer Mediengesellschaft liegen, bei der weniger die Sache, mehr die Begleiterscheinung das Aufsehen erregen kann.

Nur, alles Klagen darüber nutzt nichts. Auf produktive Auseinandersetzungen kommt es an. Und besonders nahezuliegen scheint eine Wertediskussion in der Jugend- und Bildungspolitik. Ich sage mit

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Absicht: Sie scheint hier besonders nahezuliegen. Wenn ihnen nichts mehr einfällt, verweisen viele gerne auf die Jugend ohne Werte, auf die Schule, die angeblich keine Werte mehr vermittelt und die Eltern, die Verantwortung abgeben. Man muß dann selbst nichts mehr tun. Man hat die Schuldigen gefunden, und das erleichtert das eigene Gewissen, zumal die Feindbilder dann ungeschoren bleiben. So drängt manch öffentliche Verlautbarung den Eindruck auf, daß es vor allem um den Versuch geht, Verantwortung abzuwerfen, zu delegieren.

Mit der Werte-Initiative '93
parteiübergreifend Schablonen durchbrechen

Das ist bequem, aber nicht hilfreich. Und vor diesem Hintergrund haben wir in Nordrhein-Westfalen einen parteiübergreifenden Versuch unternommen, an einem für uns wesentlichen Punkt die Schablonen zu durchbrechen. Heidi Busch von der CDU, Andreas Reichel von der FDP, Beate Scheffler von den Grünen, Ilona Wuschig als Journalistin und ich, wir haben gemeinsam eine "Werte-Initiative '93" gegründet und einen Aufruftext vorgelegt mit der Überschrift: "Werte-Erziehung im Geist der Aufklärung ist Grundlage unserer Demokratie". Wir wollten und wollen damit mehr Rationalität in die öffentliche Auseinandersetzung um Werte-Erziehung bringen. Wir formulieren: "Die einen instrumentalisieren diese Diskussion und lenken ab von politischen Themen, suchen Sündenböcke - ich erinnere an die Diskussion um die 68er - und weisen Schuld zu. Die anderen tabuisieren Themen aus vermeintlicher moralischer Überlegenheit. So entstehen Denkblockaden, Defizite und Mängel auf allen Seiten und sie werden aus Sorge um falsche Vereinnahmung nicht ausgesprochen. Dies geschieht in einer Situation, in der gesellschaftliche Desintegration zunimmt, gleichzeitig aber Orientierung gefordert ist."

Ich bin der Auffassung, daß solche Realisierungen nichts mit notwendiger und eigener Profilierung von Parteien zu tun haben, son-

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dem eher den Überdruß an einer als übermäßig geschwätzig empfundenen Generation von Politikern verstärken.

Deshalb haben wir versucht, einige Erziehungs- und Bildungsziele einvernehmlich zu formulieren. Dazu gehört das Ziel der Mündigkeit. "Dies macht es entgegen manchem Vorurteil erforderlich, Werte und Bindungen nicht als Angebot eines Supermarktes zu begreifen, sondern sie in einem mühseligen Prozeß immer wieder gemeinsam zu definieren, zu akzeptieren und uns anzueignen. Eigeninteressen zu formulieren, Interessen anderer berücksichtigen und einen Interessenausgleich herbeiführen zu können, das heißt Konflikte ertragen und Kompromisse finden zu können, sind Grundfähigkeiten in einer auf Partizipation und Autonomie ausgerichteten Demokratie."

Wir müssen aus den Höhlen heraus, in denen wir uns
im Ergebnis nur noch selbst bestätigen

Wir wissen aus der Vorurteilsforschung: Je stabiler und ausgeglichener das eigene Selbstwertgefühl ist, desto weniger Bedrohungsgefühle lösen Fremde aus. Und die Probleme, die die Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten hat, sind meist Resultat der Probleme, die in der Mehrheit selbst bestehen. Wenn es also darauf ankommt, diffuse Verunsicherungen und ihre Verfestigungen in Persönlichkeitsstrukturen zu vermeiden, heißt gesellschaftliche Präventionsarbeit immer auch die Entwicklung von Empathie und Konfliktfähigkeit, von Streßtoleranz, und Selbstwertstärkung statt Selbstverteidigung. Auf diese Formel kann ein wichtiges Element demokratischer Erziehungsarbeit gebracht werden.

