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TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



5.3 Verkehrstechnik

WERNER BÄRWALD
STAND UND ENTWICKLUNG DER VERKEHRSTECHNIK


These 1:
Ein dem Bedarf entsprechender Ausbau des Verkehrswegenetzes ist mit ressourcenbehafteten, ökologischen und monetären Grenzen verbunden. Eine bessere, effektivere Nutzung der Infrastruktur und eine Kooperation zwischen öffentlichem und individuellem Verkehr ist zwingend notwendig. Dabei soll die Individualität und die Mobilität des Einzelnen erhalten bleiben. Gleichzeitig muß der Austausch von Gütern umweltgerecht und sicher ablaufen. Szenarien für eine Integration von Verkehrspolitik und moderner Verkehrsinformations- und Verkehrsbeeinflussungstechnik in regionalen und globalen Rahmen sind notwendig.

These 2:
die Verkehrstechnik in ihrer Komplexität kann die Probleme einer effektiven Verkehrsabwicklung sinnvoll unterstützen. Zur Lösung der künftigen Verkehrsprobleme sind Jedoch neue Strategien, innovative Konzepte und unkonventionelle Szenarien übergreifend notwendig. Verkehr soll nicht weiter technisiert, sondern vermieden werden. Dem muß durch tragende verkehrspolitische Entscheidungen und durch neue Organisationsstrukturen Rechnung getragen werden.

These 3:
Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnik im Verkehrswesen, die Anwendung neuer innovativer Technologien kann zur Entschärfung der Verkehrsprobleme beitragen.

These 4:
In der Vergangenheit genügte die Signalisierung an Knoten, Kreuzungen und Fußgängerüberwegen. Künftig liegt der Schwerpunkt beim Verkehrsmanagement mit

  • Parkleitsystemen,
  • Autobahnleitsystemen,
  • Verkehrslenkungssystemen und einer
  • ÖPNV-Priorisierung.

Dafür sind Komplettlösungen gefordert.

These 5:
Komplettlösungen von Verkehrsmanagementsystemen umfassen

  • Gebührenerfassung und elektronische Zugangsberechtigungen,
  • individuelle Verkehrsbeeinflussungen, Zielführungen und nutzerspezifische Fahrgastinformationssysteme,
  • kollektive Verkehrsbeeinflussung im regionalen/globalen Bereich.

[Seite der Druckausg.: 178 ]

Damit verbunden sind kooperative Verkehrsleitsysteme für

  • Informationen über freie P & R-Kapazitäten, ÖPNV und innerstädtische Verkehrssituationen,
  • Verkehrserfassung mit zweckmäßigen Detektoren,
  • übergeordnete Leitsysteme,
  • automatische Abfertigungssysteme.

These 6:
Verkehrsleitsysteme müssen einem ganzheitlichen Konzept genügen, um gegen den Verkehrsinfarkt wirkungsvoll eingesetzt werden zu können. Es kommt auf Integration, nicht auf Isoliertheit an. Dafür sind politische Entscheidungen erforderlich. Neue unkonventionelle Wege müssen dabei gegangen werden.

These 7:
Im globalen, regionalen und innerstädtischen Verkehr werden die Straßenkapazitäten in zunehmendem Maße voll ausgelastet bzw. schon überlastet. Die Anzahl der Pkw wird in Deutschland nach gegenwärtigem Trend von heute 38,1 Mill. um etwa 20 % auf 45,8 Mill. im Jahre 2010 anwachsen. Der Verkehr wird zwangsläufig dichter. Die knappen Ressourcen des Bodens kann man nur über eine effektive Nutzung der Straßen meistern. Ökologische Probleme zwingen, den Individualverkehr rationell und umweltfreundlich zu gestalten. Die Problemfelder zum Erhalten einer funktionierenden und zum Schaffen einer ökologisch vernünftigen Infrastruktur verlangen intelligente Lösungskonzepte. Die Verkehrstechnik kann hier unterstützend wirken.

These 8:
Voraussetzung für ein effektives Verkehrsmanagement ist die möglichst globale (zumindest regionale) Kenntnis des aktuellen Verkehrsgeschehens in vernetzten Infrastrukturen. Für die Erfassung und für die Verarbeitung der Daten sowie für das Bereitstellen der notwendigen Managementinformationen ist eine Integration von Kommunikations- und Automatisierungstechnik in immer stärkerem Maße zu erkennen.

These 9:
Vergebührung von Verkehr schafft kurzzeitig Effekte und führt langfristig zu Verdrängungssituationen. Nach endlichen Zeitabständen sind durch Kostenverlagerungen bei der Belastung der Straße kaum gravierende Unterschiede gegenüber der bisherigen Situation zu erkennen. Damit ist Vergebührung des Verkehrs („Verkehr muß teuer werden!") eine falsche Richtung und nur in Verbindung mit integrierten Verkehrskonzepten gerechtfertigt. Das sollte bei den gewaltigen Investitionen in die notwendige Infrastruktur und in die mobilen Einheiten beachtet werden! Alternative könnte z. B. für den Lkw-Verkehr die „rollende Landstraße" sein.

These 10:
Kollektive Verkehrsleitsysteme sind für die Verkehrslenkung geeignet. Sie arbeiten mit

  • Wechselwegweisern,
  • Warnzeichen für Stau, Nebel und Glätte und
  • nutzen Verkehrsdurchsagen im Hörrundfunk.

Elektronische Mautsysteme könnten mittels räum- und zeitabhängigen Vergebührungen

[Seite der Druckausg.: 179 ]

eine kollektive Verkehrsbeeinflussung bewirken und zu einer homogeneren Lastverteilung führen. Parkleitsysteme im städtischen Bereich könnten Überfüllungen verringern.

These 11:
Individuelle Verkehrsleitsysteme erfordern entsprechende Kommunikations- und Informationstechnik im Auto. Sie erlauben das Ermitteln von Routenempfehlungen (für Fernfahrten) entsprechend der aktuellen Verkehrslage. Bei Kombination mit Mautsystemen (und bei unterschiedlichen Mautgebühren) kann so die schnellste, billigste und unter den gegebenen Bedingungen ökonomischste Route genutzt werden. Weitere Kopplungen mit Parkplatzreservierungs- und Vergebührungssystemen sind denkbar.

These 12:
Flottenmanagement erlaubt bessere Fahrzeugdisposition durch bessere Information und Kommunikation. Flottenmanagementsysteme können den Speditionen aktuelle Verkehrsdaten für eine dynamische optimale Routenplanung verfügbar machen. Die Fahrzeugflotte ist dabei mit Systemen

  • für Satellitenortung,
  • für Datenkommunikation und
  • mit Bordcomputern

ausgerüstet und mit der Flottenleitzentrale verbunden. Neben der Transportoptimierung wird ein Beitrag zur Minimierung von Fahrten im Güterverkehr erbracht, und die benutzte Fahrstrecke ist dokumentierbar.

These 13:
Flottenmanagement ermöglicht eine effektive Steuerung der Fahrzeugflotte und kann Leerfahrten bzw. Minderauslastungen verringern. Damit gewinnt die Informations- und Kommunikationstechnik strategischen Charakter für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
Die aktive und passive Kommunikation zwischen Flottenzentrale und Fahrerhaus erlaubt

  • das Erfassen der Lkw-Leistungsdaten,
  • eine Sendungsverfolgung,
  • die Real-Time-Kommunikation,
  • eine globale Fahrzeugortung,
  • eine operative Flottensteuerung und weiteres.

Lösungen bieten sich an über Satellitenkommunikation, Mobilfunk, MODAKOM und andere Varianten im fixen und mobilen Telekommunikationssektor.

These 14:
Die Elektronisierung des PKW ist die Basis für individuelle Verkehrsleitsysteme mit einer Zielführung im Fahrzeug entsprechend aktueller Verkehrssituationen. Technische Grundlage dafür können sein

  • MODACOM,
  • digitaler Verkehrsfunkkanal PDS,
  • Traffic Message Channel TMC.

[Seite der Druckausg.: 180 ]

Der Informationsaustausch für eine individuelle Verkehrsleitung zwischen zentraler Leitstelle und den sich bewegenden Fahrzeugen kann dabei anonym erfolgen, z. B. über Infrarot-Baken an den Verkehrsampeln.

These 15:
Für den individuellen Verkehr sind „öffentliche Infotheken" sinnvoll. Mit Hilfe der dort vorhandenen Datenbasis in Verkehrsinformationssystemen ist eine optimierte Auslastung der Verkehrsinfrastruktur denkbar. Als Grundlage für individuelle Entscheidungen sind verfügbar:

  • Routenvorschläge mit benötigter Fahrzeit,
  • individuelle Fahrpläne für öffentliche Verkehrsmittel,
  • Kosten- und Zeitvergleiche.

Diese Informationssysteme sollten gekoppelt sein mit Möglichkeiten des Fahrkartenkaufs, der Platzreservierung im Verkehrsmittel, der Reservierung von Parkplätzen und anderen Anwendungen.

These 16:
Der Priorisierung des öffentlichen Verkehrs und dem problemlosen Wechsel vom eigenen Auto auf öffentliche Verkehrsmittel wird in der Zukunft zwangsläufig eine immer größere Bedeutung zukommen. Damit verbunden ist die Forderung nach komplexen Konzepten für den ÖPNV. Dazu gehören:

  • dynamische Park & Ride-Systeme,
  • Kooperation der Verkehrsträger,
  • Stimulierung zur Benutzung des öffentlichen Verkehrsmittel.

These 17:
In Verbindung mit Park & Ride-Systemen gewinnen individuelle und besonders Touristik-Informationssysteme Bedeutung. Gekoppelt mit attraktiven Lösungen für insbesondere innerstädtischen und Ausflugsverkehr können sie eine Verkehrsentlastung und eine Verbesserung der ökologischen Bedingungen für die Umwelt bringen.

These 18:
Verkehrsinformationssysteme zur Verkehrslenkung und -Steuerung in einem allgemein Akzeptanz findenden Gesamtverkehrskonzept bedingen, die Organisations- und Rechtsrahmen zu überdenken. Private und hoheitliche Aufgaben müssen abgegrenzt werden. Die Ausgestaltung und vor allem die Mitbenutzung der vorhandenen bzw. im Aufbau befindlichen Kommunikationsinfrastruktur ist eingehend zu betrachten. Der für Verkehrs-leit- und -managementsysteme erforderliche Informationsbedarf ist noch weitgehend in seiner Verknüpfung bei komplexer Betrachtung unbekannt. Fragen des Datenschutzes sind zu lösen. Eine europaweite Anwendung ist notwendig und verlangt eine europaweite Standardisierung. Dafür sind funktionale, rechtliche und organisatorische Schnittstellen zwischen den Funktionseinheiten der Infrastruktur und den Fahrzeugen zu definieren. Einheitliche Funktionsabläufe und einheitliche Bedienerorberflächen vor allem im Fahrzeug sind wünschenswert.

