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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 247 ]


CHRISTOPH HUBIG
DISSENSMANAGEMENT


  1. Die politische Gestaltungsarbeit im Blick auf die Entwicklung und den Einsatz zukünftiger Technologien befindet sich immer noch in einem strukturell bedingten Mißverhältnis zu den entsprechenden Aktivitäten im Bereich der Industrie. Technische Neuentwicklungen werden in überwiegendem Maße im Bereich der Unternehmen betrieben. Die Politik - soweit sie z. B. als öffentlicher Auftraggeber auftritt - ist insofern im wesentlichen auf eine reaktive Technikbewertung verwiesen, sofern diese überhaupt stattfindet: Fertig entwickelte Produkte werden auf ihre Zukunftsträchtigkeit untersucht (z. B. Transrapid, für den allerdings eine solche Untersuchung aussteht). Ausnahmen bestätigen die Regel, so das vom TAB-Büro entwickelte Technikbewertungsverfahren für das Raumtransportersystem Sänger, für das verschiedene Entwicklungsoptionen geprüft wurden und das - ein seltener Glücksfall - zu entsprechenden Bundestagsbeschlüssen geführt hat.

  2. Aufgefordert zu einer reaktiven Technikbewertung im nachhinein, befindet sich der Politiker in derselben Situation wie der Unternehmer oder der Verbraucher: Er ist Laie. Er hat sich innerhalb der einander widersprechenden Expertenmeinungen zu orientieren und muß in der ihm vorgegebenen Systemkonkurrenz lernen, mit den entsprechenden Unsicherheiten umzugehen. Der strukturelle Grund dieser Situation liegt in dem Erfordernis, auf bestimmte technische Entwicklungen zu reagieren. Eine wichtige Trendumkehr läge daher darin, daß analog zum Projekt Sänger in vielen anderen Bereichen staatliche oder halbstaatliche Institutionen als Initiatoren und Auftraggeber zur Entwicklung von Zukunftsszenarien und entsprechenden Technologien selbst auftreten. Was die Zwecksetzungen für die Gestaltung zukünftigen Lebens angeht, gibt es keine Laien im Gegensatz zu Experten. Die Kompetenz zur Zwecksetzung unter bestimmten Werten legitimiert die Politik als Interessenvertretung der Bevölkerung dazu, hier in verstärktem Maße selbst aktiv zu werden. Für die Bewertung von Zukunftsszenarien kann es keine Experten geben, insofern auch kein Expertendilemma.

  3. Allerdings können Experten im Blick auf Zukunftsszenarien über hypothetische Chancen und Risiken urteilen. Die Anerkennung dieser Urteile hängt aber von der Anerkennung der jeweiligen theoretischen Grundlagen der Modellsimulationen ab. Diese theoretischen Grundlagen (z. B. bezüglich der Frage, welche Parameter in die Systemgestaltung eingehen, welche Faktoren überhaupt Berechtigung finden) bedürfen einer praktischen Anerkennung. Dazu müssen diese Grundlagen bekannt und transparent sein, und es müssen die entsprechenden Anerkennungsprozesse organisiert werden. Allem Anschein nach reichen dazu die tradierten politischen Entscheidungssysteme nicht aus, sondern müssen durch eine Zwischenebene von Institutionen mit regionalem Bezug ergänzt werden, in denen sich die Interessen der Betroffenen stärker und flexibler artikulieren können. Die schlichte Forderung nach Moratorien angesichts von Entscheidungsunsicherheiten bezüglich hypothetischer Risiken läßt sich nur in Extremfällen einigermaßen begründen. Triftiger wäre die gemeinsame Suche und Entwicklung

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    dritter Wege, um fundamentale Unsicherheiten zunächst umgehen zu können. Denn einzelne Individuen - vom Verbraucher bis zum Unternehmer - sind angesichts solcher Entscheidungsprobleme überlastet. Dies betrifft auch die Politiker. Langfristig ist daher ein Netz von Institutionen zu errichten, das entsprechend dem Prinzip der Subsidiarität Entscheidungsüberforderungen kompensiert: Dies muß in erster Linie durch Informationstransfer und die Herstellung von Transparenz geschehen, in zweiter Linie durch die Abwehr von Nachteilen und Folgelasten (z. B. gegenüber dem Ausland oder ökonomischer Konkurrenz), wenn aus triftigen Gründen bestimmte Entscheidungen sich verzögern oder negativ ausfallen, drittens in Form von Anreizsystemen für die Technikgestaltung. Hier kommt den Institutionen (z. B. auch den Branchen als gestärkten Interessenverbänden) Vorsorgeverantwortung zu, wie sie in Ansätzen auch die Gewerkschaften bei ihren Bemühungen um eine qualitative Veränderung der Arbeit bereits wahrnehmen. Individuen, die Verantwortung wahrnehmen wollen, sind insofern auf den Umweg über Institutionen angewiesen. Bürgerinitiativen und Verbraucherverbände signalisieren in ihrer zunehmenden Bedeutung, daß dieser Weg realisiert wird.