Wir haben uns um breite Unterstützung bei dieser Werte-Initiative bemüht und ganz überwiegend auch bekommen. Die Namen der Unterzeichner der Initiative sprechen hier für sich. Wir wollten eine Art Fließströme gesellschaftlicher Diskussion im Land in Gang bringen, und wir haben zahlreiche regional und sozial völlig unterschiedliche

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Rückmeldungen bekommen: Von Arbeitsgruppen, die sich an einzelnen Schulen zusammenfinden, um ein pädagogisches Programm vor Ort zu formulieren, von jugendpolitischen Runden Tischen in Kommunen, von Foren in Weiterbildungseinrichtungen.

Wir halten es für notwendig, diese notgedrungen sehr allgemeinen Grundsätze auch "kleinzubuchstabieren". Dazu müssen wir aber alle aus den jeweiligen Höhlen heraus, in denen wir es uns politisch oft sehr bequem eingerichtet haben, in denen wir uns im Ergebnis aber nur noch selbst bestätigen.

Zwei Kritiklinien sind mir vor allem begegnet. Die eine kritisiert die Beschäftigung mit diesem Thema überhaupt, weil sie in einer Diskussion um Werte und um Erziehungsverhalten eine Flucht vor objektiven gesellschaftlichen Mängeln sieht, eine Flucht auch vor politischer Verantwortung. Ich sage dagegen: Mit der Diskussion über Erziehungsprinzipien kann ich schlecht warten, bis die gesellschaftlichen Mängel behoben sind, die ich auch behoben haben möchte. Massenarbeitslosigkeit gegen Erziehungsdebatte, so kann man politische Prioritäten nicht diskutieren. Es kann auch nicht darum gehen, politische Verantwortung - wie man umgangssprachlich sagt - einfach wegzudrücken. Ich möchte mich in den richtigen Dimensionen über die richtigen Themen mit dem politischen Gegner auseinandersetzen.

Chronisch-kritisches Verhältnis zum Parteienwesen gehört zu
den historischen Hypotheken der deutschen politischen Kultur

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Überparteilichkeit dieser Initiative. Dabei ist mir klar, daß das chronisch-kritische Verhältnis zum Parteienwesen zu den historischen Hypotheken der deutschen politischen Kultur gehört. Vor dem Hintergrund dieser durchaus verhängnisvollen Tradition dürfen die Erfolge von Parlamentarismus und demokratischem Parteiensystem in den vergangenen Jahrzehnten

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nicht zerredet werden. Dies funktioniert aber nur, wenn die Ernsthaftigkeit der Anliegen durch die jeweiligen Parteien auch glaubhaft vermittelt wird. Und zu einer solchen glaubhaften Vermittlung gehört es nicht, ritualisierte Gespensterdebatten zu führen, oder den politischen Gegner mit Etiketten zu behängen.

Menschen ohne Macht werden aber
auch schnell zu Menschen ohne Moral

Gerade weil ich politische Auseinandersetzungen führbar halten will, darf ich nicht die falschen Instrumente und die falschen Inhalte zum Gegenstand meiner Abgrenzung machen. Das schlägt nämlich dann auf alle zurück, die über die Politik diese Gesellschaft demokratisch gestalten wollen. Sie werden dann letztlich nicht mehr ernst genommen. Daraus entsteht eine Politikferne, die der demokratischen Gesellschaft gefährlicher wird als manches fehlgeleitetes Engagement. "Alle Macht geht vom Volke aus", und Tucholsky fragte zu recht, "aber wo geht sie hin?" Sie geht in offene oder versteckte Diktatur über, wenn die Menschen ohnmächtig, das heißt, ohne Macht sind. Und Menschen ohne Macht werden aber auch schnell zu Menschen ohne Moral.

Ich will dabei die Gefahr des moralischen Rigorismus nicht verschweigen. Bereitschaft, sich einzumischen, ist schwer genug zu entwickeln in einer Gesellschaft, die nur noch die Sensation wahrnimmt. Um so wichtiger ist eine Diskussion darüber, wie wir dieses Ziel erreichen können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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