These 19:
Die neuen Herausforderungen verkehrstechnischer Lösungen verlangen den Aufgaben entsprechend ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte. Eine Verbindung von

[Seite der Druckausg.: 181 ]

Verkehrsingenieur und Kommunikations- bzw. Informationstechniker ist künftig gefragt. Auf diese Situation müssen sich die Hochschulen und Universitäten einrichten. Mit dem Ausbildungsprofil des Verkehrsingenieurwesens an der Technischen Universität Dresden hat man sich rechtzeitig diesen Herausforderungen erfolgreich gestellt.

[Seite der Druckausg.: 182 ]

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WEERT CANZLER
RATIONALISIERUNG ODER VERMEIDUNG VON VERKEHR?


Vorbemerkung

Es handelt sich bei dem Titel „Rationalisierung oder Vermeidung von Verkehr?" um eine rhetorische Frage. Angesichts der hohen ökologischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Belastungen durch den Verkehr sind zweifellos alle Strategien relevant, die eine Erleichterung der Verkehrssituation ermöglichen. Die einschlägigen Prognosen gehen sogar noch von einer Expansion der Verkehrsleistungen aus, vor allem im Straßengüterverkehr und im privaten Freizeitverkehr. In der Verkehrs- und umweltwissenschaftlichen Diskussion ist unstrittig, daß die Grenzen des Verkehrswachstums in den westlichen Industrieländern längst erreicht sind. Eine Entkopplung von Verkehrs- und Wirtschaftswachstum hat deshalb für die deutsche und europäische Verkehrspolitik - zumindest auf der deklaratorischen Ebene - hohe Priorität. Daß dabei die Rationalisierung von Verkehrsleistungen nicht gegen die Vermeidung von Verkehr ausgespielt werden darf, ist evident. Wenn es allerdings um eine Hierarchisierung der Strategien geht, die zur Drosselung bzw. tendenziell zur Umkehr der Wachstumsdynamik im Verkehr umgesetzt werden sollen, sollte der Philosophie des Abfallgesetzes gefolgt werden, nach der die Vermeidung der Effektivierung vorzuziehen ist.

Im folgenden werden Thesen zur Zukunft des Verkehrs vertreten [Fn.1: Eine ausführliche Darstellung der Thesen findet sich in: Weert Canzler und Andreas Knie: Von der Automobilität zur Multimobilität Die Krise des Automobils als Chance für eine neue Verkehrs- und Produktpolitik, in; Jahrbuch Arbeit und Technik 1994, hrsg. von Werner Fricke, Bonn 1994] , die nur eingeschränkt für einen Verkehrsbereich, nämlich für den Autoverkehr, gelten. Ausgangspunkt der Fokussierung auf den Autoverkehr ist die Annahme, daß das Automobil als ein technisches Artefakt mit breiter Funktionalität und hoher Symbolkraft im Zentrum des Diskurses über Verkehr und Mobilität steht. Sozialwissenschaftliche Forschung zur Genese von (Autoverkehrs)Technik muß die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen für Technikentwicklung ebenso wie das Denken und Handeln der beteiligten Akteure im Blick haben. Beim Autoverkehr fällt besonders die Akzeptanz und Stabilität der ihr zugrundeliegenden technischen Basis, des Universalautos mit Verbrennungsmotors, trotz aller sattsam bekannter Negativeffekte auf. Den Thesen liegen die beiden Fragen einerseits nach der Rolle, die die entscheidenden Akteure des erfolgreichen Automobilismus, die Hersteller, der Staat und die Autofahrerinnen und Autofahrer, spielen, und andererseits nach den technischen Optionen zugrunde, die für eine „Verkehrswende" von der Automobilität zur Multimobilität von Bedeutung sein können.

Die Akteursanalyse des Automobilismus ist weder Selbstzweck noch intellektuelle Fingerübung. Sie ist vielmehr den Hypothesen geschuldet, daß zum einen die ökologischen und sozialen Kosten einer fortgesetzten Automobilisierung auf Basis der etablierten Techniken, die sich zunehmend auf neue Märkte bisher automobil unterversorgter Regionen

[Seite der Druckausg.: 183 ]

der Erde erstreckt, zum Gegensteuern zwingen, sollen irreversible Schäden nicht weiter vergrößert werden. Zum anderen droht das herkömmliche Automobil und die mit ihm verbundene industriestrukturelle Monokultur in das ökonomische Desaster zu fahren, wenn es unvorbereitet von politischen Restriktionen, Akzeptanzproblemen und faktischer Dysfunktionalität aufgrund seines bisherigen Erfolges getroffen wird.

Thesen zur Krise des Automobilismus

  1. Die Automobilhersteller setzen auch mittel- und langfristig auf das bisherige Erfolgskonzept des Universalautos. Damit sind verschiedene Anforderungen verbunden, die von einer Reichweite von mindestens 500 km je Tankfüllung über die Mindesttransportkapazität von vier Erwachsenen plus Gepäck bis zur möglichst hohen Beschleunigungsfähigkeit und Geschwindigkeit reichen. Die Antriebsbasis ist der Verbrennungsmotor. Die Fahrgastzelle und die doppelachsige Ausstattung mit vier Rädern sind die zentralen technischen Bestandteile eines mittlerweile fast einhundert Jahre alten Fahrzeugkonzeptes. Es entspricht im Kern immer noch den Anforderungen, die zu Beginn der Automobilentwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts von der kleinen rennbegeisterten Oberschicht an die Hersteller von Automobilen gerichtet wurde, die zudem ein individuelles Reisen gegenüber der gesellschaftlich egalisierenden Eisenbahn vorzog. Man kann dieses Fahrzeugkonzept pointiert als „Rennreiselimousine" bezeichnen. Die Rennreiselimousine ist jedoch an ihre ökologischen, politisch-administrativen und gesellschaftlichen Grenzen gekommen. Trotzdem halten die Autounternehmen krampfhaft an dem bewährten und über Jahrzehnte erfolgreichen Leitbild der Rennreiselimousine fest. Sie können sich dabei im Kern auch auf die Ansprüche der Nutzerinnen und Nutzer stützen. Das Leitbild der Rennreiselimousine ist das gemeinsame Ergebnis einer permanent reproduzierten Verständigung zwischen der Angebots- und der Nachfrageseite des Automobilismus.

    Neben den objektiven Restriktionen für den künftigen massenhaften Autoverkehr hat die Autoindustrie durch ihr Entwicklungsmuster „schneller - schwerer - stärker -teurer" besonders seit dem Verebben der zweiten Ölpreiswelle in den 70er Jahren das grundsätzlich von allen Akteuren getragene Automobilkonzept überreizt. Beispielsweise stieg die durchschnittliche Motorenleistung zwischen 1975 und 1992 von 62 PS auf 84 PS. Das abschreckendste Beispiel für die motorische Hochrüstung in der deutschen Autoindustrie ist die nicht zuletzt deshalb stark in die Kritik geratene S-Klasse von Mercedes-Benz: 1972 wurde noch eine Motorenpalette von 160 PS bis zum Spitzenmodell von 224 PS angeboten, 1991 lag die Spannbreite zwischen dem „Einstiegsmodell" von 231 PS bis zum 12-Zylinder mit 408 PS. Die Hersteller gerieten in den Teufelskreis von motorischer Aufrüstung und steigenden Sicherheitserfordernissen. Zusätzliche Sicherheitsleistungen für das Auto führen wiederum zu höherem Gewicht, das durch eine weitere Leistungssteigerung beim Antrieb ausgeglichen werden muß, will man die selbstgesteckten Beschleunigungs- und Geschwindigkeitsziele erreichen, usw., usw. Schließlich führt dieses antriebs- und sicherheitstechnische Over-Engineering zu einer Preisdynamik, die der deutschen Autoindustrie gerade in der internationalen Verdrängungskonkurrenz nicht zum Vorteil gereichte.

    [Seite der Druckausg.: 184 ]

  2. Die Innovationsbemühungen der Autoindustrie konzentrieren sich auf den Produktionsprozeß: Verringerung der Teilevielfalt, Verbesserung der Zulieferer-Produzenten-Struktur, Qualitätsmanagement und Global sourcing sind die aktuellen Stichworte der Rationalisierungsstrategien, die unter dem modischen Label der lean production in der Autoindustrie verstärkt Einzug halten. Hinsichtlich der Produktpalette ist es das Ziel der Autounternehmen, das Angebot auf möglichst viele Marktsegmente auszudehnen. Deshalb werden vermehrt Entwicklungsprogramme für Nischenfahrzeuge und Kleinwagen aufgelegt, die besonders von den deutschen Autoherstellern lange Zeit vernachlässigt worden sind. Diese Strategie der nachholenden Anpassung der Produktpalette wird als Downsizing bezeichnet. Trotz aller Differenzierung und der derzeitigen Downsizing-Tendenz bleibt die Orientierung der Autoproduzenten am Konzept der Rennreiselimousine dominant. Das gilt auch für die Antriebsfrage. Alternative Antriebe sind in der Produktplanung irrelevant. Sie können die Kriterien nach hoher Reichweite und andere unabdingbare Leistungsmerkmale nicht erfüllen. Lediglich anschlußfähige Antriebskonzepte wie der direkteinspritzende Diesel werden realisiert. Die produktionstechnisch so überaus innovationsfreudige Autoindustrie zeigt sich hinsichtlich ihres Produkts überaus konservativ. Die Globalisierung der Autoindustrie und die Verschärfung der Marktsituation haben nicht nur zu weltweiten Kostenreduktionen in der Produktion durch eine intensive Rationalisierung geführt, sie haben zugleich eine Konvergenz der Produkte in den einzelnen Marktsegmenten in bezug auf Design, Qualität, (Sicherheitstechnik und Preis hervorgebracht. Alle Anbieter optimieren das bewährte Autokonzept. Die Modellpolitik steht unter den rigiden Zwängen der Massenproduktion. Kein Anbieter schert aus dem weltweiten Konsens der Produktoptimierung aus.