  4. Ein Netz solcher Zwischeninstitutionen, die durch den verstärkten Dialog zwischen politischen Entscheidungsträgern und Betroffenen das Expertendilemma im Blick auf die Festlegung der Ziele und der Anforderungen an zukünftige technische Systeme umgehen, müssen von anderer Art sein als ein Großteil herkömmlicher Institutionen, die gerade von Experten getragen werden. Wie z. B. der Entsorgungsdiskurs im Schweizer Kanton Aargau oder der Energiediskurs in Baden-Württemberg, der z. Zt. konstituiert werden soll, signalisieren, kann von solchen Institutionen nicht der übliche, von Gratifikationen begleitete und durch diese gerechtfertigte „Herrschaftsanspruch" ausgehen. Während herkömmliche Institutionen Träger und Katalysator von Konsensbildung und Gemeinsinnkonstitution sind, müßten solche Institutionen eher ihr Ziel im Dissensma-nagement finden. Sie sollten Katalysator dafür sein, daß abweichende Meinungen hinreichend artikuliert werden und ein hinreichendes Maß an Öffentlichkeit finden, und bei bestehendem Dissens dritte Wege zur Lösung gefunden werden, anstelle erzwungener und belohnter Kompromisse.

  5. Gegenüber den üblichen Verfahren, in denen Politik im Blick auf Zukunftsgestaltung tätig wird, nämlich demjenigen der Verrechtlichung und gegebenenfalls der Prohibition, die regelmäßig umgangen wird, sind im Zuge der Forderung, daß der Staat in verstärktem Maße auch als Auftraggeber für Neuentwicklungen auftreten müsse (Beispiel Japan), Anreizsysteme zu entwickeln. Anreizsysteme haben bekanntlich - wie alle Erfahrung zeigt - eine sehr viel höhere Durchschlagskraft im Blick auf ihre gesellschaftliche Zustimmungsfähigkeit und ihren langfristigen Niederschlag. Wenn anstelle von Prohibitionen z. B. im Bereich der ökologischen Zukunftsgestaltung entsprechende Anreizsysteme wirksam werden, dürfte dies auch im Blick für die Ressourcenbindung in höherem Maße erfolgreich sein, weil Umgehungs- und Ausweichstrategien überflüssig werden.

  6. Der Grundkonflikt jeglicher politischer Zukunftsgestaltung ist derjenige zwischen pragmatischen Problemlösungsstrategien auf der einen Seite und kategorischen, d. h. unbedingten Erfordernissen an die Zukunftsgestaltung auf der anderen Seite. Wenn die

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    kategorischen Erfordernisse im Sinne notwendiger Verbote gerechtfertigt erscheinen (z. B. bei der Intervention in die Keimbahn zum Zwecke der Optimierung menschlicher Organismen) gibt es keine Möglichkeiten einer pragmatischen Relativierung. Wenn jedoch kategorische Gebote, z. B. im Blick auf Vorsorgeerfordernisse, wünschenswerte Zustände oder ähnliches gerechtfertigt sind, steht immer noch die Frage einer hinlänglichen Realisierungsmöglichkeit im Räume. Hier können durchaus pragmatische Relativierungen angebracht sein, wie wir sie z. Zt. in der Diskussion um den Ausstieg aus der Energiebereitstellung durch Kernkraft erleben. Wenn man bei grundsätzlichen Konflikten die Perspektive jeweiliger dritter Wege deutlicher betont, wird hierbei aber erneut ersichtlich, wie wichtig das „Zwischennetz" von neuen Institutionen sein wird. Denn diese, mit deutlichem regionalen Bezug, können diejenigen Werthaltungen und Handlungsstrategien von Individuen besser zum Ausdruck bringen und auf sie zurückwirken, als dies Weichenstellungen auf hoher Ebene und mit schwieriger Vermittelbarkeit vermögen. Denn gerade die dritten Wege wie Regionalisierung der Ernährungsgewohnheiten, Einsparung von Verpackung durch Umstellung der Transportwege, Etablierung von Verkehrsverbünden und Verkehrsvermeidungen etc. lassen sich nur unter deutlich regionalem Bezug etablieren. Gerade solche Bezüge bzw. ihre Herstellung sind aber Voraussetzung dafür, daß die Politik als Zukunftskoordinator die Alternative zwischen rigidem Herrschaftsanspruch obrigkeitsstaatlicher Provinienz oder bloßer Reaktion auf wirtschaftliches Innovationsverhalten aufgibt.

  7. Die (typisch deutsche) Diskussion um Technikoptimismus oder Technikfeindschaft ist insgesamt reaktiv. Sie reagiert auf Entwicklungen (Transrapid), statt Kriterien der Gestaltung von Technik zu diskutieren. Sie ist auch in ihrer Problemorientierung in zu hohem Maße reagierend: Amortisationsgesichtspunkte, Folgen für die Arbeitsplätze etc. sind (wichtige) Gesichtspunkte, die jedoch zu sehr im Blick auf bestehende Technik und ihren Einsatz, in zu geringem Maße im Blick auf zu entwickelnde Technik und gewünschte Veränderung hin diskutiert werden.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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