  3. Die Beharrungs- und Optimierungsstrategien im Weltautomobilbau stehen im krassen Mißverhältnis zu den ökologischen, politisch-administrativen und gesellschaftlichen Problemen, die mit der rasant gestiegenen Automobilisierung verbunden sind. Wegen der drohenden Klimaveränderungen und anthropogenen Treibhauseffekte ist das Automobil mit Verbrennungsmotor nicht beliebig verallgemeinerbar. Die nachgeschaltete Reinigungstechnik, die mit dem Katalysator noch in den 80er Jahren die definitive Lösung der Abgasprobleme versprach, hat sich als unzureichend erwiesen. Der Kat ist in Kaltstartphasen ohne aufwendige Vorwärmtechnik wertlos und funktioniert bei Höchstgeschwindigkeiten und nach vielen Kilometern Fahrleistung oft nur lückenhaft. Insbesondere die CO2-Emissionen des Autoverkehrs sind mit den bekannten end-of-pipe-Verfahren nicht zu begrenzen. Darüber hinaus belastet der Autoverkehr vor allem die Luft der städtischen Ballungsräume in einem für die Gesundheit der Menschen nicht akzeptablen Maß. Schließlich zerstört der massenhafte Autoverkehr urbane Lebensqualitäten, führt zu zunehmender Versiegelung ökologisch unverzichtbarer Flächen und ermöglicht eine fortgesetzte Zersiedelung der Landschaften an den Rändern von Städten und Ballungsräumen.

  4. Auf politisch-administrativer Ebene kommt es einerseits zu einer annäherungsweisen Internalisierung der Kosten des Autoverkehrs, d. h. über höhere Mineralölsteuern, Road-Pricing-(Straßengebühren-)Tarife, Entsorgungsgebühren etc. zu einer drastischen Verteuerung des Autofahrens. Neben der deutlichen Verschärfung der steuerlichen Rahmenbedingungen für den motorisierten Individualverkehr wird eine Dezen

    [Seite der Druckausg.: 185 ]

    tralisierung der Verkehrspolitik zu einer Vielzahl von lokalen und regionalen Einschränkungen des Autoverkehrs führen. Einer Tendenz der Vereinheitlichung der Rahmenbedingungen im Zuge der europäischen Integration steht zugleich eine Tendenz zur Re-gionalisierung und Dezentralisierung der Verkehrspolitik gegenüber. Schulemachende Beispiele sind die autofreien Innenstädte von heute. Partielle kommunale Nutzungseinschränkungen für den Autoverkehr werden bei der anstehenden Umsetzung des § 40 des Bundesimmissionsschutzgesetzes wahrscheinlich. Der Sommersmog ist zum größten Teil auf die Konzentration und Diffusion von Autoemissionen zurückzuführen. Nicht zuletzt ist auch die Quotenauflage für ultra-low-emission- und zero-emission-Fahr-zeuge in Kalifornien ab 1997 von Bedeutung, weil Kalifornien bisher immer eine Vorreiterfunktion für die weltweiten Automobilmärkte ausfüllte. Das herkömmliche Auto verliert im übrigen mit jeder einzelnen Nutzungsrestriktion an Plausibilität als individuelles Universalfahrzeug.

  5. Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber dem überbordenden Straßenverkehr und einem möglichen Ausbau des Straßennetzes ist stark gesunken. Die Belastungen durch den motorisierten Individualverkehr sind bereits zu einem der zentralen politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Gerade weil das Straßennetz nicht wesentlich ausgebaut werden kann und gleichzeitig vermehrt mit lokalen Nutzungseinschränkungen gerechnet werden muß, erhöht sich noch einmal die Gefahr von Staus, Parkplatznot etc. Insgesamt ist trotz - oder vielleicht sogar wegen - Parkraumbewirtschaftung und Verkehrsleit- und -informationssystemen mit der zunehmenden Dysfunktionalität im Autoverkehr auszugehen.
    Die Nachfrage auf dem deutschen und europäischen Automarkt hat sich zudem in den 80er und beginnenden 90er Jahren stark differenziert, unter ökologischen Aspekten z. T. mit bedenklichen Folgen. Der Anteil der klassischen Limousine an den deutschen Gesamtzulassungen ist zwischen 1982 von 86 % auf 74 % im Jahr 1992 gesunken. Die Markterfolge von MiniVans, Cabrios, Offroad-Fahrzeugen etc. zeigen den Attraktivitätsverlust des klassischen Fahrzeugkonzepts, obgleich alle diese Nischenfahrzeuge auf der technischen Basis der Rennreiselimousine beruhen. Gleichzeitig vermehren sich die Indizien für eine relevante Nachfrage nach Klein- und Sparfahrzeugen. Darauf deuten neben einer Fülle von Umfrageergebnissen der Marktforschung vor allem die jüngsten Verkaufserfolge von Kleinwagen und schwächer motorisierten Einstiegsmodellen hin. Dieser Trend dürfte mit der überdurchschnittlichen Preisdynamik bei Neuwagen und mit dem tatsächlichen Nutzungsverhalten der weitaus meisten Autolenker zu tun haben. Im Durchschnitt sind 70 % aller täglichen Fahrten mit dem Auto nicht länger als 10 Kilometer und 98 % maximal 50 Kilometer. Angesichts des realen Nutzungsverhaltens ist der Piech'sche Traum von der Reichweite von 1000 Kilometer je Tankfüllung absurd.

  6. Die zuvörderst ökonomische Krise der Autoindustrie könnte für die Unternehmen Anlaß zu einem tiefgreifenden Kurswechsel in der Produktentwicklung und in den Marktstrategien sein. Derzeit konzentrieren sich allerdings alle deutschen Autohersteller - mit Ausnahme von Daimler-Benz, wo es aus anderen Gründen Probleme gibt - auf ihr Kerngeschäft. Eine bewußte Diversifizierung der Unternehmensaktivitäten als Unternehmenspolitik findet nicht statt. (Obgleich die Autounternehmen intern bereits viel di-

    [Seite der Druckausg.: 186 ]

    versifizierter und erfolgreich dienstleistungsbezogener sind, als gemeinhin und in der Selbstwahrnehmung gesehen wird.) Bei aller produktbezogenen Innovationsträgheit und trotz der technischen Überinterpretation des Leitbildes der Rennreiselimousine durch die Automobilhersteller ist jedoch eine „Verkehrswende" nur gemeinsam mit der Autoindustrie denkbar. Voraussetzung ist allerdings, daß sich die Unternehmen von ihrer Produktmonokultur lösen und große Schritte auf dem Weg zum umfassenden Mobilitätsanbieter machen. An die Stelle des einseitigen Leitbilds der Rennreiselimousine muß das Leitbild der Multimobilität treten, das auf die Stärken der verschiedenen Verkehrsträger zielt. Zur Multimobilität gehören auf der Produktebene die Entwicklung und Produktion von Systemen des Öffentlichen Verkehrs, die Etablierung von Verkehrsdienstleistungen und nicht zuletzt die Entwicklung und Produktion eines verbrauchsverminderten, zuverlässigen und leichten Automobils für den bevorzugten Einsatz in verkehrsinfrastrukturell nicht erschlossenen Regionen. Eine Wende zum Verkehrsdienstleister wäre dabei nicht nur kriseninduziert. Die Bedingungen zur Ausweitung der Aktivitäten der Automobilunternehmen sind auch vor dem Hintergrund der Bahnreform in Deutschland günstig. Warum sollten sich bisherige Autohersteller nicht zum Betreiber von Bahnstrecken und regionalisierten Nahverkehrsverbünden wandeln!

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KARL OTTO SCHALLABÖCK
VERKEHR - WOHNEN - ZEITSTRUKTUREN DES LEBENS


  1. Verkehr, Wohnen und Zeitstrukturen bezeichnen jedes für sich schon zentrale Gestaltungsfelder des Lebens; die Beobachtung der Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen findet wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch zunehmende Beachtung. Dies erscheint gerade auch deswegen verständlich, weil die bisher vorherrschenden Gestaltungsziele zunehmend problematisch werden, ihre Umsetzung sichtlich an Grenzen stößt und weil schon die einfache Weiterverfolgung der bisherigen Handlungsorientierungen mittel- und langfristig unverträglich erscheint. Im Rahmen der hier vorgelegten kurzen Thesen können nur einige grundlegende Sachverhalte und Überlegungen entwickelt werden, die zu einer langfristig verträglichen und ausgewogenen Gestaltung dieser Lebensbereiche gewisse Grundlagen und Anregungen bieten können.

  2. Die grundlegenden Zusammenhänge können summarisch folgendermaßen beschrieben werden: Bei Zeitbudget-Analysen stellt sich die Wohnung in hoch dominanter Form als räumlicher Lebensschwerpunkt dar. Lediglich etwa 4 % der Bevölkerung leben an einem Durchschnittstag nicht primär auf ihre Wohnung gestützt, dagegen verlassen über 20 % der Bevölkerung - wieder bezogen auf einen durchschnittlichen Tag - ganztags ihre Wohnung nicht. Der Rest, etwa drei Viertel der Bevölkerung, ist das, was wir üblicherweise als mobile Bevölkerung bezeichnen: Personen, die sich teils zu Hause, teils an auswärtigen Zielen aufhalten und sich zwischen diesen Orten bewegen. Selbst diese Personen sind zum überwiegenden Großteil der Zeit, nämlich etwa 17 Stunden, zu Hause, daneben etwa 6 Stunden an den auswärtigen Zielen und rund eine Stunde im Verkehr, davon im übrigen jeweils etwa zur Hälfte im motorisierten Individualverkehr (MIV) und mit anderen Verkehrsarten (nicht motorisierter und öffentlicher Verkehr). Im gesamtgesellschaftlichen Zeitbudget schlagen folglich der Aufenthalt zu Hause mit etwa 75 % und jener im Verkehr mit etwa 4 % zu Buche. Wie aus diesen Zahlen schon verständlich sein mag, sind die Wege dadurch gekennzeichnet, daß fast immer an einem der Endpunkte die Wohnung der betreffenden Person liegt. Diese Durchschnittsbetrachtung muß selbstverständlich - weiter unten - noch differenziert werden; sie zeigt aber bereits eine Gewichtsverteilung, die bei Planungs- und Entscheidungsprozessen bislang wohl nicht selten unzutreffend anders zugrunde gelegt wurde.

  3. Als maßgebliche Entwicklungslinien in den drei Gegenstandsbereichen kann herausgearbeitet werden: Bei der Zeitverwendungsstruktur sind nur geringe und langsame Veränderungen zu beobachten; insbesondere ist der zeitliche Verkehrsaufwand als nahezu konstant anzusprechen. Erhebliche Änderungen dagegen sind beim entfernungsmäßigen Verkehrsaufwand zu beobachten: durch Geschwindigkeitssteigerungen, vor allem durch Übergang auf schnellere Verkehrsmittel vergrößern sich der kilo-

    [Seite der Druckausg.: 188 ]

    metrische Verkehrsaufwand und das räumliche Aktionsfeld der Personen im Durchschnitt laufend. Die - im wesentlichen - gleiche Anzahl von auswärtigen Zielen wird bei - im wesentlichen - gleich großem Zeitaufwand in immer größerer Entfernung vom Wohnstandort erreicht. Verkehrlich ist dies in der Vergangenheit hauptsächlich über den Aufbau der Massenmotorisierung mit Pkw abgelaufen, daneben auch über die Beschleunigung im öffentlichen Verkehr, zumal im Eisenbahnfernverkehr. In jüngerer Zeit verläuft die Ausweitung des durchschnittlichen Kilometerbudgets pro Person bei gleichem Zeitaufwand vor allem über eine rapide Steigerung des Luftverkehrs. Für die Wohnungen selbst ist zum einen festzustellen, daß sich die Wohnfläche pro Person laufend erhöht; bei Betrachtung längerer Zeiträume ist dabei bereits in der Vergangenheit eine Vervielfachung des Wohnflächenanspruchs eingetreten, und für die Zukunft lassen sich kaum Abschwächungstendenzen oder im Selbstlauf wirksame Beschränkungen erkennen. Zum anderen hat sich die Lage der Wohnungen im Raum durch bevorzugten Zubau von Ein- und Zweifamilienhäusern auf zusätzlichen Siedlungsflächen in Richtung einer zunehmenden Streuung entwickelt, sowohl bei kleinräumiger als auch bei großräumiger Betrachtung. Damit veranlaßt die Veränderung der Siedlungsstruktur auch eine Erhöhung der Aktionsradien der Personen.

  4. Die eben angedeuteten Beziehungen werden in der Literatur seit längerer Zeit als selbstverstärkender „Teufelskreis der Mobilität" beschrieben: die Änderungen in einem Gebiet führen zu gleichsinnigen Änderungen in den anderen Gebieten, wodurch eine wechselseitige Stabilisierung und Fortsetzung der gegebenen expansiven Trends erzeugt wird. Mehr im einzelnen kann u. a. auf folgende Strukturen hingewiesen werden:
    Der Wunsch nach einem eigenen, möglichst auch schnellen Pkw ist nach wie vor weit verbreitet; auf Haushaltsebene steht mittlerweile weit überwiegend wenigstens ein (schneller) Pkw zur Verfügung. Die Verfügbarkeit einer individuellen, schnellen Mobilitätsmöglichkeit ermöglicht die zeitneutrale Ausweitung der Aktionsräume; sie unterstützt insbesondere den ohnehin auch für sich weitverbreiteten Wunsch nach einem (hübsch gelegenen und großen) Eigenheim, der mit zunehmender Entfernung von dichtbesiedelten und zentralen städtischen Räumen in der Regel jeweils leichter oder preiswerter oder großzügiger realisiert werden kann. Ist der Wohnstandort als für die einzelne Person zentraler Bezugsort erst einmal gesellschaftlich dezentral festgelegt, ergibt sich die Erhöhung der Aktionsräume zur Aufrechterhaltung der gewohnten Funktionen zwangsläufig und damit auch die Bindung an die Verfügbarkeit eines schnellen, individuellen Verkehrsmittels. Je großräumiger und gestreuter die Nutzung des Raumes stattfindet, desto schlechter sind verständlicherweise die Möglichkeiten, die individuellen Wegeprogramme nicht motorisiert abzuwickeln oder auch mit vertretbarem Aufwand einen hierfür geeigneten öffentlichen Verkehr anzubieten; damit wird die Fixierung auf den MIV weiter gefestigt. In der Folge steigen dann die gesellschaftlichen Ansprüche an das Straßennetz, insbesondere die in ihm möglichen Geschwindigkeiten; mit dem Ausbau des Straßennetzes und der damit gewährten „Zeiteinsparung" ist wiederum ein weiterer Impuls zur Ausweitung und weiter gestreuten Nutzung der Aktionsräume verbunden.

  5. Das in einigen Zentralkomponenten dargestellte positiv rückgekoppelte System läßt sich auch erheblich verfeinert und erweitert darstellen. Hier seien nur einige wenige Er-

    [Seite der Druckausg.: 189 ]

    gänzungen angedeutet: die Streuung der Funktionen, die Erweiterung der Aktionsräume und die Fixierung auf einen individuell steuerbaren schnellen Straßenverkehr beschränkt sich bekanntlich nicht auf die wohnungsbezogene private Mobilität; sie ist vielmehr, durch ähnliche Mechanismen bedingt, auch im Wirtschaftsverkehr von Personen und im Güterverkehr anzutreffen. Auch im Freizeitverkehr wirken ähnliche Mechanismen, sie sind angesichts des bereits weit fortgeschrittenen Übergangs zur Freizeitgesellschaft (die Erwerbsarbeit macht mittlerweile weniger als 10 % des gesamtgesellschaftlichen Zeitbudgets aus, etwa den gleichen Umfang wie die Tätigkeit Fernsehen [Fn.1: Von der Gesamtbevölkerung sind 40-45 % erwerbstätig; die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit beträgt unter 20 % der Jahresstunden. Auf die Gesamtgesellschaft umgerechnet ergibt sich daraus ein Erwerbsarbeitsanteil von etwas über 8 %.]).
    Auch für den Freizeitverkehr gilt, daß über Beschleunigungsvorgänge Ausweitungen der Aktionsräume ermöglicht und anschließend über Gewöhnungsprozesse und Verknüpfung mit anderen Funktionen habitualisiert werden. Besonderer Erwähnung bedarf speziell das Urlaubsverhalten; hier beobachten wir derzeit zunehmende Bestrebungen, den Mehrfachurlaub pro Jahr als gesellschaftliches Paradigma einzuführen, ähnlich der laufenden Entwicklung zur Mehrfachausstattung der Haushalte mit Pkw. Besonders relevant ist hier der Luftverkehr, der durch die sehr hohen angebotenen Geschwindigkeiten eine künftige Vervielfachung des Jahreskilometeraufwandes pro Person bei weiterhin wenig geändertem Aufwand an Verkehrszeit ermöglicht.

  6. Nun mag ja die bisherige Entwicklung von vielen als positiv eingeschätzt werden, und selbstverständlich sollte man die Leute bei der Realisierung ihrer Wünsche möglichst nicht genieren. Andererseits ist doch zunehmend offensichtlich, daß die Weiterverfolgung der Entwicklungstrends - logisch wenig verwunderlich bei selbstverstärkenden Regelkreisen - zunehmend ins ökologische, ökonomische und soziale Fiasko führt:Der Verkehr beansprucht laufend mehr Energie und wird damit aus Klimagesichtspunkten (als aktuellem Paradigma für die Umweltprobleme) immer mehr zur kritischen Größe; auch in der Funktion Wohnen macht die Ausweitung des Anspruchsniveaus die Energieeinsparungen weitgehend zunichte. Ökonomisch beanspruchen schon in der offengelegten Rechnung Verkehr und Wohnen die privaten und öffentlichen Haushalte ganz nachhaltig mit der Tendenz zur Unerschwinglichkeit, erst recht bei Einbeziehung der nicht offengelegten Kosten und Schäden, die auf die Allgemeinheit, auf andere Länder oder künftige Generationen übergewälzt werden. Gesellschaftlich wird die zunehmende Konfliktualität dieser Bereiche zwar zunehmend unübersehbar, es handelt sich um Themen ersten Ranges im politischen Meinungsstreit; in der Sache aber verläuft die Diskussion auf erschreckend unelaboriertem Niveau.

  7. Aus der Vielzahl wichtiger Gesichtspunkte sollen hier mehr sporadisch einige meist weniger berücksichtigte bezeichnet werden:
    Noch fast gemeinplätzig ist die Beobachtung, daß der zunehmende Verkehr sich tendenziell selbst ad absurdum führt, wenngleich die Tartarenmeldung von über 60 Staustunden je Person und Jahr wenig begründet erscheint. Weniger bekannt und diskutiert in der Öffentlichkeit ist schon die widersinnige Tatsache, daß die verkehrliche Erschließung - zumal von Erholungsräumen - die Raumnutzung zunehmend ein-

    [Seite der Druckausg.: 190 ]

    schränkt; in den Innenstädten ist es regelmäßig ein hartes Stück Arbeit, die Kaufmannschaft mit diesem Gedanken vertraut zu machen, seit dreißig Jahren. Die „zunehmende Hetze des modernen Lebens" ist zwar seit etwa 100 Jahren eine stehende Wendung, die trockene Analyse des Sachverhalts und die gesellschaftliche Veranstaltung einer Abhilfe dagegen sind eher ungewöhnlich; dabei ist es doch recht deutlich, daß es reichlich widersinnig ist, bei laufend steigender Lebenserwartung, bei ständig sinkender Arbeitsverpflichtung und immer mehr arbeitsentlastenden Helferlein im Haushalt, bei immer größeren Mobilitätsmöglichkeiten gleichzeitig immer weniger Zeit zu haben.
    Noch weniger bedacht wird der Sachverhalt, daß die laufende Entwicklung der räumlichen und zeitlichen Organisation des Lebens die traditionellen, aufeinander bezogenen Funktionen von Stadt und Land obsolet macht und an deren Stelle eine mehr stereotype Funktionsarmut erzeugt, mit nostalgisch hineingestreuten Zitaten der alten Funktionen von Urbanität, von Freiheit und Abenteuer etc. Weiter noch geht die Beobachtung, daß der Begriff der Gemeinde und seine politisch-praktische Installation weitgehend substanzlos werden, wenn die Menschen an einem Ort ihre Wohnung haben, an anderen Orten arbeiten, und sich zwecks gemeindlichem Leben - wenn überhaupt - hauptsächlich in wieder andere Gemeinden begeben.
    Wieder auf anderer Ebene liegt der Befund, daß die maßgeblichen Errungenschaften zeitgemäßen Lebens, die sich auch in der Zeitstruktur niederschlagen, nämlich der Computer am Arbeitsplatz, der Fernseher zu Hause und auf dem Weg dazwischen die Windschutzscheibe, einen eigentümlich gefilterten Blick auf die Wirklichkeit freigeben;
    dabei wird der maßgebliche (oder als maßgeblich erachtete) Zugang zur Wirklichkeit durch eine spezifische moderne Art von Realitätsverlust sichergestellt. Unser besonderes Interesse sollte dabei auch die Frage finden, wie sich die Welt den Kindern schrittweise aufbaut, wenn an die Stelle einer fortschreitenden, in erheblichem Umfang selbstbestimmten Erweiterung des räumlichen Aktionsfeldes die Addition sporadischer, mehr punktförmiger Erfahrungsräume tritt, verbunden durch Time-out-Zeiten, in denen man im Kindersitz festgeschnallt ist; oder wenn an die Stelle der Abarbeitung der eigenen Psychodramen mit Eltern, Geschwistern und Gespielen oder einfach der Tücke der Objekte zunehmend die Verarbeitung und Erzeugung von second hand life an TV und Spielkonsole tritt, mit deren eigentümlicher Mischung und Verwischung von Realitätsebenen.

  8. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß die laufende Entwicklung zwar Vorteile und Nachteile mit sich bringt, aber sichtlich nicht in gleichem Umfang für alle. Nachdem hierzu in den vergangenen Jahren viele einzelne Sachverhalte von einigen Kollegen und von mir herausgestellt wurden, kann in plakativer Vereinfachung darauf hingewiesen werden, daß die einen übermäßig an den Vorteilen partizipieren, die anderen mit den Nachteilen übermäßig belastet sind. Die einen sind vor allem männlich, in mittlerem Alter und nicht körperlich oder geistig eingeschränkt, erwerbstätig und mit ordentlichem Einkommen und Pkw versehen, leben in großzügigen und angenehmen Wohnverhältnissen etc.; die anderen sind eher weiblich, jung oder alt oder haben unentgeltlich für Junge oder Alte zu sorgen, weisen möglicherweise - und sei es in vorübergehender Form - körperliche oder geistige Einschränkungen auf, können oder dürfen keinen Pkw lenken oder haben keinen zur Verfügung, leben an gefährlichen Straßen etc. Die einen stellen zwar

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    die Minderheit dar, bestimmen aber die Richtung der Entwicklung; die anderen sind zwar mehr Menschen, aber weniger durchsetzungsfähig - im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten trachten sie mehr nach Teilnahme an den Vorteilen der anderen, als danach, die allgemeinen und eigenen aktuellen Interessen durchzusetzen.

  9. Erforderlich erscheint deshalb ein ausdrücklicher neuer gesellschaftlicher Konsens, der die Bedürfnisse der Allgemeinheit und die langfristigen ökonomischen und ökologischen Notwendigkeiten berücksichtigt. Die Aussichten hierfür erscheinen im Grundsatz nicht schlecht, weil einerseits die erforderlichen Erkenntnisse in hinreichender Deutlichkeit vorliegen, andererseits die Suboptimalität des laufenden Entwicklungspfades und dessen Orientierung an Partikularinteressen immer offener zutage treten.
    Als ein zentraler Gesichtspunkt bei einer Umorientierung ist eine Stärkung der Raumwiderstände und eine Änderung der Struktur dieser Widerstände herauszuarbeiten. Eine generelle Erhöhung der Raumwiderstände führt zu einem reduzierten Umfang der Verkehrsnachfrage, weniger bezüglich der Anzahl der Mobilitätsfälle als bezüglich des Entfernungsspektrums; damit schon wird der Nahraum aufgewertet, ein Beitrag zur Sicherung seiner Funktionen geleistet, und - als zentrale Parameter der Lebensqualität - Heimat und Verantwortlichkeit der Individuen gestützt. Strukturell kommt es naturgemäß darauf an, die Raumwiderstände insbesondere bezüglich großer zurückzulegender Distanzen zu erhöhen, dagegen bezüglich kurzer Entfernungen eher zu reduzieren; speziell die signifikante Senkung des Gradienten der Funktion zunehmender Geschwindigkeiten bei zunehmender Distanz ist für die relative Begünstigung der jeweils näheren Umgebung von Bedeutung. Hier soll nicht einer blinden Beschränkung das Wort geredet werden; vielmehr kann davon ausgegangen werden, daß sich die Verhältnisse weitgehend von selbst in einem vernünftigen Rahmen einpendeln, wenn Umfang und Geschwindigkeit des schnellen Verkehrs nach der Sozial- und Umweltverträglichkeit limitiert und mit den Kosten der negativen Seiteneffekte belastet werden. Aus gegenwärtiger Sicht erscheinen beispielsweise etwa folgende - entsprechend apparativ zu unterstützende - Höchstgeschwindigkeiten angemessen: in der geschlossenen Siedlungslage und in ökologischen Ausgleichslagen 30 km/h, im motorisierten individuell gesteuerten Verkehr auf eigenem Verkehrskörper (Eisenbahn) 200 km/h, sowie im Luftverkehr 400 km/h. Kostenmäßig erscheinen insbesondere beim motorisierten Straßenverkehr und beim Luftverkehr ganzahlige Vervielfachungen zur Erzielung der Kostenwahrheit erforderlich, wenngleich diese schrittweise anzustreben sind, um geeignete Anpassungen zu unterstützen und zu ermöglichen.

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KLAUS MILZ
VERKEHR DER ZUKUNFT


1. Bedeutung des Verkehrs

Rund ein Fünftel des Volkseinkommens wird jährlich in der Bundesrepublik für Verkehrsleistungen ausgegeben. Die damit verbundene Wertschöpfung weist den Verkehr als einen der zentralen Leistungssektoren der Volkswirtschaft aus.

Unser heutiges Wohlstandniveau wäre ohne ein funktionierendes Verkehrssystem nicht aufrecht zu erhalten. Zwischen der Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Verkehr besteht ein enger, wechselseitiger Zusammenhang.

Abbildung 1: Bedeutung des Verkehrs

Unser heutiges Wohlstandsniveau ist ohne ein funktionierendes Verkehrssystem nicht aufrecht zu erhalten.

1.1 Zusammenhang zwischen Verkehrsumfeld und Verkehr

Das Verkehrsaufkommen im Personen- und Güterverkehr ist aufs engste mit den sozio-ökonomischen Daten der Volkswirtschaft verbunden. Verkehr ist ganz überwiegend keine orginäre, sondern eine abgeleitete Aktivität, die entsteht, wenn wirtschaftliche Handlun-

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gen auf verschiedene Orte bezogen sind. Daher muß jeder Verkehrsprognose, insbesondere einem langfristig angelegten Szenarienbild der Verkehrsentwicklung, eine sorgfältige Projektion der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung, der Technologie, der Flächennutzung sowie der politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen vorausgehen. Umweltschutzaspekte können ebenfalls als politisch festgelegte Rahmenbedingungen in diesem System aufgefaßt werden.

Maßnahmen zum Eingriff in das komplexe Verkehrssystem bedürfen einer mindestens ebenso genauen Analyse dieser Interdependenzen, wenn sie nicht wirkungslos bleiben oder ungeahnte Nebenwirkungen haben sollen, zumal das Verkehrssystem seinerseits die Wirtschaftsentwicklung nachhaltig beeinflußt.



Abbildung 2 zeigt diesen Zusammenhang zwischen den Einflußgrößen. Generell lassen sich die Einflußgrößen in vier Blöcke „Bevölkerung und Wirtschaft", „Technologieentwicklung", „Raumstruktur und Flächennutzung" sowie „Gesetzgebung und politische Rahmenbedingungen" integrieren.

Im nächsten Punkt möchte ich insbesondere auf die Verknüpfung von Wirtschaft und Verkehr eingehen.

1.2 Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Verkehr

Ein funktionsfähiges Verkehrssystem gehört zu den entscheidenden Voraussetzungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung.

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Abbildung 3: Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Verkehr

Kein Wirtschaftswachstum ohne wachsenden Verkehr.



Räumliche Arbeitsteilung setzt sichere und leistungsstarke Verkehrsbeziehungen voraus. Produktionsgewinne aus einer Intensivierung der zwischenräumlichen Arbeitsteilung sind nur bei einer Leistungssteigerung des Verkehrs erreichbar. Dies trifft für die Erschließung der Regionen und Standorte eines Landes ebenso zu wie für die Integration internationaler Produktionsstandorte und Märkte.

Die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Verkehr sind wechselseitig. Zum einen muß das Verkehrsleistungsangebot den Anforderungen von Produktion und Distribution entsprechen. Bedarf und Nachfrage lösen so die Verkehrsströme aus. Der Verkehr kann aber auch ein bewußt eingesetztes Instrument sein, das wirtschaftliche Entwicklungen anstößt und auf bestimmte Ziele lenkt. Dann induziert das vorgegebene Angebot die Nachfrage, indem Standortgründungen und Standortverdichtungen ermöglicht und gefördert werden.

Anstoßende Impulse geben vor allem die quantitative und qualitative Ausstattung mit Verkehrswegen und sonstigen ortsfesten Anlagen, die als Verkehrsinfrastruktur zusammengefaßt werden. Gute Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen tragen wesentlich und oft entscheidend dazu bei, daß die latent vorhandenen wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten von Regionen, Ländern und Kontinenten auch tatsächlich ausgeschöpft werden. Engpässe in der Infrastruktur des Verkehrs führen dagegen zu Störungen, Verzögerungen und unnötigen Kosten; sie verhindern mögliches Wachstum.

1.3 Zusammenhang zwischen Politik und Verkehr

Rechtliche Rahmenbedingungen bestimmen meist über die Organisationsform der Verkehrsbetriebe. Besonders solche Unternehmen, die in bestimmten Räumen oder für bestimmte Verkehrsmittel marktbeherrschend sind, werden oft mehr nach „übergeordneten" Gesichtspunkten (Beförderungs- und Fürsorgepflicht des Staates) als nach Wirtschaftlichkeitskriterien geleitet.

Die Internalisierung externer Kosten, das für ein marktwirtschaftlich orientiertes Wirtschaftssystem adäquate Instrument, das zunehmend in der politischen Diskussion gefordert wird, ist gleichzeitig wohl am schwersten in geeigneter Form durchzusetzen. Gleichwohl wird dieses Instrument wohl zunehmend eingesetzt werden, zumal die von den Verkehrssystemen ausgehenden Wachstumsimpulse sich in den Industrieländern (insbesondere in Westeuropa) abgeschwächt haben und die Notwendigkeit einer ökonomischen Bewirtschaftung der sich verknappenden Kapazitätsreserven der Infrastruktur ohnehin wächst.

Abbildung 4: Zusammenhang zwischen Politik und Verkehr

Aktuelle politische Themen:

  • Bahnstrukturreform
  • Straßengüterverkehr
  • Luftverkehrsbeziehungen
  • Umweltgerechter Verkehr
  • Fernstraßen und Schienenwege
  • Harmonisierung des Verkehrsmarktes


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Aktuelle verkehrspolitische Themen, die derzeit in Deutschland diskutiert und mit hoher Priorisierung vorangetrieben werden, sind (Abbildung 4):

  • Bahnstrukturreform; Grundlage ist der Kabinettsbeschluß vom 17. Februar 1993.
  • Abgabenharmonisierung im Straßengüterverkehr
    • weitere Liberalisierung des Straßengüterverkehrs
    • Anlastung der Wegekosten im Straßengüterverkehr
  • Deutsch-amerikanische Luftverkehrsbeziehungen
    • Neues Luftverkehrsabkommen am 24. September 1993 abgeschlossen.
    • Bonn will den deutschen Anteil am Flugverkehr über den Atlantik von derzeit 26 auf mindestens 40 Prozent steigern.
  • Umweltgerechte Gestaltung des Verkehrs
    • CO2-Ausstoß senken
    • Verkehrsvermeidung/Verkehrsreduzierung
    • umweltfreundlicher Verkehr durch Vernetzung der Verkehrsträger untereinander
    • Optimierung des Verkehrs (z. B. Güterverkehrszentren und City-Logistik)
    • Reduzierung von verkehrsbedingten Schadstoffen
  • Fernstraßenausbauänderungs- und Schienenwegeausbaugesetz zum Bundesverkehrswegeplan 1992
    • Ebenso wie für die Straße soll der Bedarf für den Ausbau des Schienenetzes gesetzlich festgelegt werden.
  • Harmonisierung der Marktbedingungen
    • Ab 1. Januar 1994 gilt die Aufhebung der staatlich festgesetzten Tarife im Güterverkehr.
    • Ziel ist die weitere Harmonisierung der Marktbedingungen durch Anpassung der nationalen Marktordnung an die Regeln des EG-Binnenmarktes.

1.4 Zusammenhänge zwischen Mobilität und Verkehr

Eine hohe Lebensqualität, wie sie beispielsweise in den westeuropäischen Staaten anzutreffen ist, erzeugt eine große Mobilität der Bevölkerung. Dabei lassen sich eine Reihe von Konflikten ableiten. Im Spannungsfeld zwischen den Mobilitätserfordernissen einer hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und den sich wandelnden gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen werden sich die Zielkonflikte künftig merklich verstärken.

Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Mobilität und Verkehr

Eine höhere Lebensqualität erzeugt eine größere Mobilität.



Diese Zuspitzung erfolgt vor dem Hintergrund der zunehmend sichtbar werdenden Begrenztheit der Ressourcen, der Befindlichkeit der unmittelbar betroffenen Menschen und einer Intensivierung der gesetzlichen Rahmenbedigungen.

Auch der politisch favorisierte öffentliche Personennahverkehr sieht sich Einschrän-

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kungen gegenüber. Die zunehmenden finanziellen Engpässe in den kommunalen Haushalten lassen spürbare Verbesserungen der Linienerweiterung, der Bedienungshäufigkeit und des Beförderungskomforts nur noch in wenigen Einzelfällen zu.

2. Trendaussagen zur Verkehrsentwicklung

Die verkehrspolitischen Herausforderungen erfordern Verkehrsmittel, die leistungsfähiger sind, die mehr Verkehr bewältigen und die weniger kosten.

Abbildung 6: Trendaussagen zur Verkehrsentwicklung
Systeme für den Stadt- und Regionalverkehr



2.1 Entwicklung des Stadtverkehrs

2.1.1 Personenverkehr

In den deutschen Großstädten ist der öffentliche Personennahverkehr in der Regel gut ausgebaut. Immer lauter wird gegenwärtig der Ruf, den Pkw-Verkehr vermehrt auf die Schiene zu verlagern, um ein Verkehrschaos zu vermeiden und die natürlichen Ressourcen zu schonen. Dies wird verursacht von den negativen Auswirkungen des motorisierten Individualverkehrs, angefangen vom Flächenverbrauch über Lärm- und Abgasbelastungen bis hin zu Blechlawinen auf den Autofriedhöfen.

Doch auch wenn man eine Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs auf den öffentlichen Personennahverkehr politisch oder wirtschaftlich erzwingen wollte, bleibt die Feststellung, daß der ÖPNV gegenwärtig nicht in der Lage ist, den derzeitigen Verkehr und

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seine prognostizierten Zuwächse aufzunehmen. Zum Teil liegt das daran, daß öffentliche Verkehrsmittel in den Hauptverkehrszeiten schon überlastet sind; zum Teil können viele, insbesondere ländliche Regionen wegen immenser Kosten nicht durch öffentliche Schnellverkehrsmittel erschlossen werden.

Die Chancen für den öffentlichen Personennahverkehr in den Städten können erhöht

werden durch

  • Bevorzugung des ÖPNV
  • Restriktionen für den Pkw-Verkehr
  • Verbesserung des ÖPNV.

Das Umweltbewußtsein der Bevölkerung wird weiter steigen und die Menschen werden immer weniger bereit sein, Beeinträchtigungen durch den Verkehr hinzunehmen. Deshalb kann die Zukunft des Stadtverkehrs nur in einem leistungsfähigen und nutzerfreundlichen öffentlichen oder durch private Betreiber organisierten Personennahverkehr liegen.

2.1.2 Güterverkehr

Der Güterverkehr in den Städten wird fast ausschließlich mit Straßenverkehrsmitteln realisiert. Die kleinen, großen und mittleren Lkw behindern mehr und mehr den Straßenverkehr der Städte. Zunehmend schwieriger gestaltet sich der Lieferverkehr in den zentralen Bereichen.

Der Bau von Güterverkehrszentren und nachgeschalteten Güterverteilzentren wird systematisch realisiert. Sperrungen der Innenstädte für bestimmte Lkw-Größen werden zunehmen.

Über die Nutzung der Nahverkehrstrassen für die Bewältigung der Güterverkehrsströme wird gegenwärtig nachgedacht.

Unterirdische Beförderungskanäle und Güterverteilzentren scheinen aus heutiger Sicht bis zum Jahre 2010 aus Kostengründen nicht realisierbar.

2.2 Entwicklung des Verkehrs in der Region

2.2.1 Personenverkehr

Der Berufspendel- und Einkaufsverkehrwerden erhebliche zusätzliche Probleme bereiten, da das Einfahren mit dem Pkw in die Zentren der Ballungsräume erschwert wird. Um Restriktionen für den Pkw zu ermöglichen, müssen entsprechende Verbesserungsmaßnahmen zur Attraktivitätssteigerung beim Regionalverkehr durchgeführt werden. Die für den Regionalverkehr erforderlichen Finanzmittel werden bis 2010 bereitgestellt. Die Mittelaufbringung wird durch fiskalische Sonderbelastungen des Pkw-Verkehrs erfolgen.

In mittel und schwach verdichteten Räumen wird sich der Trend zu höherer individueller Motorisierung fortsetzen. Nachhaltige Verkehrsprobleme werden sich in den typisch ländlichen Gebieten daraus ergeben, daß die Versorgung mit Regionalverkehrsleistungen überaus schwierig wird. Der Regionalverkehr wurde aufgrund ökonomischer Zwänge in der Vergangenheit oft nicht nur nicht ausgebaut, sondern sogar zurückentwickelt.

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2.2.2 Güterverkehr

Der Güterverkehr in den Ballungsräumen wird vorwiegend auf den Straße abgewickelt. Dadurch erhöht sich die Belastung auf den Straßen um ein Vielfaches. Eine zunehmende Bündelung des Güterverkehrs unter verstärkter Nutzung der Bahn wird in der Zukunft unumgänglich sein. Denkbar wären auch rund um die Uhr verkehrende Züge, die die regionalen Stückguttransporte von der Straße auf die Schiene holen könnten. Experten rechnen, daß gut zwei Drittel aller Lastfahrten im Verkehr unter 150 Kilometern Distanz durch ein Ringzugsystem abgedeckt werden könnten.

Als Lösungsansatz sind im Kreise fahrende Züge in kurzen Abständen vorstellbar. An beliebig vielen Haltepunkten können Container just in time per Kran aufgeladen und zum nächsten Umschlagterminal transportiert werden, von wo aus die Waren Fernziele erreichen können.

Diese Variante, so Experten, wäre nicht nur umweltfreundlich, sondern bis zu 20 Prozent billiger als der Lkw. Denn durch das Kreiselprinzip werden teure Rangiermanöver und aufwendige Spezialloks überflüssig. Eine Feinverteilung vom Umschlagplatz bis zum Kaufhaus könnte möglicherweise mit Elektrolastern abgewickelt werden.

2.2.3 Bahnstrukturreform

Wegen der zunehmenden Verkehrsprobleme auf den Straßen, des sich im Wertewandel befindlichen Umweltbewußtseins und eines notwendig gewordenen wirtschaftlichen Betriebes von Verkehrsunternehmen wurde die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs im Zusammenhang mit der Bahnstrukturreform beschlossen. Die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs der Staatsbahnen wird den gesamten ÖPNV und auch den Güterverkehr auf der Schiene einbeziehen. Durch die neuen organisatorischen Strukturen werden die Verkehrsunternehmen von gemeinwirtschaftlichen Lasten befreit, in Profit-Center umgewandelt und die Schienenfahrwege für Dritte geöffnet. Das bedeutet also, daß die politische und finanzielle Verantwortung für das gesamte Angebot im Regionalverkehr auf die Gebietskörperschaften übertragen wird. 1996 werden alle Bundesländer in Deutschland den Regionalverkehr übernehmen.

Die Bahnreform in Deutschland stellt keine losgelöste nationale Entwicklung dar, sondern ist ein Element und Teil der Philosophie der europäischen Eisenbahnpolitik.

2.2.4 Veränderte Organisationsformen

Im Rahmen der Regionalisierung des Schienennahverkehrs der Deutschen Bahnen sind folgende Ansätze möglich:

  1. Der Fahrweg bleibt im Eigentum der DB

    1.1 Den Betrieb führt weiterhin die DB durch.

    1.2 Den Betrieb führt ein anderes Unternehmen durch.

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  2. Der Fahrweg geht in das Eigentum der Gebietskörperschaften über.

    2.1 Den Betrieb führt weiterhin die DB durch.

    2.2 Den Betrieb führt ein anderes Unternehmen durch.

Alle vier Modelle sind bisher bereits in der Praxis umgesetzt worden, wie die folgenden Bei spiele zu den erwähnten Ansätzen zeigen:

1.1 Der Kreis Euskirchen beteiligt sich an den Betriebskosten für eine DB-Strecke.

1.2 Den Betrieb auf ausgewählten DB-Strecken hat die Regentalbahn AG übernommen.

2.1 Die DB befährt im Auftrag der Stadt Monheim/Schwaben eine Güterzugstrecke.

2.2 Die Dürener Kreisbahn GmbH übernahm Eigentum und Betrieb von DB-Strecken

2.2.5 Veränderte Verantwortlichkeiten

Der Zugbetrieb wird im Regionalverkehr weitgehend auf die Länder verlagert, wobei nachfolgende Organisationsformen möglich sind:

  • Teilprivatisierung
  • Verkehrsverbund als Zusammenschluß von Verkehrsunternehmen mit regionalen Aufgaben und als Schnittstellenmanagement zum überregionalen Netz und zu den lokalen Netzen
  • Betriebsführungsgesellschaften.

Die Länder verwalten dann ein geschlossenes Verkehrssystem unter Wahrung eines marktgerechten Wettbewerbs, wobei die Verantwortung in einer Hand liegt (in einer GmbH), deren Gesellschafter kommunale Gebietskörperschaften sind.

Bereits heute zeichnet sich deutlich eine neue Zuständigkeitsverteilung im Regionalverkehr ab. Im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr ist sie bereits verwirklicht. Im Rhein-Main-Verkehrsverbund, der gegenwärtig gegründet wird, findet sie ebenfalls ihren Niederschlag in folgendem Modell mit drei Zuständigkeitsebenen:

  • In der politischen Ebene ist die Entscheidungs- und Finanzkompetenz verankert. Dort werden die Bedienungs- und Qualitätsstandards, die Grundzüge des Tarifs sowie die Art der Finanzierung festgelegt.
  • In der Management-Ebene liegt die Fachkompetenz für übergeordnete Aufgaben. Dazu gehören Planung, Koordinierung, Leistungsvergabe, Überwachung, Marketing und sonstige gemeinsame Aufgaben.
  • In der Betreiber-Ebene ist die Fachkompetenz in Detailfragen angesiedelt und dort liegt auch die Praxiserfahrung vor. Ihr obliegt die operative Abwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs in all ihren Einzelheiten. Hier können alle möglichen Betreiber (Staatsbahn, private Unternehmen, Sonstige) eingesetzt werden.

Somit sind die künftigen Aufgabenträger in der Lage, die verschiedenen Anbieter von Nahverkehrsleistungen im Rahmen eines integrierten Nahverkehrsplanes zu vernetzen und ein verbessertes Angebot auf die Beine zu stellen, natürlich unter der Überschrift:

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  • Wettbewerb statt Einheitsangebot,
  • Attraktivitätssteigerung statt Leistungseinschränkungen,
  • Anbindung der Fläche statt Konzentration auf die Ballungszentren.

2.3 Entwicklung des Fernverkehrs

2.3.1 Personenverkehr

In allen zentraleuropäischen Staaten ist mit einer positiven Entwicklung der Mobilität zu rechnen. Eine weitere Zunahme des Pkw-Bestandes ist zu erwarten, wobei in den schwächer entwickelten Ländern noch ein erhebliches Nachholpotential besteht. Dies wird zur Steigerung der Verkehrsleistung im motorisierten Individualverkehr führen.

Die Bahn wird aufgrund der abzusehenden Angebotsverbesserungen ebenfalls einen Zuwachs der Personenverkehrsleistung erreichen. Im Zuge des Europäischen Binnenmarktes wird das Europäische Hochgeschwindigkeitsnetz weiter ausgebaut. Ein Markt für Hochgeschwindigkeitszüge ist aber auch in Osteuropa, sowie in Amerika und im mittleren und fernen Osten vorhanden.

Das Angebot eines leistungsfähigen und attraktiven Schienenfernverkehrs stellt ein wesentliches Kriterium zur Veränderung des modal split im Personenverkehr zu seinen Gunsten dar. Fernverkehrsschienenfahrzeuge, die zunehmend Service und Dienstleistungen für den Reisenden anbieten, so daß er die Fahrzeit sinnvoll nutzen kann, bewirken eine Verlagerung der Fernfahrten vom Auto auf die Bahn. Schnellverkehrsverbindungen gewinnen für den Mittelstreckenverkehr an Bedeutung und werden aus dem Wettbewerb mit dem Flugverkehr als Sieger hervorgehen. Für den Urlaubsreiseverkehr sind Angebot und Akzeptanz von modernen Autoreise- und Hotelzügen durchaus denkbar.

Innovative Verkehrssysteme, wie beispielsweise der Transrapid, werden auf dem Verkehrsmarkt Einzug halten. Aus heutiger Sicht ist eine Vermarktung in den USA und Canada durchaus denkbar. Experten schätzten, daß weltweit 42 Strecken mit einer Gesamtlänge von 22 000 Kilometern für den Einsatz des Transrapid geeignet sind.

Der Straßenverkehr leidet ähnlich wie der Nahverkehr unter Kapazitätsengpässen. Im Fernverkehr auf der Straße werden zunehmend kollektive und individuelle Beeinflussungs-systeme eingesetzt, um der Überlastung des Straßennetzes entgegenzuwirken.

2.3.2 Güterverkehr

Die Abschätzung der für den Güterverkehr maßgeblichen Einflußgrößen bis zum Jahre 2010 ergeben durchgängig Entwicklungen, die auf eine Intensivierung des Güteraustausches hinweisen. Durch die Grenzöffnung werden sich Güterverkehrsströme verlagern, und der Güterverkehr in Ost-West-Richtung wird stark zunehmen. Gegenwärtig wird der größte Anteil des Güterverkehrs auf der Straße bewältigt. Dies hat übervolle Autobahnen und extrem lange Wartezeiten an den Grenzübergängen zur Folge.

Vor allem der Transport von Massensendungen über möglichst weite Entfernungen wird künftig vermehrt durch die Schiene realisiert. Der Schienen-Güterverkehr wird im Bereich des kombinierten Verkehrs einen beachtlichen Stellenwert erreichen. Hierzu sind effiziente Fahrzeuge, leistungsfähige Infrastruktur und moderne Güterverteilzentren erforder-

[Seite der Druckausg.: 201 ]

lich. Die Industrie beschäftigt sich schon seit einiger Zeit mit der Erarbeitung solcher Konzepte. Beispielsweise läuft bei AEG Bahnsysteme ein Forschungsprojekt mit dem Namen „Güterverkehrskonzept 2000".

2.3.3 Veränderte Organisationsformen

Den Begriff „die Bahn" wird es künftig nicht mehr als einheitliche Organisation geben. Es wird für die selbständigen Bereiche Fahrweg, Güterverkehr und Personenverkehr Kapitalgesellschaften geben, die am Markt akquirieren und operieren und die ihre Geschäfte nach kaufmännischen Grundsätzen abwickeln. Die Deutschen Bahnen werden sich in verschiedene Unternehmensbereiche aufsplitten:

  • Unternehmensbereich Personenverkehr: eigenverantwortliche Profitcenter mit direktem Zugriff auf ihre spezifischen kommerziellen, betrieblichen und technischen Ressourcen und Funktionen
  • Unternehmensbereich Güterverkehr: eigenverantwortliche Profitcenter mit direktem Zugriff auf ihre spezifischen kommerziellen, betrieblichen und technischen Ressourcen und Funktionen
  • Unternehmensbereich Fahrweg: verantwortlich für die Vorhaltung des Fahrweges und den Fahrwegbetrieb
  • Unternehmensbereich Traktion und Werke: interner Dienstleister mit Aufgaben der Zugförderung und der Werke für die Fahrzeuginstandhaltung.

2.4 Modal Split

Der modal split sagt aus, mit welchem Verkehrsmittel (von den Füßen über das Auto bis hin zum öffentlichen Personennahverkehr) eine Ortsveränderung realisiert wurde.

Hauptverkehrsmittel sind der Pkw und das Motorrad, der öffentliche Personennahverkehr wird nur zu einem Bruchteil in Anspruch genommen. Ursachen für diese Verschiebung des modal split zugunsten des Autos sind:

  • Erhöhung des Wohlstandes der Gesellschaft
  • Zunahme der Arbeitsteilung (viele Wege aus wirtschaftlicher Sicht erforderlich)
  • Zunehmende Trennung von Wohnen und Arbeiten
  • Erhöhung der Kfz-Verfügbarkeit
  • Mobilitätsvorteile des Pkw gegenüber dem ÖPNV (Zunahme der Bequemlichkeit)
  • Zunahme der Kriminalität auf den Straßen und in den Verkehrsmitteln
  • Verkürzung der Arbeitszeit (mehr Zeit für Mobilität)
  • verändertes Freizeitverhalten.

Folgende Trendaussagen lassen sich für den modal split ableiten:

  • Je nach Personengruppe ergeben sich unterschiedliche Wegehäufigkeiten und Wegezweckaufteilungen.
  • Hauptsächliches Verkehrsmittel im Berufsverkehr ist das Auto.

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  • Bei den Freizeitwegen dominiert sowohl die Pkw-Nutzung als auch der Fuß- und Radverkehr.
  • Die Rolle des öffentlichen Verkehrs ist im Freizeitbereich im wesentlichen auf den Langstreckenverkehr beschränkt.
  • Einkaufen/Versorgen ist der Hauptzweck an Werktagen.
  • Im Einkaufs-/Versorgungsverkehr dominiert der nicht-motorisierte Verkehr.

Fazit. Immer mehr Wege werden mit dem Pkw zurückgelegt. Hinter dieser nüchternen Aussage verbergen sich zunehmende Belastungen für Mensch und Natur, wie z. B.

  • Unfälle
  • Flächenverbrauch
  • Luftverschmutzung.

Deshalb vollzieht sich ein gesellschaftlicher Wertewandel, der

  • die Schonung der natürlichen Ressourcen und
  • die Sicherheit des Menschen

mehr und mehr in den Vordergrund stellt. Es ist an der Zeit, über Verkehrskonzepte nachzudenken und zu diskutieren, die diese Ziele erfüllen.

2.5 Kooperation unterschiedlicher Verkehrsträger

Der Verkehr der Zukunft kann und darf nur ein Verkehr sein, der alle Verkehrsträger integriert. Kein Verkehrsmittel allein ist in der Lage, den Verkehr der Zukunft zu bewältigen. Die Verkehrsmittel müssen entsprechend ihren Vorteilen eingesetzt werden. Dabei werden bestimmte Verkehrsmittel für die Abwicklung des Verkehrs favorisiert, für andere Verkehrsmittel bietet sich nur eine Nischenfunktion.

Als Folge des Kostendrucks zeigt sich ein Trend zum teilweisen Abbau des Konkurrenzverhaltens bis hin zur Kooperation unterschiedlicher Verkehrsträger im Hochgeschwindigkeitsverkehr. Beispiele für diese Zusammenarbeit sind u. a. gemeinsame Aktionen der Deutschen Bundesbahn und der Lufthansa (z. B. Fly & Drive; Rail & Fly; Rail & Ride).

Um ein optimales Miteinander der Verkehrssysteme zu garantieren, ist ein leistungsfähiges und attraktives Schnittstellenmanagement erforderlich, das die Nahtstellen zwischen den Verkehrsträgern verbindet und verknüpft. Der Einsatz von Steuerungsinstrumenten zur Beeinflussung des Verkehrsverhaltens wird sich in den kommenden Jahren aufgrund der Kapazitäts- und Umweltproblematik als unabdingbar herausstellen. Die hierfür in Frage kommenden Maßnahmen sind sehr vielseitig und reichen von Marktlösungen (z. B. Road-Pricing) bis hin zu Ge- und Verboten. Ökonomische Anreiz- oder Restriktionssysteme werden an Bedeutung gewinnen.

Die Ermittlung der von jedem Verkehrssystem verursachten Kosten (inklusive der Umweltbelastungen) ist zwingend erforderlich. Die Kosten für ein Verkehrsunternehmen dürfen nicht nur nach betriebswirtschaftlichen Aspekten betrachtet, sondern müssen auch in

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einem volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rahmen gesehen werden. Dabei ist auch die gegenwärtig noch bestehende Verzerrung der Wettbewerbsposition zwischen Schiene und Straße aus dem Weg zu räumen.

3. Rolle des spurgebundenen Verkehrs für die Zukunft

3.1 Unter ökonomischen Aspekten

Technologische Rahmenbedingungen werden den Verkehrssektor und insbesondere den Schienenverkehr nachhaltig prägen. Neu wird sein, daß ein verstärkter technologischer Anpassungsdruck eine ständige Angleichung der Fahrzeugtechnik und der Produktionsprozesse fordert. Die Konsequenz ist, daß während der Lebensdauer eines Fahrzeuges Veränderungen entsprechend dem Stand der Technik gefordert werden. Es werden leichte und kostengünstige Fahrzeuge angeboten werden müssen, die jederzeit aufrüstbar sind. Deshalb werden in der Zukunft modulare Fahrzeugkonzepte verwirklicht.

Der Kostendruck bezieht sich nicht nur auf die Beschaffung der Fahrzeuge und den Ausbau der Infrastruktur (einschließlich Sicherungs- und Leittechnik) sondern auch auf den Betrieb der Verkehrssysteme.

[Seite der Druckausg.: 204 ]




3.2 Unter umweltpolitischen Gesichtspunkten

Es gibt keinen Verkehrsträger, der von sich behaupten kann, die verkehrlichen Bedürfnisse der Menschen in allen Belangen optimal zu erfüllen. Aus umweltpolitischer Sicht kann der Verkehr der Zukunft nur durch eine sinnvolle Arbeitsteilung der verschiedenen Verkehrsmittel erreicht werden. Außerdem muß bei allen künftigen Verkehrsplanungen darauf geachtet werden, daß Verkehr eher vermieden, denn zusätzlich erzeugt wird. Für den schienengebundenen Verkehr sind

  • der Einsatz neuer Antriebstechnologien,
  • die Verwendung neuer Werkstoffe,
  • ein optimales Energiemanagement,
  • die Realisierung neuer Recyclingtechnologien sowie
  • neue Informations- und Kommunikationstechnologien

nicht nur eine umweltpolitische Herausforderung, sondern wegen seiner systembedingten Umweltfreundlichkeit auch eine ganz besondere Chance.

4. Chancen für den Verkehr der Zukunft

Der Verkehr der Zukunft muß attraktiv und leistungsfähig sein, ökonomische Parameter erfüllen und umweltpolitischen Forderungen gerecht werden.

[Seite der Druckausg.: 205 ]

Abbildung 9:
Chancen für den Verkehr der Zukunft


4.1 Lösungsansätze für den Stadtverkehr

Als sinnvolle Aufgabenteilung zwischen motorisiertem Individualverkehr und öffentlichem Nahverkehr kristallisieren sich fünf Maßnahmenbereiche heraus:

  • Ausbau des ÖPNV
    • Kapazitätserweiterung des Fahrzeugparks
    • Einsatz von Niederflurfahrzeugen
    • Einsatz von Mehrsystemfahrzeugen
    • Schaffung von Schnellverkehrstrassen
    • Erweiterung des Anteils an eigenen Trassen für Bus und Bahn
    • Mehrfachnutzung der Infrastruktur (siehe Karlsruher Modell)
    • Verstärkte Fahrplanabstimmung und Anschlusssicherung
    • Ausstattung mit Betriebsleitsystemen
    • Erhöhung des Bedienungskomforts für Fahrgäste
    • Verbesserung der Sicherheitsanforderungen der Fahrgäste
    • Einsatz moderner Ticketingsysteme
    • einheitliche, überschaubare und leicht handhabbare Tarife

      [Seite der Druckausg.: 206 ]

    • Verbesserung der Fahrgastinformation
    • Erhöhung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrssysteme

  • Kollektive und individuelle Verkehrsbeeinflussung
    • Linienbeeinflussung mittels Wechselverkehrszeichen
    • Alternativroutensteuerung in eng vermaschten Straßennetzen
    • Verkehrsabhängige Lichtsignalsteuerung

  • Parkleitsystem unter Einbeziehung von P & R-Parkplätzen
    • Parkleitsystem zur Information über freie und besetzte Parkflächen
    • P & R-Parkplätze zur Kooperation zwischen IV und ÖPNV
  • Bewirtschaftung des Straßenraumes (z. B. Road-Pricing)
    • Road-Pricing (Straßenbenutzungsgebühren)
    • Berechtigungssysteme auf der Basis von Plaketten.

Die ideale Lösung wäre ein Verbund der genannten einzeln schon wirksamen Lösungen. Zwingende Voraussetzung ist aber ein Informationsaustausch zwischen den Systemen. Diesem Problem widmet sich das integrierte Verkehrsmanagement, dessen Funktion im wesentlichen in der Bereitstellung von Informationen aus einer zentralen Verkehrsdatenbank und der Aufbereitung und Weiterleitung der Informationen für die jeweiligen Teilsysteme besteht.

4.2 Lösungsansätze für den Regionalverkehr

Im Regionalverkehr spielt die schnelle Anbindung mit kurzen Taktzeiten eine wichtige Rolle. Direkte Verbindungen und möglichst wenige Umsteigezwänge sind die Forderungen der Fahrgäste. Der Einsatz von Zwei- und Mehrsystemfahrzeugen, die sowohl in der Region als auch in der Stadt verkehren können, erfüllen diese Bedingungen. Hybrid-Fahrzeuge gewinnen an Bedeutung, um mit der vorhandenen Infrastruktur die Fahrgastnachfrage bestmöglich bedienen zu können. Mit Neigungssteuerungen werden Fahrzeuge, die auf kurvenreichen Strecken zum Einsatz kommen, verstärkt ausgerüstet.

Nicht die technische Perfektion und die hohe Lebensdauer, sondern die kostengünstigen, attraktiven und kundengerechten Verkehrssysteme stehen im Vordergrund. Das Entwicklungsmotto für die Fahrzeuge des Regionalverkehrs, die man zwischen CityBahn und InterRegio ansiedeln kann, lautet: „So innovativ wie nötig, so konventionell wie möglich".

Nicht nur die Fahrzeugbeschaffung, sondern auch der Betrieb des Regionalverkehrs muß kostengünstig möglich sein. Die Wartung der Fahrzeuge wird im Zuge des privatwirtschaftlichen Betriebes verstärkt durch Dritte übernommen.

Die S-Bahn wird auch künftig eine Triebwagenlösung bleiben, die jedoch modifiziert werden wird hinsichtlich

  • Leichtbau
  • Drehgestelle
  • Drehstromantrieb mit Netzbremse
  • Niederflurtechnik
  • Hybrid- bzw. Zweikraftfahrzeuge.

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Die Bahn des 21. Jahrhunderts muß folgende Anforderungen erfüllen:

  • leicht
  • sanft
  • leise
  • effizient
  • energiesparend
  • schnell
  • bequem.

4.3 Lösungsansätze für den Fernverkehr

Die Geschwindigkeit wird im Schienenfernverkehr noch an Bedeutung gewinnen. Aus heutiger Sicht sind folgende Entwicklungen absehbar:

  • die universelle Lokomotive, die sowohl für den Personen- als auch Güterverkehr eingesetzt werden kann, wird nicht weiter benötigt;
  • der Personenverkehr setzt zunehmend auf Triebzüge bzw. Triebköpfe;
  • Neigungssteuerungen für Fahrzeuge auf kurvenreichen Strecken gewinnen an Bedeutung;
  • nicht die technische Perfektion, sondern die kostengünstige, attraktive und unter „life-cycle"-Aspekten optimierte kundengerechte Lösung steht im Vordergrund;
  • die Wartung der Fahrzeuge steht zur privatwirtschaftlichen Disposition.

In Deutschland wird der ICE weiterhin das Schnellverkehrsmittel Nummer Eins für den Personenfernverkehr sein, Allerdings werden künftig neben den Langzügen auch Flügelzüge zum Einsatz kommen. Auf ausgewählten Strecken werden (neben dem ICE) auch schnelle lokbespannte Züge verkehren. Doppelstockwagen werden an Bedeutung gewinnen. Der Transrapid wird nicht nur auf der Strecke Berlin-Hamburg eingesetzt werden, sondern auch in anderen Ländern Einzug halten.

Der Güterverkehr wird auch künftig primär mit Lokomotiven bedient. Doch auch hier können neue Konzepte erwartet werden, wie z. B. im Kombinierten Ladungsverkehr.

[Seite der Druckausg.: 208 ]

5. Ausblick




Der Schienenverkehrsmarkt der Zukunft stellt folgende Anforderungen:

  • Integrierte Lösungen der Verkehrsaufgabe mit zugehörigen Dienstleistungen durch Hersteller bzw. Lieferanten
  • Leichtere, leisere, energiesparende, flexibel einsetzbare, mehrsystemfähige Schienenfahrzeuge
  • Umweltverträgliche, leistungsfähige, attraktive und wirtschaftliche Transportsysteme für den innerstädtischen Bereich und den Ballungsraum
  • Recyclingfähige Fahrzeuge und Wagen
  • Standardisierte Komponenten und Subsysteme (Baukastensystem)
  • Zunehmende Intelligenz auf dem Fahrzeug für Kommunikation, Fahrzeugführung, Steuerung, Diagnose- und Wartungshilfen
  • Hohe Verfügbarkeit durch fehlertolerante Fahrzeuge und Redundanzkonzepte
  • Umfassende Automatisierung der Disposition, Kommunikation und Steuerung der Verkehrssysteme unter Einbeziehung von Betriebsleitzentralen, Fahrgastbedienungs- und -kommunikationssystemen
  • Einsatz von Bauelementen, Komponenten und speziellen Werkstoffen in den Produkten zur Kostensenkung
  • Benutzerfreundliche Fahrzeuge und Systeme mit geeigneten Einrichtungen zum Schutz der Fahrgäste vor Kriminalität und Vandalismus.

Die Anforderungen des Verkehrsmarktes wurden erkannt und analysiert. Die Industrie

[Seite der Druckausg.: 209 ]

stellt sich den Herausforderungen der Zukunft. Schon heute forschen und planen wir, um die künftigen Verkehrsaufgaben erfüllen zu können.

Abbildung 11: Fazit

Mit dem Schienenverkehr in eine menschenwürdige und umweltfreundliche Zukunft.



Gemeinsam mit allen fortschrittlich denkenden Menschen treten wir für eine menschenfreundliche Zukunft ein.
Sie soll charakterisiert sein durch eine leistungsstarke Wirtschaft und eine intakte Umwelt.
Der Verkehr soll zur Bereicherung des Lebens beitragen und eine attraktive Dienstleistung zur Befriedigung der Mobilitätsbedürfnisse darstellen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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